Thuram | Das weiße Denken | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Reihe: Nautilus Flugschrift

Thuram Das weiße Denken


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96054-289-6
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Reihe: Nautilus Flugschrift

ISBN: 978-3-96054-289-6
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was bedeutet es, weiß zu sein? Der frühere französische Fußballstar Lilian Thuram engagiert sich seit langem in der antirassistischen Bildungsarbeit. Anschaulich beschreibt er, wie die europäischen Gesellschaften die Kategorien Schwarz und weiß erfunden haben, um Kolonialismus, Versklavung und Ausbeutung zu rechtfertigen. Bis heute zementiert das weiße Denken Herrschaftsverhältnisse und Ungleichheit in der ganzen Welt. In vielen Beispielen, auch aus seiner persönlichen Erfahrung, zeigt Thuram, wie diese Deutungsmuster funktionieren und wie sie allgemeingültig werden konnten.
Thuram bezieht sich immer wieder auf postkoloniale Diskurse, auf Frantz Fanon und Aimé Césaire, James Baldwin und Maya Angelou, Toni Morrison und Achille Mbembe. Sein Buch ist ein zutiefst humanistischer Appell, eingeschliffene Denkstrukturen zu hinterfragen, um so das Fundament für neue Solidaritäten zu legen. Nur dann können wir einander endlich wieder als Menschen begegnen – und die Krisen der Gegenwart gemeinsam bewältigen.

