E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Thomson Der Blaubeergarten
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8437-1809-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1809-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Glenna Thompson hat fünfundzwanzig Jahre als Pressereferentin gearbeitet, bevor sie begann, in einem großen Wirtschaftskonzern zu arbeiten. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann auf einer Rinderfarm mit großem Blaubeergarten in Victoria, Australien.
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1
Als ich die Wohnung verließ, brach gerade die Dämmerung an, jene perfekte Tageszeit, in der das Licht fast violett wirkt. Ich liebte diese Stimmung, obwohl ich zu dem Zeitpunkt oft nicht herauskam. Neben dem Fächerahorn hatte jemand eine Pizzaschachtel auf den Boden geworfen, und jetzt sammelten sich rote Blätter darin. Ich blickte hinauf zu meinem Fenster: Zwar war der Vorhang nicht zugezogen, aber die Lampen brannten schon. Doch ich durfte beruhigt gehen, also wandte ich mich ab.
Ein Stück weiter stand an der Bordsteinkante ein fit wirkender Mann Mitte fünfzig in dunklem Anzug und gab mir ein Zeichen. Er sah zu, wie ich näher kam, und öffnete die Tür eines Wagens, als ich ihn erreicht hatte. Michael wartete auf dem Rücksitz auf mich und sah aus wie immer: ernst und leicht besorgt. Aus dem Radio hörte man einen Kommentator über eine Menge von Footballzuschauern hinwegbrüllen.
Kaum war ich eingestiegen, schloss sich die Tür.
Wir küssten uns, aber nur kurz, und als ich mich anschnallte, kam er mir so fremd vor wie jemand, der zufällig im selben Auto saß.
»Für welche Mannschaft bist du?«
»Für keine.«
»Im Ernst? Ein Mädchen aus Melbourne, das sich nicht für Football begeistert?«
»Ganz genau.«
Der Fahrer ließ den Wagen an.
»Das ist Neil.«
Neil blickte mich über den Rückspiegel an. Wir nickten uns zu.
»Fährst du nicht selbst?«, fragte ich.
»Momentan nicht.«
Der Footballlärm irritierte mich. Und Michael war dadurch abgelenkt und hörte beim Reden nur mit halbem Ohr zu.
»Wieso nicht?«
Er schüttelte den Kopf, als würde er etwas abwehren. »Zu schnell gefahren. Ist in ein paar Monaten erledigt.«
Er griff nach meiner Hand und strich mir hin und wieder mit dem Daumen über meinen Handrücken, als wollte er mir zu verstehen geben, dass er mich nicht vergessen hatte.
Neil fuhr uns die Birdwood Avenue hinunter, direkt neben der Laufstrecke entlang. Selbst jetzt, am Samstagabend, waren noch Jogger unterwegs. Die Sonne sank schnell und überzog den Himmel mit Streifen in Rosa, Silber und Grau.
Auf der St. Kilda Road überquerten wir die Brücke und mussten hinter einer Straßenbahn anhalten. Fahrgäste stiegen aus und ein. Michaels Profil wurde vom Licht aus dem Seitenfenster angestrahlt. Er lauschte konzentriert dem Spiel und kniff leicht die Augen zusammen. Sein grauer Anzug war aus edlem Wollstoff, wahrscheinlich Kaschmir, und dazu trug er ein schwarzes Hemd mit offenem Kragen. Michael achtete mehr auf sein Erscheinungsbild als die anderen Manager, mit denen ich zusammenarbeitete. Er war der neue Geschäftsführer von , dem riesigen Nahrungsmittelkonzern, der weltweit Tiefkühlkost und Konserven, Frühstückscerealien und Brot, Soßen, Gewürze und Babynahrung vertrieb. Der Auftrag war nicht besonders aufregend, aber Michael konnte irgendwie Leute für sich einnehmen. Vielleicht war sein Reiz eher der Macht seiner Stellung geschuldet. Er warf ständig mit großen neuen Ideen um sich. Seine Angestellten schwärmten für ihn, und die Nahrungsmittelindustrie konnte gar nicht genug von ihm kriegen. Er war für Monate im Voraus mit Vorträgen und öffentlichen Auftritten ausgebucht.
Seine Popularität machte mich neugierig und gleichzeitig misstrauisch. Ich konnte ihn nicht einordnen. Wenn überhaupt, dann fand ich ihn manchmal anmaßend und arrogant. Seine Einladung zum Abendessen hatte ich einfach nur deswegen angenommen, weil ich seiner Hartnäckigkeit schwer widerstehen konnte. Außerdem war meine beste Freundin Jane darüber so begeistert gewesen, dass sie darauf bestand.
Jetzt drehte sich Michael zu mir und lächelte. Ich betrachtete seine blasse Haut und die makellosen Zähne. Unattraktiv war er nicht.
Als wir in die Little Collins Street einbogen, ahnte ich, dass wir ins . gehen würden. Zwei Wochen zuvor hatte ich dort erst mit einem Bankkunden den Start seines neuen Private-Equity-Geschäftszweigs gefeiert. Neil öffnete mir die Tür und sah zu, wie ich, etwas eingeschränkt durch meinen engen Rock, ausstieg.
