Thompson | Blind vor Wut | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Thompson Blind vor Wut

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-08604-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

ISBN: 978-3-641-08604-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ich liebe euren Hass!

Seine Mutter ist eine weiße Prostituierte. Er ist Mulatte – weder schwarz noch weiß. Der achtzehnjährige Allen fühlt sich als Fremder in einer feindlichen Welt. Er weiß nicht, wo er hingehört, er weiß nur eins: Um seine Würde zu behalten, muss er bis zum Letzten kämpfen. Gegen seine Mutter, die ihn missbraucht, gegen seine Mitschüler, die ihn verachten. Nur die intelligente Josie steht auf Allens Seite. Doch Allen beschließt, alle zu Fall zu bringen: vor allem die, die ihn lieben ...

Jim Thompson wurde 1906 in Anadarko, Oklahoma, als James Myers Thompson geboren. Er begann früh zu trinken und schlug sich als Glücksspieler, Sprengstoffexperte, Ölarbeiter und Alkoholschmuggler durch. Obwohl er mit bereits 15 Jahren seine erste Kriminalgeschichte verkauft hatte, konnte er erst seit Beginn der fünfziger Jahre vom Schreiben leben. Für Hollywood verfasste er zahlreiche Drehbücher, u.a. für so namhafte Regisseure wie Stanley Kubrick. Thompson gilt als zentraler Vertreter des Noir-Genres. Er starb 1977 in Los Angeles, seine Asche wurde im Pazifischen Ozean verstreut.
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2.

Nehmen Sie ein beliebiges größeres Ziegelsteingebäude. Irgendein altes, schlecht entworfenes dreistöckiges Haus. Stellen Sie es auf spärliches Grasland von ungefähr der Fläche eines Häuserblocks. Beschmieren Sie die von Gießfehlern schimmernden Fensterscheiben. Ölen Sie die ungewischten und nur halb gefegten Fußböden ein. Stopfen Sie doppelt so viele Schüler hinein wie vorgesehen. Das Ergebnis: eine Schule in New York City. Praktisch jede Schule in New York City.

Diese eine Schule.

Ein Tresen quer durch das Vorzimmer des Schuldirektors trennte den Empfangs- vom Arbeitsbereich. Eine junge Frau von etwa achtzehn Jahren – hellbraune Haut, glatte, schwarzbraune Haare – schrieb an dem Tisch auf der anderen Seite des Tresens auf der Schreibmaschine. Ich blieb ein paar Schritte zurück, als meine Mutter auf die Barriere zuging und ihren Namen und den Grund ihres Kommens nannte.

Die junge Frau lächelte sie an – und was für ein hübsches Lächeln.

»Eine Neuanmeldung? Ach, dafür brauchen Sie nicht zum Direktor. Das kann ich …«

»Wie heißen Sie?«, wollte meine Mutter wissen.

»Warum, ähm – Josie – Josephine, Ma’am. Josephine Blair.«

»Und glauben Sie nicht, Miss Josie Josephine Blair, dass ich besser weiß als Sie, was für meinen Sohn nötig ist?«

»N-nun, also, ja, Ma’am. Aber …«

»Danke«, sagte meine Mutter. »Vielen, vielen Dank!« Und damit schritt sie durch die Schwingtür im Tresen und trat ins Büro des Direktors, bevor Josie Blair auch nur einmal mit ihren großen, schönen Augen blinzeln konnte. Ich wollte Mutter folgen, doch plötzlich war die junge Frau hellwach.

»Ja, bitte?«, fragte sie und baute sich vor mir auf. »Kann ich was für dich tun?«

»Ich bin der neue Schüler«, antwortete ich. »Allen Smith.« Dann setzte ich noch anständigerweise hinzu, damit sie verstand: »Der Sohn von Mrs. Mary Smith. Der Lady, die gerade so viel Staub aufgewirbelt hat, als sie da reingegangen ist.«

»Schluss jetzt!« Josie stampfte mit dem Fuß auf. »Was genau hast du … du …«

Ihr versagte die Stimme. Trotz meiner schwarzen Haut, meines wolligen Schopfs erkannte sie die Ähnlichkeit zu meiner Mutter.

»Es tut mir so leid«, sagte sie. »Ich hab nicht, ähm, gewusst …«

»Vergiss es«, erwiderte ich. »Ich such nur nach dem Scheißhaus.«

Ich fragte sie, ob ich mir ein Stück Kreide ausleihen könnte, weil ich doch so gern schmutzige Bildchen an Klowände malen würde. Josie starrte mich immer noch an und versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen, als Mutter rief: »Allen!« Also ging ich ins Büro des Direktors.

