E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Thomas Dunkelschwester
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-17048-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-641-17048-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kara Thomas war ihre Berufung schnell klar: Sie schrieb schon für die Schülerzeitung und konnte seitdem nicht mehr damit aufhören. Unter Pseudonym veröffentlichte sie bereits eine Krimiserie und verfasste ein Drehbuch, das erfolgreich verfilmt wurde. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und einer Katze auf Long Island.
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2
Maggie Greenwood wartet in der Ankunftshalle auf mich. Sie ist einige Schattierungen blonder und mehrere Kilo schwerer als früher.
Früher war vor beinahe acht Jahren. Ich denke nicht gern darüber nach, wie wenig sich seither verändert hat. Die Greenwoods nehmen mich auch dieses Mal wieder wie eine streunende Katze bei sich auf. Nur dass ich inzwischen wohlgenährt bin. Skinny Jeans kann ich jedenfalls vergessen. Wahrscheinlich sind die ganzen Mittagspausen im Chili’s schuld.
»Oh, meine Liebe.« Maggie zieht mich mit einem Arm an sich. Obwohl ich gerne Widerstand leisten würde, zwinge ich mich, sie ebenfalls zu umarmen. Dann fasst sie mich an den Schultern und bemüht sich um eine feierliche Miene, doch sie kann ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Ich stelle mir vor, was sie vor sich sieht – kein knochiges, mürrisches kleines Mädchen mehr mit Haaren bis zum Po.
Meine Mutter wollte mir nie die Haare schneiden. Jetzt trage ich sie kaum länger als schulterlang.
»Hallo, Maggie.«
Sie schlingt mir den Arm um die Taille und schiebt mich raus Richtung Parkplatz. »Callie wollte eigentlich mitkommen, aber sie musste früh ins Bett.«
Ich nicke und hoffe, dass Maggie nicht spürt, wie mir ein bisschen elend wird, als sie den Namen ihrer Tochter nennt.
»Sie hat morgen früh einen Twirling-Wettkampf«, erklärt Maggie. Keine Ahnung, wem sie hier was vormachen will. Ich weiß schließlich genau, dass das alles Bullshit ist und Callie selbst dann nicht mitgekommen wäre, wenn Maggie sie an den Haaren herbeigeschleift hätte.
»Das macht sie also immer noch?« Was ich eigentlich sagen will, ist: Dann wirbeln Leute tatsächlich immer noch Stöcke durch die Gegend und bezeichnen das als Sport? Aber ich will nicht unhöflich sein.
»Oh ja. Sie hat deswegen sogar ein Stipendium bekommen.« Maggies Lächeln reicht von einem Ohr zum anderen. »Für die East Stroudsburg Universität. Sie hat vor, Sportwissenschaft zu studieren.«
Natürlich weiß ich das alles schon. Ich weiß, mit wem Callie noch befreundet ist (vor allem mit Sabrina Hayes) und was sie letzte Woche zum Frühstück gegessen hat (einen Zimt-Muffin von Jim’s Deli Bäckerei). Ich weiß, dass Callie es kaum erwarten kann, aus Fayette (Fai-it ausgesprochen, Einwohnerzahl: fünftausend) rauszukommen, und dass sie bereits jetzt mehr Party macht als jeder Erstsemesterstudent.
Obwohl ich seit acht Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen habe, weiß ich fast alles, was es über Callie Greenwood zu wissen gibt. Alles außer dieser einen Sache, die mich brennend interessiert.
Denkt sie noch daran?
»Deine Großmutter hat mir erzählt, dass du dich für Tampa entschieden hast.«
Ich nicke und lehne den Kopf an die Fensterscheibe.
Als ich Gram eröffnet habe, dass ich an der University of Tampa angenommen wurde, meinte sie, ich solle mir gut überlegen, ob ich wirklich in einer Großstadt studieren wolle. Städte fressen die Menschen auf und spucken sie dann wieder aus.
