Thirlwell | Grell und Süß | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Thirlwell Grell und Süß

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-403498-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-10-403498-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die coolste, wildeste, eindrucksvollste junge Stimme Großbritanniens Eine gute Erziehung und ein guter Job. Eine schöne Frau, einen Hund und ein Haus in den Suburbs: unser postmoderner Held besitzt alles. Doch dann steht ihm der Sinn nach Nervenkitzel: Gefühle für eine Frau, die nicht seine ist, eine Orgie und mehrere Schusswechsel. Eine Ereigniskette intolerablen Ausmaßes nimmt ihren Lauf. Adam Thirlwell lässt diesen schillernden Teufelskerl durch sein ebenso rücksichtsloses wie unschuldiges Leben rasen, das schlagartig aus dem Ruder läuft. Quecksilbrig, melancholisch, angenehm bösartig: ein extravaganter und weltgewandter Großstadtroman. »Ein wundervoll ausgeklügelter Roman über Sex, Liebe, Verlust und Moral - eine Glanzleistung.« Daniel Kehlmann

Adam Thirlwell wurde 1978 in London geboren, wo er auch lebt. Seine bisher erschienenen Romane »Strategie«, »Flüchtig« und »Grell und Süß« wurden international hochgelobt, sein Werk wurde in 30 Sprachen übersetzt. Er war 2003 sowie 2013 auf der »Granta's List of Best young British Novelists« und erhielt 2008 den Somerset Maugham Award. Als London-Redakteur ist er für die »Paris Review« tätig, war gemeinsam mit Daniel Kehlmann S. Fischer Gastprofessor und hat zusammen mit Hans-Ulrich Obrist und Rem Kohlhaas das »Studio Créole« entwickelt, eine Performance-Reihe zur Übersetzung. »Die fernere Zukunft« ist sein vierter Roman.
Thirlwell Grell und Süß jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


