Thurnher | Der Übergänger | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Thurnher Der Übergänger

Roman
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-552-07374-6
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-552-07374-6
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sein Beruf ist Journalist, seine Passion die Musik, sein Leitstern der Pianist Alfred Brendel. 'Der Übergänger' handelt von der übergroßen Verehrung des Erzählers für Brendel. Gerade deswegen wagt er es lange Zeit nicht, ihn um ein Interview zu ersuchen; als er es dann doch tut, wird die Bitte prompt abgeschlagen. Er schickt Brendel aber einen Text, den er über ihn geschrieben hat. Nun ist dieser zu einem Treffen bereit, es wird jedoch immer wieder verhindert. Als der Erzähler vom bevorstehenden Rückzug Alfred Brendels aus dem Konzertleben erfährt, beschließt er, es noch einmal zu versuchen. Armin Thurnher, Autor und Herausgeber der Wiener Stadtzeitung Falter, hat einen hinreißenden Roman geschrieben, eine Annäherung mit Elementen einer Autobiographie, die in zahlreichen Irrungen das Ziel immer wieder verfehlt.

Armin Thurnher, geboren 1949 in Bregenz. Mitbegründer, Miteigentümer und Chefredakteur der Wiener Stadtzeitung »Falter«. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Preis des österreichischen Buchhandels für Toleranz und Otto-Brenner Preis für seinen Einsatz für ein soziales Europa. Bei Zsolnay erschienen zuletzt »Republik ohne Würde« (2013), der Essay »Ach, Österreich! Europäische Lektionen aus der Alpenrepublik« (2016), »Fähre nach Manhattan« (2019) und »Anstandslos. Demokratie, Oligarichie, österreichische Abwege« (2023).
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1. Eine merkwürdige Matinee


Du mit deinem Brendel-Tick, sagt Vera, meine Frau.

Vera ist Malerin. Ich bin politischer Journalist mit Hang zum Feuilleton, überhaupt zu unerwiderter Liebe.

Verehrung ist ja was Schönes, sagt Vera, aber muss man sie gleich bis zur Anbetung treiben?

Nur Ungläubigen ist Verehrung möglich, sage ich.

Ich mag es, mit halben Zitaten aufzuwarten, die Halbierung erhöht den Reiz des Paradoxen. Über die zweite Hälfte des Satzes denke ich noch nach. Sie lautet: Gläubige haben nur Lachen und Kriege. Zur Verleihung des Beethovenrings zu gehen hieß die Sache auf die Spitze zu treiben. Mit einem wie mir war dort nicht zu rechnen, musste ich mir bei Betrachtung des Publikums sagen. Noch weniger durfte ich erwarten, Fritz zu treffen. Unter all den staubig-verstockten Wiener Bürgern, unter all den quallig-giftigen Kulturbe triebs nu deln, unter all den blendend aufgelegten akademischen Tunicht guten, die sich zur Ehrung versammelt hatten, ausgerechnet Fritz. Fritz, den linken Intellektuellen, Leiter einer so genannten Denkfabrik der Sozialdemokraten. Den fröhlichen Fritz. Rundes Gesicht, geselchte Seele, spitze Zunge.

Hatte ich ihm gesagt, ich würde zur Verleihung des Beethovenrings gehen? Die Hochschule für Musik und darstellende Kunst war mir nicht vertraut. Wohl kannte ich Leute, die dort unterrichteten, genau genommen stand ich selbst auf der Liste der Lektoren, las in einem Postgraduate-Lehrgang etwas über Journalismus und Literatur, ohne je zu erwähnen, dass ich das für eine contradictio in adjecto hielt. Wozu auch, bei Studenten, die weder wussten, was auf dem Wiener Kongress verhandelt wurde, noch, ob der zur Zeit Karls des Großen oder Beethovens stattgefunden hatte und ob das nicht sowieso die gleiche Zeit gewesen war: die Vergangenheit.

