Thiong’o | Der Fluss dazwischen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Thiong’o Der Fluss dazwischen

Mit einem Nachwort von Frank Schulze. Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30594-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Mit einem Nachwort von Frank Schulze. Roman

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-293-30594-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ngugis Roman erzählt vom Leben im kenianischen Hochland zu jener Zeit, als die weiße Eroberung erst ein bedrohlicher Schatten war. Waiyaki wächst in der traditionellen Dorfgemeinschaft der Gikuyu auf und wird von seinem Vater als spiritueller Führer und Erneuerer seines Volkes eingeweiht. Er besucht eine christliche Missionsschule, aber als er sich in ein Mädchen aus dem christianisierten Nachbardorf verliebt, kommt es zum tragischen, auswegslosen Konflikt. Waiyaki, der sich nicht bekehren lässt, andererseits zum Besten seines Volkes das Wissen der Weißen in einer unabhängigen Giyuku-Schule vermittelt, steht dazwischen: ein Opfer der Zerrissenheit, die bis heute das moderne Afrika zeichnet.   »Ein Roman, der an die Schönheit und Einfachheit alter Volkssagen heranreicht.« The Guardian  

Ngugi wa Thiong'o, geboren 1938 in Kenia, studierte am Makerere University College in Kampala (Uganda), wo er seine schriftstellerische Laufbahn begann, und an der University of Leeds (Großbritannien). Mit seinem umfangreichen Romanwerk und einer Vielzahl von literarischen und politischen Essays zählt er zu den bedeutendsten Schriftstellern Afrikas. 1977 wurde er verhaftet und interniert, 1982 musste er Kenia verlassen. Seit 2002 war er Distinguished Professor of English and Comparative Literature an der University of California, Irvine. Er starb 2025.
Thiong’o Der Fluss dazwischen jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


2 


Die Berge und Hügelketten traten zurück. Hier war es eben, das einzig flache Stück Land in dieser Region. Wenn man seine Augen anstrengte, konnte man durch den Dunst das Land der Ukabi sehen. Alles war friedlich in dieser Ebene, von der es hieß, dass sie vor langer Zeit ein Schlachtfeld gewesen war. Ein paar Kühe rupften und zermalmten Gras, andere lagen einfach da und glotzten kauend vor sich hin.

Plötzlich tauchten zwei Jungen aus dem Busch auf. Sie stritten. Der eine war groß, und sein ungewöhnlich langer Hals und die langen Gliedmaßen ließen ihn älter erscheinen, als er war. Es war Kamau, der Sohn von Kabonyi aus Makuyu. Der andere, Kinuthia, war kleiner, hatte aber erstaunlich starke Muskeln. Sein träger Blick und die großen Augen passten gut zu der glatten Stirn. Er lebte bei seinem Onkel in einem Dorf jenseits der beiden Höhenzüge, weit entfernt von Makuyu. Sein Vater war früh gestorben.

Die Jungen schlugen sich mit Stöcken, die sie im Busch geholt hatten. Die grünen Stöcke prallten mehrmals aufeinander und zerbrachen. Die Jungen schleuderten sie weg; eine Kuh wurde von einem Stück getroffen und sprang erschrocken auf. Sie lief ein paar Schritte weg und weckte dabei zwei andere Kühe. Dann blickte sie gelangweilt in die entgegengesetzte Richtung.

Kamau und Kinuthia fingen jetzt an zu ringen. Sie hielten sich umklammert und wälzten sich auf dem Boden; mal war der eine, mal der andere obenauf. Kinuthias Versuch, Kamau vom Boden hochzureißen und ihm ein Bein zu stellen, misslang immer wieder. Kamau hatte ebenfalls Mühe. Er war nicht sehr gesprächig, aber heute stieß er eine Drohung nach der anderen aus.

»Du wirst mich kennenlernen«, fauchte er und rammte sein rechtes Knie in Kinuthias Magen.

»Ochse«, schrie Kinuthia auf.

»Hyäne.«

»Selber«, zischte Kinuthia zurück.

Kinuthia wirkte gelassener, und es sah so aus, als gewinne er den Kampf. Aber er stolperte über einen Stein und fiel hin. Kamau warf sich über ihn und drückte ihm die Arme hinter den Kopf. Mit grimmig verzerrter Miene stieß er seinen Kopf immer wieder in Kinuthias Gesicht, bis dessen Nase blutete. Kinuthia wand sich vor Schmerzen. Er riss seine Beine hoch und versuchte, Kamaus Nacken einzuklemmen. Doch das gelang ihm nicht, weil ihn ein Schlag nach dem anderen traf.

Zwei Kühe schauten dem Kampf eine Weile zu. Dann neigten sie ihre Köpfe wieder, rupften Gras und zermalmten es. Von einer weiter entfernten Kuhherde kam ein Junge angerannt.

»Hört auf!«, rief er atemlos.

Kamau hielt inne, blieb aber auf Kinuthia sitzen.

»Warum streitet ihr euch?«

»Er hat mich beleidigt«, antwortete Kamau.

