E-Book, Deutsch, 816 Seiten
Reihe: Ewig
Thomas Liebe brennt ewig
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7336-5225-8
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Doppelband
E-Book, Deutsch, 816 Seiten
Reihe: Ewig
ISBN: 978-3-7336-5225-8
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rhiannon Thomas hat Englische Literatur in Princeton, USA, studiert. Zurzeit lebt sie in Yorkshire, England. Wenn sie nicht gerade schreibt, arbeitet sie in einem Comicladen, der - in ihren eigenen Worten - »nerdy« ist. Dazu passt, dass Rhiannon eine leidenschaftliche »Dungeons & Dragons«-Spielerin ist. Ihr Lieblingsbuch ist »Das letzte Einhorn«.
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Auroras Finger pochte. Sie presste die Fingerspitze gegen ihren Handteller, um den Schmerz wegzudrücken, aber dieser Junge, dieser Prinz, stand immer noch da und starrte sie an, als wüsste er vor lauter Fassungslosigkeit, dass sie tatsächlich leibhaftig vor ihm stand, nicht, wohin mit sich.
»Es gibt keine Geschichte über mich«, sagte sie.
»Aber sicher, Prinzessin.« Rodric machte einen Schritt auf sie zu. Er glühte förmlich vor Eifer, so als wäre dies der Schlüsselmoment, der Augenblick, in dem sich alles aufklärte. »Alle lieben Euch. Ihr ahnt ja nicht, wie wunderbar alles wird, jetzt, wo Ihr endlich wach seid.«
»Wach?« Sie stützte sich mit der Hand an der Wand ab.
»Wir haben natürlich schon früher versucht, Euch aufzuwecken«, beeilte Rodric sich zu sagen. »Viele haben es im Laufe der Jahre mal versucht. Aber es hat nie geklappt. Bis heute.« Seine Wangen waren rot erhitzt. »Ich hätte nie gedacht, dass ich derjenige sein würde. Also, ich bin natürlich froh, dass es so ist, aber … Normalerweise tauge ich nicht für diese Heldensachen.«
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte sie mit fester, bedächtiger Stimme, so als wäre es eigentlich gar keine wichtige Frage, so als würde sie die Antwort bereits kennen und wollte lediglich auf Nummer Sicher gehen.
»Wir haben es versucht«, wiederholte er. »Aber es hat eine Weile gedauert.« Er stammelte die Worte hervor, zerrte sie aus irgendeinem sicheren Schlupfwinkel heraus. »Länger, als wir dachten. Nicht ewig, aber … eine Weile.«
Seine Worte klangen wie die ihres Vaters, als er zum ersten Mal die Tür zum Turm verriegelte und ihr erklärte, dass von nun an der Rest des Schlosses für sie tabu sei. Es sei zu gefährlich. Sie müsse drinnen bleiben, zu ihrer eigenen Sicherheit. »Für eine Weile«, hatte er mit leicht gerunzelter Stirn und einem tröstenden Lächeln gesagt. »Nur für eine Weile.«
Das war zehn Jahre her. Und dann war sie eingeschlafen.
»Sagt es mir«, verlangte sie und machte einen Schritt auf ihn zu. »Sagt mir, wie lange.«
Er sah weg. Die Stille zwischen ihnen war zum Zerreißen gespannt. »Hundert Jahre.«
»Hundert Jahre?« Sie wiederholte die Worte in ihrem Kopf, versuchte, sie dort festzupinnen, aber sie schienen vollkommen bedeutungslos.
»Also, na ja, eigentlich hundertzwei Jahre.«
Aber alles sah so aus wie immer. Ihr Buch lag noch aufgeschlagen auf dem Tisch. Die Kerze war halb heruntergebrannt, mit einem Rinnsal aus erstarrtem Wachs an der Seite. Alle Dinge befanden sich am selben Fleck wie gestern, jedes Detail war genauso wie an dem Tag vor ihrem achtzehnten Geburtstag, als sie ihr Haar gekämmt, ihr neues Kleid anprobiert und sich darauf gefreut hatte, dass sie bald in die Welt hinausgehen könnte. Gestern.