Beethoven. Erst zum zweiten Mal sollte heute der Beet hovenring verliehen werden, und zwar an den Pianisten Alfred Brendel. Genau genommen war es der dritte Versuch, der zweite hatte vor Jahrzehnten mit einem Skandal geendet, als Brendels Kollege Friedrich Gulda den Preis zurückwies. Kaum jemanden hier kannte ich persönlich, aber alle sahen aus, als sollte man sie kennen. Manche hatte ich in Konzerten gehört, manchen ging es mit mir wie mir mit ihnen, sie hatten dieses Gefühl, mir zunicken zu müssen, was in mir den Zurücknickreflex auslöste, sodass bald aus allen Richtungen ein ander die Häupter zunickten, als striche ein Wind durch den Saal und bewegte die Köpfe der Anwesenden. Ein wogendes Feld einander mäßig gewogener Nicker.

In dieser Ein-, Ab- und Zunickstimmung war es mir recht, Fritz zu sehen. Den anglophilen Fritz, dessen Schärfe nur Platz für einen weichen Punkt ließ, allerdings einen insel großen: England. Seiner Englandverehrung wegen rief ich Fritz »Gordon«. Selbstverständlich war Gordon als konsequenter Englandfreund ein Anhänger des Dritten Wegs, daneben gab es für ihn keinen zweiten. Als sozialdemokratischer Denker befand er sich permanent auf dem Abstellgleis dieser Partei. Das Denken überlassen sie dort den Meinungsforschern, die haben das Ohr an den Massen, was schert sie ein anglophiler Habermas-Verehrer wie Gordon, der nur Unsinn wie den herrschaftsfreien Dialog im Sinn hat. So blieb ihm genügend Zeit, am helllichten Vormittag die Verleihung des Beethovenrings an Alfred Brendel zu besuchen.

Gordon nannte den zu Ehrenden »Krusty« oder auch »Krusty, den Clown«, damit auf dessen Aussehen ebenso anspielend wie auf dessen Vorliebe für bizarren Humor. Brü-der im Angelsächsischen sozusagen, Gordon und Krusty, nur wusste Krusty nichts von Gordon. Gordon hingegen wusste über meine Verehrung für Alfred Brendel Bescheid, er hielt es offenbar für nötig, ein Salzkorn in die Wunde dieser Verehrung zu streuen, indem er den Verehrten Krusty nannte. Findest du nicht, Krusty spielt heute einen Hauch zu laut, fragte er in der Pause eines Konzerts im Musikverein, bei dem Brendel mit dem Bariton Matthias Goerne auftrat. Er wollte mich ärgern, Brendel spielte keineswegs zu laut, vielmehr spielen die meisten Liedbegleiter zu leise, und gerade bei Brendel und Goerne ergab sich durch das mitmusizierende statt wie oft nur begleitende Klavier eine gleichwertige Partnerschaft zwischen Sänger und Pianist.

Ich fand sein Krusty-Gerede respektlos, konnte aber wenig dagegen tun. Widerspruch hätte Gordons Spleen nur gesteigert, wer weiß, was ihm noch eingefallen wäre. Er kannte natürlich die Geschichte, wie Brendel sich das erste Mal im Film sah und erschrak, weil der Kerl, den er da erblickte, mit seiner Körpersprache und mit seinem Gefuchtel so gar nicht ausdrückte, was die Musik ausdrücken sollte. Brendel stellte sich dann einen Spiegel neben das Klavier, in den er zwar selten schaute, der ihn aber zur Zurückhaltung mahnte. Auf das Problem war er aufmerksam geworden, als ihm im Schwung seines Schumannspiels die Brille über das Klavier davongeflogen war.

Die Feier begann mit Ansprachen. Auch in der Hochschule wusste man um den Humor des zu Ehrenden Bescheid. Man sang unter Anleitung des berühmten Chorleiters, zufällig war er gerade Rektor, einen Kanon auf den Text »Brendel ist ein schöner Name«, zu welchem Zweck der Saal in vier Abschnitte unterteilt wurde. Die öffentliche Probe war zugleich die Aufführung, und ich war froh, mich weit hinten hingesetzt zu haben, von wo ich das Gesicht des Ringempfängers nicht sehen konnte. Frisch und vierstimmig schallte durch den fichtenhell verschalten Saal, Brendel sei ein schöner Name. Mir schien, der solcherart gepriesene Namensträger sinke ein paar Zentimeter tiefer in seinen Sitz, als Schauspielschüler mit Ausdruck und Emphase einige seiner Gedichte vortrugen.