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EINLEITUNG
Ich weiß noch, wie ich vor ein paar Jahren zu einem Gespräch über ein großes Ausstellungsprojekt zum Thema Rassismus eingeladen war. Ich sollte diese Ausstellung hauptverantwortlich kuratieren und es ehrte mich, dass man mich dazu auserkoren hatte, der breiten Öffentlichkeit dieses Thema nahezubringen. Ich hatte eine genaue Vorstellung davon, wie ich an dieses Projekt herangehen wollte, und das hatte mit einer Erfahrung zu tun, die ich bei einem Treffen in einem Ministerium gemacht hatte. Dort fragte man mich, womit ich mich gerade beschäftigte und woran die Stiftung arbeitete, die ich leite. Ich antwortete, dass wir die Machtverhältnisse in der Gesellschaft analysieren. Zur Illustration wies ich auf die Zusammensetzung der Runde hin, auf das offensichtliche Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern. Der Sitzungsleiter sagte: »Ja, stimmt, es sind nur wenige Frauen dabei.« Daraufhin sagte ich: »Das ist nicht das eigentliche Problem, sondern dass zu viele Männer dabei sind.« Da merkte ich, wie sich auf einmal die Blicke aller Männer auf mich richteten, als hätte ich sie mit dieser einfachen Feststellung angegriffen. Eben darum, so erklärte ich bei dem Treffen, wolle ich als Kurator dieser Ausstellung zu einer anderen Sichtweise beitragen. Schon zu lange fokussiert man sich, wenn man über Rassismus spricht, auf die Personen, die diskriminiert werden. Ich sagte also, dass man sich eher mit den Personen beschäftigen sollte, die von diesen Diskriminierungen profitieren, vielleicht ohne es zu wissen oder zu wollen. Ich sagte: »Ich möchte eine Kategorie in Frage stellen, die nie in Frage gestellt wird: Die Kategorie weiß. Denn was bedeutet es eigentlich, ›weiß‹ zu sein? Wie wird man weiß, da man ja nicht weiß geboren wird, wird man also erst dazu gemacht? Oder haben Sie vielleicht schon mal jemanden gesehen, der weiß wie ein Blatt Papier ist? Nein. Also warum sagt man dann, dass er oder sie ›weiß‹ ist? In welchem Alter wird man weiß? Ist Weißwerden nicht eine Begleiterscheinung des Erwachsenwerdens, wird man nicht dazu erzogen, sich überlegen zu fühlen?« Während ich so redete, spürte ich, dass sich in der Runde Verunsicherung breit machte. Die sogenannten Weißen sind es nicht gewohnt, dass man sie auf ihre Race1 anspricht, noch darauf, welche Bedeutung diese haben könnte. Ich fuhr fort: »Wenn wir in unserem Kampf für Gleichheit vorankommen wollen, sollten wir den weißen Besucher*innen bewusst machen, dass sie dazu erzogen werden, ihre Race nicht als Politikum zu empfinden.« Ich spürte um mich herum Unverständnis, ja sogar Ablehnung. Als hätte sich ein »Wir« konstituiert, ein »Wir«, das sich fragte: »Was hat der eigentlich gegen uns?« Mir wurde klar, dass sie sich durch meine Bemerkungen angegriffen fühlten – ich habe noch nicht gesagt, dass ich die einzige Schwarze Person im Raum war. So wie Männer sich angegriffen fühlen, wenn man sie darauf hinweist, dass sie Frauen gegenüber einen Überlegenheitskomplex entwickelt haben. Dabei hatte ich niemandem vorgeworfen, ein übler Rassist zu sein. Aber von einer weißen Vorherrschaft zu sprechen, nein, das ging nun wirklich zu weit … Leider war das Gespräch damit beendet. Dieses Buch ist auch ein Ergebnis dieses abgebrochenen Dialogs. Warum wehrt sich die Mehrheit der Weißen dagegen, diese Identitätskonstruktion in Frage zu stellen? Ja, mehr noch: Sie scheinen sich ihrer Race noch nicht einmal bewusst zu sein. Nennt man Schwarze Menschen nicht auch »People of Colour«? Das ist der beste Beweis dafür, dass Weiße offenbar keine »Hautfarbe« haben. Aber welche Farbe haben Weiße denn dann? Wenn es eine sichtbare Minderheit gibt, sind Weiße dann die unsichtbare Mehrheit? Der Begriff »weiß« wird im allgemeinen Sprachgebrauch fast nie verwendet, um eine Bevölkerungsgruppe zu bezeichnen, so als hätte er keine reale Entsprechung. Wird er doch mal verwendet, löst er bei denen, die so bezeichnet werden, eine Art Gereiztheit aus. Vor etwa zehn Jahren bin ich auf die Sonderausgabe eines Magazins mit dem Titel »Das schwarze Denken«2 gestoßen, die mich nachhaltig beschäftigt hat: Wenn es ein »Schwarzes Denken« gibt, gibt es dann auch ein »weißes Denken«? In dieser Sonderausgabe waren Texte von und über Toni Morrison, Maryse Condé, Martin Luther King, James Baldwin, Aimé Césaire, Frantz Fanon versammelt … Aber worüber haben all diese Schwarzen Personen geschrieben? Über eine Welt, in