E-Book, Deutsch, 576 Seiten
Thomas Violet
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-24677-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 576 Seiten
ISBN: 978-3-641-24677-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Scott Thomas hat an der University of Kansas Englisch und Film studiert. Er ist Co-Creator und Produzent von Disney Channel's 'Best Friends Whenever' und Disney XD's 'Randy Cunningham: 9th Grade Ninja' und hat Fernsehfilme und Teleplays für verschiedene Netzwerke wie MTV und VH1 geschrieben. Mit 'Kill Creek' veröffentlichte er seinen ersten Roman. Scott Thomas lebt mit seiner Familie in Sherman Oaks, Kalifornien.
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1
Der graue Streifen der Straße durchschnitt die Schwärze der Nacht. Jenseits der Scheinwerferkegel erhellte nur das spärliche Mondlicht die Landschaft. Sie stellte sich vor, wie die Straße ohne Vorwarnung endete und sie mit dem Auto in eine endlose Leere stürzte, immer tiefer, bis ihre Schreie in der Dunkelheit verhallten.
Eine dumme, kindische Vorstellung, aber das Leben, das sie so krampfhaft zusammenzuhalten versucht hatte, lag nun endgültig in Scherben. Und so fuhr sie weiter, den Blick immer auf den Punkt gerichtet, an dem die Scheinwerferkegel endeten und die Welt nur noch aus Schatten bestand.
Kris Barlow betrachtete sich im Rückspiegel und hatte das Gefühl, von einer Fremden angestarrt zu werden. Das sanfte Licht der Armaturenbeleuchtung ließ ihre leichten Krähenfüße tiefer erscheinen, und ihr eigentlich makelloser weißer Teint war unter den vielen Sommersprossen kaum zu erkennen. Hätte ihre Mutter sie in ihrer Kindheit doch bloß so nachdrücklich dazu angehalten, ihre Haut mit Sonnencreme zu schützen, wie sie es bei ihrer eigenen Tochter tat. Aber das waren andere Zeiten gewesen, heute gängige Begriffe wie »Lichtschutzfaktor« oder »Sonnentyp« hatten damals noch gar nicht existiert. Sie erinnerte sich an die seltsame Genugtuung, die sie beim Abpulen von möglichst großen Fetzen durchsichtiger, toter Haut empfunden hatte. Einmal war es ihr gelungen, ein Stück so groß wie ihre Handfläche unversehrt abzulösen. Sie hatte es vorsichtig an ihre rechte Wange gehalten, sich damit im Badezimmerspiegel betrachtet und sich wie eine Eidechse gefühlt, unter deren abgestoßener alter Haut die neue zum Vorschein kam.
Kris starrte ihr Gesicht im Rückspiegel an. Wann war sie zu dieser Person geworden? Wenn sie nach der Lebensspanne ihres Vaters ging, der mit zweiundachtzig Jahren gestorben war, hatte sie ihre Lebenshälfte erreicht. Wenn sie nach ihrer Mutter ging, war sie demnächst fällig.
Auf dem Rücksitz bewegte sich etwas.
Kris drehte den Rückspiegel so, dass sie Sadies blasse, gegen das Seitenfenster gelehnte Gestalt sehen konnte. Der Sicherheitsgurt hielt sie aufrecht, ihr Kopf hing schlaff herab, und das Kinn war auf ihre Brust gesunken. Rote Locken fielen über ihre geschlossenen Augen. Auf dem Sitz neben ihr lagen ein Laptop und ein iPad, beides hatte sie seit der Abreise nicht angerührt.
Kris sah ihren Vater vor sich, wie er am Steuer saß, die Hände sorgfältig in der vorschriftsmäßigen Viertel-vor-drei-Stellung am Lenkrad, während ihre Mutter im schwachen Licht einer Taschenlampe las.