Bei der Rede eines bekannten, pianistisch tätigen Witzbolds richtete er sich ein wenig auf. Der erzählte von den Frühzeiten in den fünfziger Jahren, von den Referenzaufnahmen, die Brendel immer vorgelegt habe, wenn ihnen in Wien gerade ein Vorbild fehlte, wie sie ihre Beethovensonaten oder Schubertimpromptus zu spielen hätten. Wie lustig es gewesen sei, Brendel in Istanbul zu treffen, wobei das Lustige allein im Exotischen des Orts lag — Brendel in Stambul, man stelle sich vor! Deutsche Tänze um die Hagia Sophia, Alla Turca neben der Blauen Moschee, vielleicht eine fromme Meditation von Liszt über Mohammeds Fußabdruck im Topkapi-Palast, groß wie der Fuß eines Yeti nennt ihn Joseph Brodsky. Brendel im Zug, Brendel im Bus quer durch Europa, Brendel über miserable Klaviere fluchend, in schlecht geheizten oder überhitzten Sälen, dauernd im Streit mit mittelmäßigen Dirigenten und verlassen von unfähigen Klaviertechnikern. Brendel, Platten aufnehmend in ungeeigneten Studios, wo die Holzscheite in den Kaminen knacken und die Böden knarren, aber das sagte er nicht mehr, der Witzbold.

Ich dachte, das Fortgehen Brendels aus Wien könnte auch eine Flucht vor dieser Art des Wiener Humors gewesen sein. Dieser Wiener Humor fand die Tücke des Objekts lustig, die sich einer jungen, ganz und gar ungewissen Karriere in den Weg stellte. Im Rückblick schien dem Wiener Bürgerhumor all die Mühsal nur mehr ein Spaß gewesen zu sein. Der Wiener Bürgerhumor schätzt die Gegenwart nicht, aber er kann über die Vergangenheit lachen, wenn auch nicht über jede. Brendels Laudator bot ein Beispiel jenes Wiener Bürgerhumors, der sich bei Geburtstagen am Singen von Kanons erfreut, im Halten humoristischer Ansprachen sein Formbedürfnis erschöpft, im geselligen Verzehr von Szegediner Gulasch seinen Beitrag zur bürgerlichen Öffentlichkeit leistet und in der Aufführung von Stegreifspielen seine Erfüllung findet. War Brendel, der gesagt hat, Wien sei eine sehr gute Stadt gewesen, um im Protest darin zu leben, vor dieser humorigen Wiener Szegedinervergulaschung ins englische Stilvermögen entwichen? Vom Krautfleisch zum Rindfleisch, vom Stahlbad des Bürgerhumors in die vis comica der Civil Society?

Dabei liebten ihn die Wiener Bürger. Man kann sich seine Liebe nicht aussuchen. In den Augen manches konservativen Politikers gewann ich geradezu menschliche Züge, sobald ihm meine Brendelverehrung bekannt wurde. Ein kohlschwarzer Kanzler gewährte mir ein Interview nur wegen eines Textes, den ich über Brendel geschrieben hatte, wie mich seine Pressechefin bei dieser Gelegenheit huldvoll wissen ließ. Die Kabinettschefin des kohlschwarzen Kanzlers hatte mich angerufen und tatsächlich gefragt, ob ich nicht ...


Thurnher, Armin
Armin Thurnher, geboren 1949 in Bregenz. Mitbegründer, Miteigentümer und Chefredakteur der Wiener Stadtzeitung »Falter«. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Preis des österreichischen Buchhandels für Toleranz und Otto-Brenner Preis für seinen Einsatz für ein soziales Europa. Bei Zsolnay erschienen zuletzt »Republik ohne Würde« (2013), der Essay »Ach, Österreich! Europäische Lektionen aus der Alpenrepublik« (2016), »Fähre nach Manhattan« (2019) und »Anstandslos. Demokratie, Oligarichie, österreichische Abwege« (2023).



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