der Schwarze Menschen erniedrigt werden, über die Notwendigkeit, sich von dieser Gewalt zu befreien, um die gleichen Rechte wie weiße Menschen zu erhalten. Im Grunde, und das wird nie ausgesprochen, reagieren King, Baldwin und all die anderen mit ihren Schriften doch nur auf ein System. Aber dieses System wird nie klar benannt. Wer hat das Narrativ begründet, das die Weißen an die Spitze der »menschlichen Hierarchie« gesetzt hat? Wer erzeugt den Eindruck, Schwarze Menschen seien weniger fähig? Wer hat entschieden, dass sie nicht die gleichen Chancen haben sollen wie weiße Frauen und Männer? Das rassifizierende weiße Denken. Das ist die einige Jahrhunderte alte Matrix, der die überwiegende Mehrheit der Weißen noch immer nicht ins Auge zu blicken wagt. Warum widmet kein Magazin diesem »weißen Denken« eine Sonderausgabe, da es doch indirekt das »Schwarze Denken« erst geprägt hat? Warum wirkt allein der Begriff »weißes Denken« auf manche anstößig? Ich meine, das hängt mit Mechanismen zusammen, die ähnlich funktionieren wie jene, die zur Vorherrschaft der Männer über die Frauen geführt haben. »Die geschlechtlichen Gegensätze, die mit dem Stempel männlich und weiblich versehen worden sind, werden insofern in eine Rangfolge gebracht, als man die Werte, die man mit einem der beiden Pole verbindet (dem männlichen), als überlegen gegenüber jenen betrachtet, die man mit dem anderen Pol verbindet. […] Die westlichen Gesellschaften haben ein Erklärungsmodell entwickelt, demzufolge die männliche physische Stärke mit einer grundlegenden Überlegenheit des Mannes einhergeht […]. Diese archaische und unveränderliche Lesart, die wir uns zu eigen gemacht haben, geht immer noch auf Kategorien zurück, die sich auf weit in der Vergangenheit liegende Fähigkeiten unserer Vorfahren beziehen, die sich allein auf das verlassen mussten, was sie mit den Sinnen erfassen konnten.«3 Ist die Geschichte des Widerstands der Männer gegen die Emanzipation der Frauen nicht letztlich sehr viel lehrreicher als die Geschichte der Emanzipation der Frauen? Und ist die Geschichte des Widerstands der weißen Eliten gegen die Emanzipation der Nicht-Weißen nicht genauso lehrreich wie die Geschichte dieser Emanzipation? Ist es nicht an der Zeit, das Bestreben in Frage zu stellen, diese ligne de couleur, diese Vorherrschaft, Generation für Generation aufrechtzuerhalten? Interessanterweise beschäftigt man sich mit Schwarzer Kunst, mit Schwarzem Denken, Schwarzer Literatur, Schwarzer Musik, man erforscht sie, stellt sie aus, analysiert sie. Warum also sollte man sich nicht mit weißem Denken, weißer Literatur, weißer Musik beschäftigen dürfen? Einige Bereiche scheinen ihrer Race entrinnen zu können, andere nicht. Aber warum ist das so? Einem Schwarzen Menschen ruft die Gesellschaft – überall auf der Welt – permanent in Erinnerung, dass er Schwarz ist, ob an seiner Arbeitsstelle oder in den Medien. Wenn er im öffentlichen Raum unterwegs ist, erinnert man ihn oft an seine Race: Ein abschätziger Blick, ein unverhohlener Ausdruck des Misstrauens, so als suchte man in seinem Gesicht intensiv nach Anzeichen für irgendeine begangene Straftat. Niemand, der nicht selbst Opfer von Diskriminierung ist, weiß, wie sich das anfühlt, weil das nicht Teil seiner Welterfahrung ist. Weiße Menschen können sich überall frei bewegen, ohne dass man sie auf negative Weise durch ein unausgesprochenes Gesetz auf ihre Race reduzieren würde. Ob ihnen wohl bewusst ist, wie entspannt, wie frei sie sich fühlen können, weil sie immer am richtigen Platz sind? Ob in Frankreich oder den USA, ich erinnere meine beiden Söhne immer daran, dass sie ihre Race nicht vergessen dürfen. Ich sage ihnen: »Denkt daran, man betrachtet euch als Schwarze, nicht als Weiße.« Ich finde das sehr traurig, aber seien wir ehrlich, manchmal ist das eine Frage von Leben und Tod. Damit ich meiner Race entkommen kann und meine Hautfarbe nichts weiter als ein körperliches Merkmal ohne weitere Bedeutung ist, müssen die Weißen ihrer Race entkommen. Aber wie geht das? Paradoxerweise müssen sie sich dafür zunächst einmal ihrer Race bewusst werden, und der Tatsache, dass diese sie dazu...


Cornelia Wend, geboren 1965 in Detmold, studierte Französisch und Germanistik in Hannover, Hamburg und Rouen. Seit 1994 arbeitet sie als freie Übersetzerin, u. a. von Élisabeth Filhol, Patrick Pécherot, Paul Colize, Chloé Mehdi und Jérôme Leroy.



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