Als Maggie die Ausfahrt nach Fayette nimmt, ist mein Kopf von einem einzigen Gedanken erfüllt: Lieber lasse ich mich auffressen und wieder ausspucken, als in einem Stück verschlungen zu werden.
Maggie parkt vor einem weißen zweistöckigen Haus, das in meiner Kindheitserinnerung doppelt so groß war. Beim Geräusch der Autotüren drehen die Hunde auf dem Nachbargrundstück fast durch. Es ist kurz vor ein Uhr morgens. In ein paar Stunden wird sich Maggies Mann Rick auf den Weg machen, Brot auszufahren. Voll schlechtem Gewissen frage ich mich, ob er wohl aufgeblieben ist, bis Maggie wieder heil zu Hause ist. Er ist einer von diesen Ehemännern.
Mein Vater hingegen war einer, auf den meine Mom, krank vor Sorge, bis spät in der Nacht gewartet hat, bis er, nach Johnnie Walker stinkend, hereingestolpert kam.
Die Hunde beruhigen sich, sobald wir Maggies Veranda erreichen, sie haben schon genug vom Bellen. Die Wohnviertel von Fayette zeigen Gefühle, genau wie Menschen. Die Nachbarschaft der Greenwoods zum Beispiel ist müde, voller Arbeiterfamilien, die schon vor Tagesanbruch aufstehen. Die Sorte Menschen, die sieben Tage die Woche gemeinsam zu Abend essen, egal, wie erschöpft sie sind.
Wenn ich an unsere alte Straße denke, fällt mir Wut ein. Baufällige Reihenhäuser, so dicht zusammengequetscht, dass man den Nachbarn direkt in die Küche schauen kann. Ich sehe wütende alte Männer auf den Veranden vor mir, die über die Telefongesellschaft schimpfen oder über die Demokraten oder dass ihre Sozialhilfe nicht pünktlich kommt.
Die Greenwoods haben früher auch in meinem alten Viertel gewohnt. Ein Jahr bevor ich zu Gram nach Florida gegangen bin, sind sie umgezogen, sodass ich nicht mehr einfach die Straße runterlaufen konnte, um mit Callie zu spielen, wie ich es seit meinem sechsten Lebensjahr getan hatte.
Maggie schließt die Haustür auf, und sofort rieche ich den Unterschied. Am liebsten würde ich sie fragen, ob sie ihr altes Haus genauso vermisst wie ich.
Das tut sie natürlich nicht. Und nach dem, was in ihrem alten Haus passiert ist, wäre ich nach dieser Frage hier definitiv nicht mehr willkommen.
»Hast du Hunger?«, erkundigt sich Maggie, während sie die Tür schließt und hinter sich absperrt. »Im Flugzeug bekommt man heutzutage ja nichts mehr zu essen. Es ist noch ein bisschen Lasagne übrig.«
Ich schüttle den Kopf. »Ich bin einfach … total k. o.«
Maggies Gesichtsausdruck ist voller Mitgefühl, wobei mir die vielen Fältchen auffallen, die vor acht Jahren noch nicht da waren. Wahrscheinlich glaubt sie, dass ich durch den Wind bin, weil mein Vater stirbt.
Die Tessa, die sie kennt, wäre deswegen auch echt fertig gewesen. Sie hätte geweint und nach ihrem Daddy gerufen wie an jenem Tag, als die Polizei die Haustür aufgebrochen und ihn in Handschellen abgeführt hatte.
Maggie weiß nicht, dass an die Stelle der alten Tessa ein Monster getreten ist, das einfach nur will, dass sein Vater schnell stirbt, damit es wieder nach Hause fliegen kann.
»Aber natürlich.« Maggie drückt meine Schulter. »Dann packen wir dich mal ins Bett.«
Die Sonne geht in dem Moment auf, als ich einschlafe.