Im Restaurant eilte der Geschäftsführer mit ausgestreckten Händen auf uns zu und bat uns, ihm zu folgen. Wir bekamen einen Tisch in der Nähe der vorderen offenen Küche, wo ein Dutzend männlicher Jungköche in weißer Kluft mit gesenkten Köpfen herumfuhrwerkte. Nachdem man uns Wasser eingeschenkt hatte, ließ man uns allein, und es entstand dieses unbehagliche Schweigen, während man sich umschaut und nach einem Gesprächsthema sucht. Ich hatte schon lange kein Date mehr gehabt: über zwölf Jahre, wenn man die aus meiner langjährigen Beziehung nicht mitzählte.
»Wir nehmen das Menü«, entschied Michael.
Ich ließ mich auf meinem Stuhl zurücksinken.
Aus der Innentasche seines Jacketts hörte ich ein kurzes Pling. Er holte sein Handy heraus, las die Nachricht und grinste. Ich lächelte ebenfalls, als wüsste ich schon, worum es ging, und interessierte mich dafür.
»Die Dockers führen mit neunzehn Punkten.«
Der erste Gang bestand aus Tasmanischer Forelle und Räucheraal mit Rucola, alles serviert auf einer heißen Steinplatte. Der Sommelier schenkte uns ein kleines Glas Riesling ein.
Michael aß schweigend, dann tupfte er sich mit seiner Serviette den Mund ab und erklärte, dass er erst im letzten Monat in Tasmanien und im Museum of Old and New Art in Hobart gewesen war.
»Warst du schon mal da?«
»In Hobart ja, im MONA noch nicht.«
Er lehnte sich zurück, schwenkte sein Weinglas und nippte ab und zu daran, während er mir den künstlichen Magen in seiner Firma beschrieb, der täglich gefüttert wurde. Ich neigte mich zu ihm und nahm alles in mich auf: seine Eindrücke und das Gefühl, dass er dort nicht allein gewesen war. Zwar störte mich das, aber ich fragte nicht nach. Ich wusste, dass er verheiratet gewesen war und einen Sohn namens William hatte.
Der nächste Gang folgte prompt: Schweinemedaillons mit Thymiannudeln. Michael hielt seine Gabel mit dem feuchten gelben Nudelwurm in die Höhe und drehte sie begutachtend hin und her. »Weißt du, dass unsere Entwicklungsabteilung kürzlich eine gesunde Nudel erfunden hat? Luftgetrocknet, fettreduziert. Angenehmer Biskuitgeschmack.«
Ich wollte schon nachfragen, da signalisierte sein Handy den Eingang einer weiteren Nachricht. Er holte es hervor, las sie und ballte triumphierend die Faust.
»Was für ein Abend! Die Dockers haben gewonnen, und ich bin hier mit dir.«
Darauf stießen wir an und kosteten unseren Wein.
Schon wurde uns ein Soufflé aus Forelle und Mandarinen serviert, in einem Schälchen, das nicht größer war als ein Eierbecher. Ich erzählte ihm, dass mein Vater ein passionierter Fliegenfischer gewesen war und ich mit acht schon alle Knoten gekonnt hatte, und das besser als mein Bruder.
»… mein Lieblingsknoten war der Albright, der schwerste von allen.«
Er hörte mir mit hochgezogenen Augenbrauen zu, als wartete er auf die Pointe – und als er merkte, dass keine kam, schwieg er, und ich spürte, wie er ein bisschen auf Distanz ging. Ich nahm mein Glas und sah mich im Restaurant um. Es war voll, und an jedem Tisch gab es leise Gespräche. Michael lehnte sich vor und fing an, über ein Onlineportal zu reden, auf dem Angestellte und Außenstehende Verpackungsideen vorschlagen konnten. Gerade hatte jemand einen wiederverschließbaren Beutel vorgestellt und dafür tausend Dollar bekommen.
»Ist doch eine gute Idee, findest du nicht?«, fragte er.
Ohne ihm wirklich zuzuhören, beobachtete ich ihn beim Sprechen: die Bewegung seines Mundes, die Linie vom Hals zu den Schultern. Dabei versuchte ich, mich zu entscheiden, ob ich ihn mochte. Vielleicht konnte ich mich an ihn gewöhnen? Aber Liebe hatte nichts mit Gewöhnung zu tun. Oder doch? Ich wusste es nicht. Er starrte mich an.
»Weißt du, dass ich dich sehr mag?«, sagte er.
»Das freut mich.«
»Du wirkst so schüchtern. Das hatte ich nicht erwartet.«
Und da lächelte ich wie ein albernes Mädchen vor seinem Schwarm.
Als er mir über den Tisch die Hand hinstreckte, ergriff ich sie. Sie war trocken und weich.
Das Dessert kam. Das Lavendeleis brachte ihn auf das Thema »Softeisautomaten«, eine Innovation bei . Ich hatte das Gefühl, einen Aussetzer zu haben, wie bei einem Meeting, das schon zu lange dauerte. Automatisch griff ich immer wieder nach dem Wein – nicht nach dem Wasser – und war erleichtert, als er endlich Kaffee bestellte.
Draußen auf der Straße atmete ich tief die kühle Luft ein.
Neil wartete am Bordstein. Die hintere Wagentür war bereits geöffnet.
Schweigend fuhren wir zu meiner Wohnung zurück. Auf den Straßen tummelten sich Menschen. Der Federation Square lag in dunkelrotem Licht. Am Bahnhof standen die Taxis Schlange. Autos und Straßenbahnen verstopften die St. Kilda Road. Michaels Hand lag auf meinem Oberschenkel.
Die alten Eichen in meiner Straße ließen rote, goldene und braune...