Damals waren sie immer erst aufgebrochen, wenn ihr Vater von der Arbeit kam. Die Fahrt dauerte keine zwei Stunden, es machte also nichts, erst gegen sieben oder acht Uhr abends von ihrem Zuhause in Blantonville loszufahren. Wenn sie hörte, wie ihr Vater die Wohnungstür aufschloss, sprang die kleine Krissy von ihrem Sitzsack vor dem Fernseher im Wohnzimmer auf und rannte los, um ihn zu umarmen. Ihr Vater stand dann noch im Anzug vor ihr, die Hosen mit perfekt gebügelten Bundfalten, dazu ein glatter, brauner Ledergürtel, ein gestärktes Hemd und eine breite, gestreifte Krawatte. Als Kind hatte Kris nie so ganz verstanden, womit ihr Vater ihren Lebensunterhalt verdiente.
»Ich verkaufe Versicherungen«, hatte er ihr mehr als einmal erklärt. »Das ist ungefähr so, als wenn man jemandem verspricht, dass man für ihn da ist, wenn etwas schiefgeht.«
Heute kannte sie die Wahrheit: Versicherungen bedeuteten stundenlange Telefonate und stapelweise Papierkram. Sie bedeuteten, dass man sich mit einem Unternehmen auseinandersetzen musste, das immerwährend auf der Suche nach jedem noch so kleinen Schlupfloch war, um nicht zahlen zu müssen, was es einem einmal versprochen hatte. Es bedeutete monate-, manchmal jahrelanges Warten, bevor man sein Geld sah – falls man überhaupt jemals etwas bekam.
Kris kannte Menschen, die für einen da waren, wenn mal etwas schiefging. Menschen, die für Versicherungen arbeiteten, gehörten nicht dazu.
Nicht, dass sie diese Hilfe in Anspruch hatte nehmen wollen. Sie hatte nicht gewollt, dass ihre Nachbarn mit noch warmen Auflaufformen in den Händen bei ihr klingelten – gerade so, als ob Kartoffelgratin einen geliebten Menschen wieder auferstehen lassen könnte. Sie hatte auch nicht gewollt, dass die Eltern von Sadies Mitschülern kamen, Menschen, die sich heimlich an der Zerstörung des Glücks anderer erfreuten, weil ihnen ihr eigenes mickriges Leben dann weniger elend vorkam. Und auch nicht, dass ihre Verwandten kamen. Jene Verwandten, die ihren Mann auf ein Podest gestellt und ihr eingeredet hatten, dass sie nicht gut genug für ihn sei.
Keiner von ihnen war dabei gewesen, als die Polizei sie mitten in der Nacht angerufen hatte. Keiner hatte die kalte Panik erlebt, die sich breitmacht, wenn einem klar wird, dass das eigene Leben gerade durch einen einzigen Anruf auf dem Handy in tausend Scherben zerbrochen ist.
Sie hatte all das erleben müssen. Sie war von der unheimlichen Sterilität im Lake County Coroner’s Office in Black Ridge in Colorado empfangen worden. Der Empfangsbereich sah aus wie die Rezeption eines Motels. Eine Plastikpflanze, deren verknitterte Blätter mit Staub bedeckt waren, stand in der Ecke neben einem Holzstuhl, der fehl am Platz wirkte und aus dessen Sitzkissen an den Ecken bereits die weiße Füllung hervorquoll. Auf dem Beistelltisch lag eine Sammlung x-beliebiger Mode- und Outdoormagazine – als ob irgendwer, der hierherkam, um einen Toten zu identifizieren, Lust hatte, eine sechs Monate alte Ausgabe von durchzublättern. Die Wände waren im Laufe der Zeit vergilbt, als hätten der medizinische Gestank der Einbalsamierungschemikalien und die Angst, die die Besucher dieser Räumlichkeiten verströmten, ihre Spuren darauf hinterlassen.
dachte sie.
