Thoreau Tagebuch I
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95757-163-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 300 Seiten
Reihe: Henry David Thoreau
ISBN: 978-3-95757-163-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Henry David Thoreau, geboren 1817 in Concord, Mass., wuchs als Sohn eines Bleistiftfabrikanten auf und studierte von 1833 bis 1837 an der Harvard University. Seine Tätigkeit als Lehrer gab er nach kurzer Zeit auf, weil er sich mit der Schulleitung überwarf, und gründete 1838 mit seinem Bruder eine Privatschule, die nach dessen Tod 1842 geschlossen wurde. Kurz davor lernte Thoreau Ralph Waldo Emerson und die antimaterialistische romantische Bewegung der Transzendentalisten kennen. Er beschäftigte sich mit Goethe, den Zoroastern, Buddha, den indischen Veden und entwickelte seine Ideen über Natur und Gesellschaft. 28-jährig zog er sich für zwei Jahre in eine Blockhütte am Waldensee zurück und schrieb sein berühmtestes Buch. Als er 1846 verhaftet wurde, weil er vier Jahre keine Wahlsteuern gezahlt hatte, verfasste er den Essay 'Über die Pfl icht zum Ungehorsam gegen den Staat'. Ab 1849 verdingte er sich als Tagelöhner, Anstreicher, Tischler, Landvermesser und Vortragsreisender. Bereits seit 1835 litt er unter Tuberkulose, der er 1859 erlag. Sein Tagebuch erstreckt sich von 1837 bis 1861 und kann als sein wichtigstes Werk bezeichnet werden. Rainer G. Schmidt, 1950 im Saarland geboren, begann 1978 mit der Übersetzung des Gesamtwerks von Arthur Rimbaud und übersetzte seither viele Werke u. a. von Henri Michaux, Victor Segalen, Herman Melville. 1998 erhielt er den Paul-Celan Preis.
Weitere Infos & Material
1837
22. Oktober »Was tun Sie gerade?«, fragte er. »Führen Sie Tagebuch?« Also mache ich heute meinen ersten Eintrag.
Zum Alleinsein erachte ich es als nötig, der Gegenwart zu entrinnen – ich meide mich selbst. Wie könnte ich im Spiegelkabinett des römischen Kaisers¹ allein sein? Ich suche eine Dachkammer auf. Die Spinnen dürfen nicht gestört, der Boden nicht gefegt und das Gerümpel nicht in Ordnung gebracht werden.
Die Deutschen sagen: »Es ist alles wahr, wodurch du besser wirst.«²
24. Oktober Die Natur lehrt uns in jedem Teil, dass das Dahingehen eines Lebens Platz für ein anderes schafft. Die Eiche sinkt sterbend zu Boden und hinterlässt mit ihrer Borke einen reichen jungfräulichen Humus, der einem werdenden Wald kraftvolles Leben verleihen wird. Die Kiefer hingegen lässt sandigen und unfruchtbaren Boden zurück, die härteren Gehölze ein kräftiges und ergiebiges Erdreich.
So schafft dieser ständige Abrieb und Verfall den Boden für mein künftiges Wachstum. Wie ich jetzt lebe, werde ich ernten. Wenn ich Kiefern und Birken anpflanze, wird mein Humus die Eiche nicht nähren; doch werden dann Kiefern und Birken oder vielleicht Unkraut und Brombeergestrüpp meine zweite Ernte bilden.
27. Oktober Nach Nobscot und Annursnacki hin ist das Blickfeld begrenzt. Die Bäume stehen mit tief gesenkten Ästen da, wie vom Sturm gepeitschte Pilger, und die gesamte Landschaft wirkt bedrückt.
Wenn also dichte Schwaden die Seele umwölken, müht sie sich vergebens, ihrem bescheidenen Alltagstal zu entkommen und die Nebelwand zu durchdringen, die den Blick auf die blauen Gipfel am Horizont versperrt, sondern muss sich damit begnügen, ihre nahen und heimischen Hügel zu betrachten.