Sein Name, also der des Direktors, lautete Velie. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig, etwa so alt wie Mutter, und so, wie er gebaut war, hätte er auch als Spielertrainer im Football durchgehen können. Ich konnte sehen, dass Mutter ihn schon in der Gesäßtasche hatte, bildlich gesprochen. Was, um die Wahrheit zu sagen, der Stelle ziemlich nahe kam, an der er jetzt wohl ganz gern gewesen wäre.

Mutter hatte das Zeug dazu, verstehen Sie, was ich meine? Sie war bis obenhin voll davon. Der arme alte Papa hatte sich in Korea den Arsch wegschießen lassen, aber vorher hatte er sich noch einen hübschen Hintern geangelt.

Natürlich gibt es noch andere Frauen, die genauso viel vorzuweisen hatten wie Mutter, mit ähnlich schönen Gesichtern und Körpermaßen. Allerdings hatte ich noch keine gesehen, die so gut darin war, das alles auch angemessen zu verpacken. Ein Blick auf das Kostüm von Saks Fifth Avenue – heruntergesetzt auf $ 399,99. Ein Blick auf diesen Hauch von einem Hattie-Carnegie-Hut – etwas ganz Besonderes, $ 140. Ein Blick auf die handbestickte Bluse von I. Magnin – nur $ 112,50. Ein Blick auf …

Direktor Velie riskierte einen Blick. Denselben, den er offenbar riskiert hatte, als er sie das erste Mal zu Gesicht bekam. Er besah sich all die netten Dinge und die hübsche Verpackung drumherum und entschied, dass es sich um Güter handelte, die seine kühnsten Vorstellungen übertrafen. Er entschied auch, dass sie vielleicht zu haben sei. Was ganz verständlich war.

Eine Frau, die es mit einem Schwarzen treibt, hat es offenkundig ziemlich nötig.

Eine Frau, die es mit einem Schwarzen treibt, wird einen Weißen erst recht ranlassen.

»Also gut!«, sagte Velie, der es endlich schaffte, seine Augen von ihr zu nehmen und mich anzulächeln. »Ich bin sehr froh, dass du dich unserer Schule anschließt, Allen.«

»Danke, Sir«, erwiderte ich.

»Deine Mutter hat mir eine Abschrift deiner Noten von der Militärakademie gezeigt. Sehr gut, Allen. Sehr, sehr gut.«

»Danke …«

»Mr. Velie«, unterbrach ihn Mutter. »Habe ich eigentlich meine Privatnummer auf die Karte geschrieben, die ich Ihnen gegeben habe? Ach da, ich sehe schon. Nun, Sie können mich jederzeit nach sechs Uhr abends anrufen. Und während der Geschäftszeiten erreichen Sie mich natürlich im Büro. Sollte ich beschäftigt sein, hinterlassen Sie einfach Ihre Nummer, und ich rufe umgehend zurück.«

Velie nickte und lächelte. »Danke, Mrs. Smith. Ich werde …« Er unterbrach sich und fuhr sich zögernd mit der Zunge über die Lippen. »Sie anrufen?«, fragte er.

»Ja. Wegen Allen. Nur für den Fall, dass sie ein Problem mit ihm haben.«

»Problem? Ich verstehe nicht ganz, ähm …«

»Allen stiehlt manchmal«, erklärte Mutter. »Er lügt außerdem; er ist ein überaus einfallsreicher und überzeugender Lügner. Und wenn er wütend ist, kann er sehr ausfallend werden. Nicht nur das, sondern …«

Sie führte den Teil mit dem »Nicht nur das« nicht weiter aus. Das konnte sie nicht. Es hatte nie einen Beweis dafür gegeben. Nur Indizien, und die hatten nicht gereicht, damit die Polizei hätte einschreiten können.

Velie hatte sich umgedreht und sah zum Fenster hinaus. Wahrscheinlich schaute er gerade zu, wie der Hintern seiner Träume vor seinen Augen davonflatterte.