»Nein«, sagte sie. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Haar kitzelte sie im Nacken. »Ihr lügt.«
»Prinzessin –« Er streckte wieder die Hand nach ihr aus, und sie fuhr ruckartig zurück.
»Ihr habt den Verstand verloren«, sagte sie, jedoch ohne es selbst zu glauben. Die Luft schmeckte schwer und abgestanden. Sie stolperte zur Tür und riss sie auf.
Der kleine runde Treppenraum dahinter sah aus wie eine verlassene Ruine. Alles war mit Staub bedeckt, von dem Tischchen gegenüber bis hin zur Treppe, die sich spiralförmig nach unten wand. Rodrics Fußabdrücke endeten an der Schwelle, daneben gab es noch weitere, verwischte, so als hätten vor ihm bereits andere Leute den gleichen Weg genommen. Spinnweben hingen in den Ecken, und ihr Lieblingswandteppich, der mit dem sich aufbäumenden Einhorn inmitten eines Lichtwalds, war von Motten zerfressen und nicht mehr zu retten.
»Prinzessin …«
Sie ließ die Tür los, die quietschend wieder vor ihr zufiel. Unmöglich. Das war unmöglich. Ein Trick. Sie ging Schritt für Schritt rückwärts, dann drehte sie sich um und eilte zum Fenster. Es verlangte sie nach frischer Luft, nach dem tröstlichen Blick auf den ihr so vertrauten Wald zu Füßen des Turms.
Aber der Wald war weg. Stattdessen breitete sich eine Stadt vor ihr aus, so weit das Auge reichte. Die Sonne tanzte über rote Dächer, ein Durcheinander von Häusern, dazwischen schlängelten sich Pflasterstraßen, die Luft war erfüllt von Geplauder und Geschrei und Lachen.
Eine ganze Welt war auf einmal aus dem Boden geschossen.
»Prinzessin?«, sagte Rodric. »Geht es Euch gut?«
Sie antwortete nicht. Ihre Fingerspitze pochte. Alles verschwunden.
»Wo sind meine Eltern?«, fragte sie und formte jedes einzelne Wort so vorsichtig, als könnte es bei der leisesten Erschütterung explodieren. »Haben sie auch geschlafen?«
Stille, abgesehen vom Gesumm der Stadt. Sie starrte unverwandt auf die Szene vor ihr, beobachtete die Menschen, die auf den Straßen hin und her eilten. Sie wollte die Frage nicht wiederholen, wollte nicht nachhaken, aber die Stille zog sich in die Länge, die Sekunden schleppten sich dahin, und sie spürte die Wahrheit wie einen harten Klumpen im Magen.
»Rodric.« Sie klammerte sich mit den Fingern am Fenstersims fest, bis ihre Knöchel weiß hervortraten. Mit Macht versuchte sie, die Spannung aus ihrem Körper zu verbannen und in den Stein zu pressen. »Wo sind meine Eltern?«
»Es tut mir leid«, sagte er. »Sie sind … gestorben. Schon vor langer Zeit.«
»Gestorben«, wiederholte sie. Das Wort schien bedeutungsleer. Sie nahm ihre Hände vom Fenstersims und starrte ihre blasse Haut an.
Lag es am Schlaf oder am Schock oder einfach an ihrer eigenen Schwäche, dass sie sich so benommen fühlte, als würde sie noch immer träumen? Sie schrie nicht. Sie weinte nicht. Ein kleiner Teil von ihr rollte sich in ihrer Brust zusammen, und als sie die Augen hob, wurde sie vom Licht geblendet.
»Es tut mir leid«, sagte Rodric noch einmal.
Sie erwiderte nichts.
»Sollen wir runtergehen?«, fragte er. »Alle warten.«
»Alle?«
»Ein paar Höflinge. Meine Familie. Nicht so viele, wie man vielleicht annehmen würde, aber …«
Sie drehte sich um, ihr Haar streifte dabei ihren Nacken. Er hatte ein sanftes Gesicht. Er schien es gut zu meinen. »Eure Familie?«, fragte sie.