1. Madama Morte


Blut


… in dem unser Held erwacht …


Als ich aufwachte, blickte ich kopfüber auf eine Reihe Samtbilder an der Wand über dem Bett. Jesus stand auf seinem Heiligenschein neben einer besonders hellen Madonna – ich meine jetzt die fromme Sorte, nicht die Disco-Version. Zwischen den beiden war ein Tropicana-Strand – Palme, Palme, Palme, und blauer Sand. Ich dachte, sie könnten mir vielleicht gefallen, diese Samtbilder. Ich mochte diese grelle Stimmung. Doch ich wusste auch, dass mir diese Stimmung zwar irgendwie gefiel, aber dass es nicht die Stimmung meines Schlafzimmers war, so wie die Frau, die hier, in dem, was ein Hotelzimmer zu sein schien, neben mir schlief, nicht meine geliebte Ehefrau war. Diese Art von Problemsituation war das, und ich weiß natürlich, dass manche Leute so was überhaupt nicht schlimm finden würden – und dass neben jemandem aufzuwachen, der ethisch nicht zu einem gehört, der ganz normale Weg ist, auf dem die meisten Menschen in den Bereich der Moral eintreten, also, Kleiner, gewöhn dich dran – aber es gelang mir nicht, es ganz so locker zu sehen. Schon seit längerem hatte es atmosphärische Probleme gegeben – kleine Brüche und Risse, wie Schmetterlinge im Herbst, alles erinnerte ein wenig an Tropicália, und das machte mir ein bisschen Angst. Und genauso hatte ich jetzt das Gefühl, mein Kopf sei ganz woanders, und mir war ziemlich schlecht. Ich wusste, dass mein Telefon neben mir liegen musste, und wusste, dass ich drauf schauen sollte, aber gleichzeitig tat ich’s nicht. Wenn du mich an diesem Punkt auf das Sofa einer Talkshow gesetzt und mich gefragt hättest, wie’s mir geht, hätte ich gesagt, dass ich im Grunde sehr, sehr traurig war. Denn ich bin wirklich kein besonders toller Hecht, kein Gangster. Ich bin kein cooler Typ. Bei Frauen war ich immer schon schüchtern. In der Rolle des Vollgas-Machos war ich ungefähr so authentisch wie diese weißen Tussis, die sich Gang-Zeichen gebend fotografieren lassen. Es war absolut nicht normal für mich, irgendwo aufzuwachen, ohne zu wissen, wie ich dorthin gekommen war. Eine normale Freizeitbeschäftigung war für mich, mich auf mathematische Probleme zu konzentrieren, oder auf Wahlmodelle – ich meine, meine Hobbys waren immer harmlos und verkopft. Und trotzdem ging diese neue Sache immer weiter, und ich hatte keine Möglichkeit, es aufzuhalten. Meinem Kopf ging es eindeutig sehr schlecht. In Brasília musste jetzt die Nachtschicht zu Ende sein, in Tokio tranken sie ihren ersten Whiskey Sour. Viertausend Meilen entfernt schwebten Drohnen lärmend in Formation über Bergpässen und tiefen Schluchten, und hier unten auf der stillen Erde lag eine Frau neben mir, die nicht meine Frau war. Sie hieß Romy, und sie war eine meiner besten Freunde. Sie war blond, und wenn man sie in einer Bar sah, war ihr Haar so eine herrlich regungslose Masse, die auf einer Seite ihres Halses herunterhing, aber jetzt war ich eingeweiht und wusste, dass sie nicht naturblond war. Sie hatte kaum Haare zwischen den Beinen, aber das Haar, das dort war, ein einzelnes Büschel, war eindeutig dunkel. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, während das Licht die Nylonvorhänge zum Leuchten brachte und Romy weiter schlief. Denn selbst wenn man verwirrt oder traurig ist, muss man trotzdem weitermachen. Ich kann mich an einen Bodhisattva-Satz erinnern – – und dieser Satz ist nie falsch. Es ist ziemlich sicher eine Regel, nach der man leben kann, und solche Regeln sollte man in Ehren halten. Wenn ich durch diesen Bericht überhaupt irgendetwas beweisen kann, dann hoffentlich, wie wichtig Regeln fürs Leben sind, was vielleicht auch der Grund ist, weshalb ich beschlossen habe, meine persönliche Moralgeschichte mit diesem Blut-Vorfall zu beginnen. Das war, glaube ich, der Punkt, an dem sich meine gewohnten Kategorien in Luft auflösten. Ich stand auf, zog mich an und überlegte, wie ich wieder nach Hause gehen könnte – ich meine, in welchem Zustand und mit welchen Erklärungen. Aber es war auch noch sehr früh. Es war zugleich viel zu spät und sehr früh, deshalb dachte ich mir, geh ich erst mal frühstücken, denn manchmal ist die einzig richtige Verhaltensweise, sich um die normalen Dinge zu kümmern. Man muss die Dinge schrittweise durchdenken. Also trat ich auf den Parkplatz hinaus, ging zum Hotelrestaurant und setzte mich. Von der Nische aus, in der ich saß, sah ich alles ganz klar. Es war nichts Besonderes. Insekten kreisten langsam in der grünen Morgendämmerung, sie entstanden einfach aus dem Nichts, aus der hellen und körnigen Luft. Mein Auto parkte vor unserer Tür, und daneben stand etwas, das wie ein Cadillac-Leichenwagen aussah, aber den ignorierte ich. Und das war vielleicht ein Fehler – zu ignorieren, was andere Leute als eindeutiges Zeichen verstehen würden. Wenn man es gewöhnt ist, unfrankierte Briefe zu erhalten, oder Anrufe, bei denen ein Mann fragt, ob er mit der Leichenhalle verbunden sei, ich meine, wenn man sich mit den Methoden auskennt, mit denen die Mafia einem Mann mitteilt, dass er gebrandmarkt oder vogelfrei oder todgeweiht ist, dann könnte man vielleicht sagen, dass ich einen Fehler gemacht habe. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, dann hätte ich das volle Ausmaß der Schrecken verstanden, die ich noch kennenlernen sollte, das Gemetzel und die Ballistik, wäre ich in der Lage gewesen, einen solchen Looping zu vollführen, wie ihn mir diese Art zu sprechen jetzt ermöglicht, dann hätte ich vielleicht so gedacht. Aber ich hatte noch nie ein Auge für das Offensichtliche. Ich weiß nicht, wieso. Andere Leute wussten normale Dinge zu schätzen, wie die Parkplätze von Einkaufszentren oder Café-Sonnenschirme oder was auch immer – Kaffeemaschinenkaffee vielleicht. Aber ich nicht. Mir lagen meine eigenen Grübeleien viel mehr. Es war sehr hell und sehr traurig in diesem Restaurant. Das Radio führte Selbstgespräche, aber ich hatte niemandem, um mich zu unterhalten, also saß ich in meiner Nische mit Blick auf das leere Schild und las die laminierte Speisekarte. Ich wartete. Ich sah aus dem Fenster. Ich sah immer wieder auf die Uhr und auf die Landschaft, zehn Minuten lang: auf meine Uhr und dann auf die Landschaft, meine Uhr und dann auf die Landschaft. Warten mag ich überhaupt nicht. Endlich kam eine Kellnerin aus der Küche. Auf ihrer Brusttasche stand ihr Name. Dieser Name war Quincy. In einer anderen Schriftart wünschte mir eine andere Plakette einen schönen Tag. Und es war ein schöner Tag, keine Frage. Es war schön wie in einer Computeranimation, wenn ich nur nicht mit einer solchen alles durchziehenden Angst aufgewacht wäre.

– Ich warte schon zehn Minuten, sagte ich.

– Was?, sagte Quincy.

– Das soll keine formelle Beschwerde sein, sagte ich. – Ich finde bloß, Sie sollten wissen, dass ich schon vor gut zehn Minuten gekommen bin. Keine große Sache.

– Aha, sagte Quincy.