Ich muss ganz dringend duschen, aber ich weiß nicht, wo die Greenwoods ihre Handtücher aufbewahren. Im alten Haus gab es einen Wäscheschrank im Badezimmer. Statt nach unten zu gehen und Maggie um ein Handtuch zu bitten, spritze ich mir etwas Wasser ins Gesicht und trockne mich mit einem Tuch für die Hände ab.
Es fällt mir schwer, Menschen um Dinge zu bitten. Das geht mir schon so, seit ich denken kann, aber ich glaube, richtig schlimm wurde es erst, als Gram mich nach Florida geholt hat. Am Anfang, bevor sie ihr Büro in ein Zimmer für mich umwandelte, schlief ich auf einer Ausziehcouch. An den Fenstern hingen keine Vorhänge, sodass jeden Morgen um sechs die Sonne hereinschien und mich weckte.
Irgendwann fing ich an, unter dem Sofa zu schlafen, weil es dort dunkler war. Über einen Monat lang hat Gram nichts davon bemerkt. Die Fenster in meinem Zimmer haben jetzt Jalousien, aber manchmal, wenn ich nicht schlafen kann, krieche ich immer noch unters Bett und starre zu den Sprungfedern hinauf, als wären es Sternbilder.
Letzte Nacht habe ich nicht einmal versucht einzuschlafen. Als ich mit Gesichtwaschen fertig bin, finde ich unter dem Waschbecken eine Mundspülung, mit der ich einmal kurz gurgele. Ich mache mir nicht die Mühe, meine Haare zu frisieren. Wozu auch? Schlechter als mein Vater werde ich auf keinen Fall aussehen.
Als ich nach unten komme, brät Maggie gerade Arme Ritter. Auf der Anrichte gurgelt eine Kaffeemaschine.
»Milch oder Sahne?« Sie zeigt auf die Tasse, die sie für mich bereitgestellt hat. Ich bringe es nicht über mich, ihr zu sagen, dass ich Kaffee hasse.
Stattdessen zucke ich mit den Schultern. »Egal.«
Maggie hält die Pfanne schräg, um eine Brotscheibe zu wenden. »Ich habe versucht, Callie zu wecken, aber es geht ihr nicht gut.«
Ich setze mich an den Küchentisch. Ich habe gehört, wie Callie heute Morgen um drei ins Haus geschlichen kam. Garantiert hat sie einen Kater. Kaum war Callie auf der Highschool, tauchten plötzlich überall auf ihren Facebook-Bildern diese roten Plastikbecher auf.
»Sie verpasst damit auch ihren Wettkampf«, fügt Maggie stirnrunzelnd hinzu, während sie den Herd runterdreht. »Aber wahrscheinlich lasse ich sie in Ruhe ausschlafen. Schließlich sind Sommerferien.«
Ich merke, wie meine Muskeln sich verkrampfen, als mir klar wird, dass Callie mir vermutlich nicht den ganzen Tag aus dem Weg gehen kann. Vor allem wenn es nach ihrer Mutter geht.
Nach meinem Umzug nach Florida habe ich eine Woche lang täglich bei Callie angerufen. Jedes Mal ging Maggie ran. Callie war entweder beim Twirling-Training oder mit Ariel Kouchinsky Fahrradfahren oder noch bei den Hausaufgaben. Mit jedem Tag wurde Maggies Stimme verzweifelter und entschuldigender. Sie wollte nicht, dass ich aufgab.
Schließlich versuchte ich es noch einmal pro Woche, dann einmal im Monat. Dann probierte ich es gar nicht mehr.
Letztes Jahr rief mich Maggie an meinem Geburtstag an und schickte uns eine Weihnachtskarte. Beide Male erwähnte sie Callie mit keinem Wort.
Vor drei Jahren entdeckte ich Callie an einem Ort, wo ich sie als Allerletztes vermutet hätte: in einem Online-Forum, in dem es um den Mordprozess des Ohio-River-Monsters ging. Sie postete nur einen einzigen Eintrag. In zwei Zeilen erklärte sie den anderen Forumsteilnehmern, dass...