»Mrs. Smith«, murmelte er. »Wir sind hier wirklich nicht darauf eingerichtet, uns mit Problemfällen auseinanderzusetzen.«

»Allen ist in der letzten Klasse, Mr. Velie. Und da er in nicht mal einem Jahr seinen Abschluss machen wird – in etwa sieben Monaten, um genau zu sein …«

»Ich weiß. Aber ich finde nicht …«

»Ich bin mir sicher, Sie haben auch noch andere Schüler, die stehlen, Mr. Velie. Andere, die lügen und ab und zu unflätige Wörter in den Mund nehmen. Ich glaube, dass Eltern am besten mit der Schule kooperieren, wenn sie ihrem Kind vollkommen objektiv gegenüberstehen, deshalb habe ich Ihnen ja alles gesagt. Ich kann nicht glauben, dass sie mich oder meinen Sohn dafür bestrafen wollen, dass ich Ihnen die Wahrheit über ihn gesagt habe, statt sie Ihnen zu verheimlichen.«

Das konnte Velie selbst nicht glauben. Man durfte doch sicherlich die Ehrlichkeit nicht bestrafen und die Verschlagenheit auch noch belohnen. Wo kämen wir da denn hin, nicht wahr?

Und dann war da noch dieser saftige Hintern, der sich mitten im Flug umdrehte und wieder zum Fenster zurückgeflattert kam.

»Nun, da ist viel Wahres an dem, was Sie sagen, Mrs. Smith«, meinte Velie wissend, womit er zum Ausdruck brachte, dass da ziemlich viel in der handbestickten Bluse von I. Magnin steckte. »Ich bin allerdings noch nicht ganz sicher, ob es nicht doch besser wäre, wenn Allen auf eine Privatschule ginge, aber …«

»Einige sehr gute Psychiater sehen das anders«, widersprach Mutter. »Allen wird sein eigenes Leben führen müssen, das Leben eines Schwarzen in einer weißen Gesellschaft, in einer Umgebung ohne Schutz. In der Gesellschaft an sich, meine ich, nicht in einem geschützten Teil davon. Die Psychiater sind der Ansicht, dass seine Anpassung am besten gelingen wird, je früher er mit dieser Gesellschaft ins Reine kommt.«

Velie nickte, wirkte aber leicht bedrückt. Es ist grausam, einem Mann gegenüber von Psychiatrie zu sprechen, der gerade von einem Hintern träumt.

»Aber Mr. Velie!« Mutter warf ihm einen aufreizenden Blick zu. »Sie sind doch sicher nicht einer von denen, oder?«

»Ähm – von welchen, Mrs. Smith?«

»Sie wissen schon. Einer von denen, die schon bei der Erwähnung des Wortes Psychiatrie blass werden!« Sie lachte heiter. »Das kann ich nicht glauben. Sie doch nicht. Nicht der Direktor einer großen Highschool!«

Tja …

Velie erklärte, das sei ganz und gar nicht der Fall. Weit gefehlt, usw. Tatsächlich glaube er sehr fest an die Psychiatrie, usw. Er nahm einen Stundenplan aus seiner Schreibtischschublade, schrieb meinen Namen und weitere Hintergrundinformationen darauf, dazu Mutters Name, Beruf und so fort. Dann vertiefte er sich in ein Themen- und Klassenbuch und listete Zeit und Art meiner Fächer auf.

»Also«, sagte er und sah auf seine Uhr. »Die erste Stunde ist in etwa fünf Minuten zu Ende. Wenn du jetzt sofort anfangen...


Thompson, Jim
Jim Thompson wurde 1906 in Anadarko, Oklahoma, als James Myers Thompson geboren. Er begann früh zu trinken und schlug sich als Glücksspieler, Sprengstoffexperte, Ölarbeiter und Alkoholschmuggler durch. Obwohl er mit bereits 15 Jahren seine erste Kriminalgeschichte verkauft hatte, konnte er erst seit Beginn der fünfziger Jahre vom Schreiben leben. Für Hollywood verfasste er zahlreiche Drehbücher, u.a. für so namhafte Regisseure wie Stanley Kubrick. Thompson gilt als zentraler Vertreter des Noir-Genres. Er starb 1977 in Los Angeles, seine Asche wurde im Pazifischen Ozean verstreut.

Torberg, Peter
Peter Torberg studierte in Münster, Milwaukee, Wisconsin, und München. Er übersetzt hauptberuflich aus dem Englischen, u. a. Werke von Paul Auster, Ray Bradbury, John Le Carré, William Golding, John Irving, Mark Twain und Oscar Wilde. Peter Torberg lebt in Bayern.



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