29. Oktober Zwei Enten, Sommer- oder Brautenten, planschten vergnügt in ihrem Lieblingsteich, traten aber bei meinem Nahen den Rückzug an und schienen sich auf Französisch empfehlen zu wollen, wobei sie in schwanenhafter Majestät davonpaddelten. Sie sind erstklassige Schwimmer und schlagen mich um Längen und – was für mich ein neuer Zug in der entischen Wesensart war – sie tauchten alle paar Augenblicke und schwammen mehrere Fuß weit unter Wasser, um unserer Aufmerksamkeit zu entgehen. Kurz vor dem Untertauchen schienen sie einander bedeutsam zuzunicken, und dann, wie durch ein gemeinsames Einverständnis, hieß es beim Schütteln eines Entenflügels Köpfchen ins Wasser und Schwänzchen in die Höh’. Wenn sie wieder auftauchten, war es amüsant zu beobachten, wie sie mit selbstzufriedener Miene, die: »Zum Kuckuck mit diesem Spanner« bedeuten mochte, sich paddelnd entfernten, um ihr Experiment zu wiederholen.
Vor etwa vier oder sechs Wochen ereignete sich etwas Merkwürdiges, das, wie ich meine, inzwischen einen Eintrag wert ist. Wir, John und ich, waren auf der Suche nach indianischen Überresten gewesen und immerhin so erfolgreich, zwei Pfeilspitzen und einen Stößel zu finden, als wir, den Kopf voll von der Vergangenheit und ihren Relikten, an einem Sonntagabend zur Mündung des Swamp Bridge Brook schlenderten. Während wir uns dem Hügelrand näherten, der die Flussböschung bildet, brach ich, von meinem Thema angespornt, in eine ausschweifende Lobesrede auf jene urtümlichen Zeiten aus, wobei ich zur Untermalung höchst ungestüm herumfuchtelte. »Dort auf dem Nawshawtuct«, sagte ich »stand ihr Wigwam, der Versammlungsort ihres Stammes, und dort drüben, auf dem Clamshell Hill, lag ihr Festplatz. Dort hielten sie sich zweifelsohne am liebsten auf. Hier, an diesem Abhang, war ein geeigneter Ausguckposten. Wie oft standen sie an ebendieser Stelle, zu ebendieser Stunde, wenn die Sonne hinter jenen Wäldern versank und mit ihren letzten Strahlen die Wasser des Musketaquid vergoldete, und sie sannen über die Erfolge des heutigen Tages und die Aussichten für morgen oder berieten sich mit dem Geist ihrer Väter, die vor ihnen ins Land der Schatten gegangen waren!
Hier«, rief ich aus, »stand Tahatawan, und dort« (um den Satz zu vollenden) »ist Tahatawans Pfeilspitze.«
Wir setzten uns unverzüglich an die Stelle, auf die ich gezeigt hatte, und, um den Scherz abzuschließen, legte ich einen gewöhnlichen Stein bloß, den ich aufs Geratewohl ausgewählt hatte, und holla! der erste, den meine Finger berührten, ein dreckiges Ding, erwies sich als die vollkommenste Pfeilspitze, die so scharf war, als käme sie just aus den Händen eines indianischen Werkzeugmachers!!!
30. Oktober Anfangs haben wir das graue Zwielicht der Dichter, und dunkle Wolkenriegel driften zum Zenit. Dann erglüht die sich einschiebende Wolke im Osten, als trüge sie ein kostbares Juwel in ihrem Schoß; ein tiefer, runder Schlund von goldenem Grau kerbt ihren oberen Rand ein, während dünne Linien von flockigem Dampf, von der gemeinsamen Mitte her erstrahlend, wie leichtbewaffnete Truppen geordnet Stellung beziehen.
3. November Wenn jemand nachdenken will, möge er sich auf einem ruhigen Fluss in einem Boot von der Strömung treiben lassen. Er kann der Muse dann nicht widerstehen. Wenn wir hingegen stromauf rudern und uns dabei mächtig ins Zeug legen, schießen uns abgehackte und stürmische Gedanken durchs Hirn. Wir sinnen über Streit, Macht und Größe. Ist der Bug aber stromabwärts gewandt, nehmen Fels, Baum, Vieh und Kuppe, während Wind und Wasser den Schauplatz verlegen, neue und abwechselnde Positionen ein und fördern das Dahingleiten des Gedankenflusses, der weit reicht und erhaben ist, immer aber ruhig und sanft gewellt.