Er lächelte ein kleines, hoffnungsvolles Lächeln. »Es kann jetzt auch Eure Familie sein.«
Sie starrte ihn an, und er errötete.
»Wollen wir gehen?« Er hielt ihr seinen Arm hin.
»Ja«, sagte sie langsam, als wollte sie sich an dem Wort festhalten. Ihre Beine zitterten, und so legte sie ihre Hand in seine Armbeuge, so sacht wie möglich. Der Stoff seines Ärmels fühlte sich weich unter ihren Fingerspitzen an.
»Alles in Ordnung?«
»Ja.« Das war alles, was sie sagen konnte.
Rodric nickte. »Da lang.« So als müsste man ihr auf die Sprünge helfen.
Im Gehen legte sich Staub auf ihre Lippen und zwischen ihre Wimpern. Er hüllte alles ein, stieg in Wolken auf, jedes Mal, wenn Aurora einen Schritt machte oder ihre Hand das Geländer berührte. Er kratzte in ihrer Kehle, kroch zwischen ihre Zähne. Sie hustete.
So gingen sie die Stufen hinab, Windung um Windung, bis Aurora der Kopf schwindelte. Aber mit jeder Biegung schien die Treppe weniger schmutzig. Der Staub lichtete sich. Neue Teppiche hingen an den Wänden. Auf einem war ein Mädchen mit goldenem Haar zu sehen, das einen Prinzen unter einem Hochzeitsbogen küsste. Ein paar Stufen tiefer schlief das gleiche Mädchen in einem riesigen Bett, erhellt von Tausenden leuchtenden Feen. Dann saß es vor einem klapprigen Spinnrad, einen Finger in die Luft gereckt. Aurora blieb stehen und fuhr mit Finger über den Stoff des Wandbehangs. Ihr Nagel blieb an dem rauen Material hängen. »Soll das sein?«
»Ja«, sagte Rodric. »Das waren Geschenke. Zu Euren Ehren. Ich weiß nicht … weiß nicht, von wem die sind.«
Aurora drehte sich um und blickte die Wendeltreppe hinauf, kniff die Augen zusammen, um das Hochzeitsbild zu erkennen. Ihre vielversprechende Zukunft, für aller Augen sichtbar an die Wand genagelt.
Sie gingen weiter. Der Verfall rundherum wirkte beinahe schon selbst wie ein Gemälde. Spinnweben hingen von den Stufen herab, aber ohne störend im Weg zu sein, und nirgends waren Spinnen in Sicht. Die Steine waren mit einer dünnen Staubschicht bedeckt, und ein paar Wandleuchter erhellten den Weg.
»Hier hat jemand gefegt«, stellte sie fest.
»Den Turm hat seit Jahren niemand mehr benutzt«, erwiderte Rodric. »Aber manchmal haben Leute ihn besichtigt.« Er sprach schnell und ein bisschen zu laut; seine Stimme schwoll an, wie um die Stille auszufüllen. »Aber … Aber natürlich nicht, um Euch aufzuwecken. Das … Das haben nur Prinzen und Edelleute versucht. Es herrscht ein gewisser Aberglaube, um genau zu sein«, fügte er an, »was das Betreten des Turms angeht. Nur derjenige, der in seinem achtzehnten Lebensjahr hingeht, um Euch aufzuwecken, darf die Stufen erklimmen. Alle anderen müssen unten warten. Wenn er in Begleitung erscheint oder irgendjemand anders Euch stört, werdet Ihr niemals erwachen, so hieß es. Aber es gab trotzdem Leute, die einen Blick riskiert haben. Auf die Wandteppiche. Und auf die Treppe.«
Aurora starrte ihre Füße an. Zwischen ihren Schläfen spürte sie ein Piksen wie von winzig kleinen Nadeln.
Am Ende der Treppe wartete eine schwere Holztür, die alle Geräusche dahinter...