Ich glaube, es war ihr ziemlich egal, aber ich hatte wenigstens versucht, ihr zu helfen. Ich bestellte mein vegetarisches Frühstück. Meine Spiegeleier nahm ich einseitig gebraten, ganz klassisch. Die Farbe meines Safts war orange. Ja, ich wollte Kartoffelpuffer. Ich aß meine Pommes mit Appetit. Ich nahm Ketchup und Senf. Und als ich fertig war und mit einem Stück Toast den rotgelben Teller gewischt hatte, putzte ich meine Brille mit dem Feuchttuch, das mir Quincy für meine Hände gegeben hatte. Das war nett von ihr, denn die Hände der Leute sind oft voller Bazillen. Es ist immer gut, vorsichtig zu sein. Durch das Feuchttuch roch meine Brille ganz rein, aber mir brannten auch die Augen davon. Ich sah hinaus, über die horizontal verlaufenden Stromkabel hinweg, dann über die horizontalen Linien hinweg, die auf den Asphalt gemalt waren. Dann über die vertikalen Straßenschilder hinweg. So leer war die Welt. Ich fühlte mich gefangen und war sehr traurig. Obwohl ich natürlich, im Nachhinein betrachtet, nicht annähernd so traurig war, wie ich hätte sein sollen, denn würde mich das Schicksal noch viel mehr in die Mangel nehmen, als es das schon getan hatte. Das Schicksal hatte mich umzingelt, wie die Zacken einen Kronkorken. Andererseits ist nie offensichtlich, wann man anfangen kann, solche Begriffe wie oder zu verwenden, denn die wirken zwar wie ganz normale Ausdrücke, verbergen aber viel mehr, als nützlich ist, und so ist es eines der großen Probleme des Lebens, dass man bei jeder Niederlage glaubt, den absoluten Tiefpunkt erreicht zu haben, und deshalb neigte ich wie jeder andere dazu, mir vorzustellen, dass dieser zerrüttete Zustand, in dem ich mich befand, der schlimmste denkbare Zustand war, wenn ich doch eigentlich in etwas steckte, das meinem Idealbild von mir als charmantem und offenherzigem Menschen viel mehr Schaden zufügen würde, so als säße ich in einem tödlichen Kirmesfahrgeschäft, in dessen Verlauf ich so Groteskes und Grausames kennenlernte, wie ich mir nie vorgestellt hatte, und von diesem Punkt an war mir das, was ich vorher gewusst hatte, völlig egal. Doch hier, in diesem Hotel, fühlte ich mich schlecht.

… um seine Verwandlung zu entdecken …


Weil ich es überhaupt nicht mag, das Falsche zu tun. Ich bin absolut dagegen. Und eine Sache, die mir falsch vorkommt, ist, neben einer Frau aufzuwachen, die nicht die eigene Ehefrau ist. Oder sagen wir mal, es gibt bessere und schlechtere Arten, etwas so...


Schnettler, Tobias
Tobias Schnettler wurde 1976 in Hagen geboren und studierte Amerikanistik. Er arbeitet als Übersetzer in Frankfurt am Main und hat zuletzt unter anderem Bücher von Nell Zink, Andrew Sean Greer und John Ironmonger übersetzt.

Thirlwell, Adam
Adam Thirlwell wurde 1978 in London geboren, wo er auch lebt. Seine bisher erschienenen Romane ›Strategie‹ und ›Flüchtig‹ wurden international hochgelobt. Er war 2003 sowie 2013 auf der 'Granta’s List of Best young British Novelists' und erhielt 2008 den Somerset Maugham Award. Sein Werk wurde in 30 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien 2015 sein Roman ›Grell und Süß‹ bei S. Fischer.

Adam ThirlwellAdam Thirlwell wurde 1978 in London geboren, wo er auch lebt. Seine bisher erschienenen Romane ›Strategie‹ und ›Flüchtig‹ wurden international hochgelobt. Er war 2003 sowie 2013 auf der 'Granta’s List of Best young British Novelists' und erhielt 2008 den Somerset Maugham Award. Sein Werk wurde in 30 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien 2015 sein Roman ›Grell und Süß‹ bei S. Fischer.
Tobias SchnettlerTobias Schnettler wurde 1976 in Hagen geboren und studierte Amerikanistik. Er arbeitet als Übersetzer in Frankfurt am Main und hat zuletzt unter anderem Bücher von Nell Zink, Andrew Sean Greer und John Ironmonger übersetzt.

Adam Thirlwell wurde 1978 in London geboren, wo er auch lebt. Seine bisher erschienenen Romane »Strategie«, »Flüchtig« und »Grell und Süß« wurden international hochgelobt, sein Werk wurde in 30 Sprachen übersetzt. Er war 2003 sowie 2013 auf der »Granta's List of Best young British Novelists« und erhielt 2008 den Somerset Maugham Award. Als London-Redakteur ist er für die »Paris Review« tätig, war gemeinsam mit Daniel Kehlmann S. Fischer Gastprofessor und hat zusammen mit Hans-Ulrich Obrist und Rem Kohlhaas das »Studio Créole« entwickelt, eine Performance-Reihe zur Übersetzung. »Die fernere Zukunft« ist sein vierter Roman.
Tobias Schnettler wurde 1976 in Hagen geboren und studierte Amerikanistik. Er arbeitet als Übersetzer in Frankfurt am Main und hat zuletzt unter anderem Bücher von Nell Zink, Andrew Sean Greer und John Ironmonger übersetzt.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.