9. November Das Bächlein ist’s, dessen »silberner Sand und Kiesel ewige Lieder mit dem Frühling singen«.³ Die frühen Fröste schlagen Brücken über sein schmales Bett, und sein Gequengel verstummt. Einzig das flackernde Sonnenlicht auf seinem Sandgrund lockt den Betrachter. Dort aber gibt es Seelen, deren Tiefen nie ausgelotet werden – auf deren Grund die Sonne nie scheint. Wir erlangen von den abschüssigen Ufern einen fernen Blick, nie aber einen Trunk aus ihren inneren Rinnen. Nur ein abgesunkener Felsblock oder eine gestürzte Eiche können ein Murmeln hervorrufen, und ihre Oberfläche hat dann nichts mit den Eisfesseln zu tun, die tausend Nebenbäche in Bande legen.
16. November PONKAWTASSETT – Dort fließt der Fluss oder eher »schleppt sich wie die Schlange irrend dahin«4; und er ist die Halsschlagader des Musketaquid. Wer weiß, wie viel die sprichwörtliche Sanftheit seiner Anrainer seinem trägen Fließen entnommen hat?
Der Schnee gibt der Landschaft einen Anstrich von Waschtag – abwechselnd Streifen von Weiß und Dunkel; der Schnee ist wie ein Handtuch über die Hügel und Wiesen gebreitet. Das muss einer der seltenen Trockentage sein, nach dem Dampf zu urteilen, der über dem gewaltigen Wäschehof schwebt.
Einhundert Gewehre werden abgefeuert, und eine Fahne flattert im Dorf, um den Sieg der Whigs zu feiern. Jetzt ein kurzer, dumpfer Knall – bloß ein kleine Scheibe Schall, von ihrem Strahl geschnitten –, dann steigt ein Rauchwölkchen in den Himmel, um sich dort seinen Dunstverwandten anzuschließen.
17. November Jetzt lugt der König des Tags naseweis um die Ecke der Welt, und jedes Hüttenfenster lächelt ein goldenes Lächeln – ein reines Bild der Freude. Ich sehe das Wasser im Auge glitzern. Der gedämpfte Atem des erwachenden Tags dringt in Wellen ans Ohr, kommt über Hügel und Tal, Weide und Waldland zu mir, und ich bin heimisch in der Welt.
Wenn es nichts Neues auf der Welt gibt, dann doch immerhin im Himmel. Er ist unerschöpflich und schlägt dauernd eine neue Seite auf. Der Wind setzt die Lettern auf diesen blauen Grund, und der Suchende kann stets eine neue Wahrheit lesen.
18. November Die Natur macht keinen Lärm. Der heulende Sturm, das raschelnde Blatt, der prasselnde Regen stören nicht; ihnen wohnt eine wesentliche und unerforschte Harmonie inne. Warum strömt denn das Denken so tief und so funkelnd dahin, wenn der Klang ferner Musik auf unser Ohr trifft? Ich würde mich nicht über Klaviergeklimper beklagen – selbst nicht beim Battle of Prague5 –, wenn es nur harmonisch ist; doch abgehacktes, dissonantes Gehämmer ist unerträglich.
Wenn ein Schatten über die Landschaft der Seele huscht, wo ist da die Substanz? Entspringt sie immer der Sünde? Und ist diese Sünde in mir?
21. November Um zu erfahren, in welcher Welt der Mensch wohnt, muss man unbedingt einen Hügel erklimmen. Mitten im Indian Summer setze ich mich auf den höchsten Felsen des Nawshawtuct, während ein samtiger Wind aus Südwesten weht. Ich meine zu spüren, wie die Atome auf meine Wange treffen. Hügel, Berge, Kirchtürme heben sich ganz plastisch vor dem Horizont ab, während ich mich auf dem gerundeten Buckel eines gewaltigen Schilds ausruhe und der Fluss wie eine Silberader dessen Saum umschließt; und von diesem steigt der Schild allmählich bis zu seinem Rand, dem Horizont. Keine Wolken zu sehen, wohl aber Dörfer, Landhäuser, Wälder, Berge, eines über dem anderen, bis der Himmel sie schluckt. Die Luft ist so beschaffen, dass das Land, wenn ich es weit und breit überblicke, meinem Auge...