Niemand hatte sie in Empfang genommen. Nicht der Beamte, der sie um drei Uhr morgens angerufen hatte, als Jonah eigentlich schnarchend neben ihr hätte liegen sollen. Auch nicht der Mitarbeiter, der die Tür zum Leichenschauhaus für sie unverschlossen gelassen hatte. Das einzige Geräusch war das leise Rasseln der Klimaanlage. Aus einem angrenzenden Raum drang der aufdringliche Geruch von Chemikalien und rohem Fleisch.
Kris blinzelte und sah wieder den Highway vor sich.
Sie hörte das eintönige Summen der Reifen auf dem Asphalt, Hunderte Meilen rauer, unebener Straßenoberfläche, die winzige Stückchen Gummi von den Reifen abpellten, wie sonnenverbrannte, tote Haut.
Einen Musiksender zu suchen hatte wenig Sinn. Nachts und mitten in der Prärie würde sie nur die Wahl zwischen weißem Rauschen und den Hasstiraden irgendwelcher Höllenprediger haben.
Sie tastete sich am Ladekabel bis zu ihrem Handy entlang. Ihr Finger ruhte einen Moment auf dem Homebutton, während sie mit dem Gedanken spielte, sich irgendetwas auf Spotify oder Audible anzuhören, um die Stille zu vertreiben.
Hinter ihr wimmerte Sadie leise im Schlaf.
Kris sah kurz über die Schulter zu ihr. Sadie hatte sich bewegt, ihre Augen waren jedoch noch immer geschlossen, der Kopf hing nach unten, und die roten Locken fielen über ihr Gesicht.
Kris ließ das Telefon aus ihrer Hand gleiten.
In weiter Entfernung sah sie die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs, zwei stecknadelgroße, schwebende Lichter, wie die eines Tieres, das in der Nacht herumschlich.
Ein Waschbär.
Oder ein Fuchs.
So hatte er geheißen.
Howard Fox.
Der Name prangte in schwungvoller Schreibschrift in großen Buchstaben mitten auf einem sehr offiziell aussehenden Schriftstück mit Goldprägung und einem dicken, schimmernden blauen Rand:
DIE VEREINIGUNG DER GERICHTSMEDIZINER VON COLORADO BESTÄTIGT HIERMIT, DASS
HOWARD FOX
DIE BEFÄHIGUNG ZUR LEICHENSCHAU ERWORBEN HAT
Die Formulierung ließ sie schaudern. »Leichenschau«.
Als sich plötzlich eine Tür öffnete, fuhr sie erst erschrocken hoch, dann erstarrte sie.
Ein unauffälliger, leicht dicklicher Mann mit einer runden Drahtgestellbrille stand in der Tür. Vermutlich begrüßte er jeden seiner verzweifelten, völlig neben sich stehenden Besucher gewohnheitsmäßig mit diesem mitfühlenden leichten Lächeln.
»Es tut mir sehr leid«, sagte Howard Fox. Seine Stimme klang seltsam dünn, als ob er beständig kurz davor stünde, zu niesen. »Ich hatte noch gar nicht mit Ihnen gerechnet. Ich dachte, Sie kämen von weiter weg – sonst hätte ich Sie natürlich in Empfang genommen.«
»Ich wohne …« Kris versagte die Stimme. Sie schluckte und setzte neu an. »Ich wohne hier in der Stadt. Ich kenne dieses Gebäude von außen, aber drinnen war ich noch nie …«
»Dazu hatten Sie ja auch gar keinen Grund«, antwortete Howard und runzelte dabei mechanisch die Augenbrauen in dem Versuch, sie mitleidig anzuschauen. »Bitte, folgen Sie mir, wenn Sie bereit sind.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und verschwand wieder in der geöffneten Tür. Vielleicht wusste er, dass es besser war, Kris keine Wahl zu lassen – sie wäre wie angewurzelt stehen geblieben und nicht imstande gewesen, auch nur einen Fuß in diesen Raum zu setzen.
Sie wäre nicht imstande gewesen, Jonah anzusehen.
Nein, nicht Jonah. Das Ding, das einmal Jonah...