»Er ist ein Lügner. Er hat mich ausgelacht, weil mein Vater arm gestorben ist und …«

»Er hat meinen Vater einen Überläufer zu den Weißen genannt.«

»Das ist er ja auch.«

»Du Bettler.«

»Du Sklave des weißen Mannes.«

»Du, du …«

Kamau wurde wütend. Er begann, Kinuthia zu kneifen. Der schaute den anderen Jungen Hilfe suchend an.

»Bitte hör auf damit, Kamau. Wir haben uns doch geschworen, dass wir aus dem Hochland wie Brüder sind.« Er fühlte sich hilflos. Erst vor drei Tagen hatten sie sich Brüderschaft geschworen.

»Was kümmern mich Brüder, die meinen Vater beleidigen?«, fragte Kamau.

»Ich werde es wieder tun«, entgegnete Kinuthia mit Tränen in den Augen.

»Versuchs doch.«

Kamau und Kinuthia gingen wieder aufeinander los. Dem Jungen fiel es schwer, nicht über Kamau herzufallen. Er rupfte einen Grashalm aus und kaute heftig darauf herum, die Augen weit aufgerissen vor Zorn, aber auch Hilflosigkeit.

»Kamau«, presste er heraus.

Das Beben in der Stimme des Jungen ließ Kamau innehalten. Er sah auf und begegnete einem zwingenden Blick, dem er sich fügte. Er ließ Kinuthia los. Sein Gesicht wurde um einen Schatten dunkler. Er schlich sich davon, gedemütigt, und verachtete sich, weil er klein beigegeben hatte. Kinuthia erhob sich, noch unsicher auf den Beinen, und blickte den Jungen dankbar an. Der hatte den Blick gesenkt, starrte auf ein und dieselbe Stelle. Das plötzliche Gefühl von Stolz und Triumph in dem Moment, als Kamau ihm gehorchte, schlug um in ein Gefühl, ihn damit beleidigt zu haben. Er hätte sich wohler gefühlt, wenn Kamau stur geblieben wäre und er sich mit Gewalt hätte einmischen müssen.

Der Junge hieß Waiyaki. Er war der einzige Sohn von Chege. Er war jung, jünger als Kamau und Kinuthia, und auch die zweite Geburt lag noch vor ihm. Allerdings war Waiyaki sehr groß für sein Alter. Er hatte einen athletischen Körper. Sein kräftiges, kurz gelocktes Haar legte sich in einer klaren Linie über die Stirn. Über dem linken Auge verlief eine Narbe, die von einer wilden Ziege stammte. Die Ziege hatte einen der Hütejungen verfolgt. Waiyaki hatte das gesehen und war mit einem Stock schreiend hinter der Ziege hergerannt. Die hatte sich umgedreht und ihn mit den Hörnern erwischt. Gerade rechtzeitig war sein Vater gekommen, um ihm zu helfen. Das war lange her, die Wunde längst verheilt. Doch seitdem galt er unter den Jungen als Held. Dabei war er der Ziege nur aus Spaß hinterhergerannt. Das war aber nicht der einzige Grund, warum die anderen Jungen, jünger oder älter, ihm oft so bereitwillig folgten.

Chege, sein Vater, war in Kameno ein bekannter Stammesältester. Er hatte nur noch eine Frau, die ihm viele Töchter, aber nur einen Sohn geboren hatte. Die anderen zwei Frauen waren während der großen Hungersnot kinderlos gestorben. Dieser Hungersnot, nach einem Jahr mit einer sehr guten Ernte, folgte eine Heuschrecken- und Würmerplage und eine lange Dürreperiode. Das hatte vielen Menschen den Tod gebracht, beinahe auch Chege.

Von seinen Töchtern war eine früh gestorben, die anderen waren jetzt gut verheiratet. Die anderen Ältesten begegneten ihm mit Ehrfurcht und Respekt. Chege kannte das Land, die Geschichte und die Geheimnisse des Stammes; wie kein anderer wusste er um die Bedeutung der Rituale und Zeichen. Er leitete jede wichtige Zeremonie, und viele Geschichten wurden über ihn erzählt. Manche Leute sprachen ihm Zauberkräfte zu, andere sagten, er sei ein Seher, und Murungu spreche oft zu ihm. Es hieß auch, er könne in die Zukunft sehen wie Mugo wa Kibiro, der bereits vor langer Zeit das Eindringen der Weißen in das Gikuyu-Land prophezeit hatte. Manche glaubten auch, Chege sei mit Mugo verwandt, Chege schwieg dazu. Seitdem er den Stamm vor dem Missionszentrum in Siriana gewarnt hatte, die Menschen aber nichts davon hatten hören wollen, äußerte er sich nur noch selten und behielt seine Gedanken und Visionen für sich. Chege hatte damals den Menschen im Hochland berichtet, was in Muranga, Nyeri und Kiambu geschehen war. Er hatte ihnen erzählt von Tumu-Tumu, Gikuyu, Limuru und Kijabe. Sie glaubten ihm nicht und fragten: »Woher weißt du das?«

»Seht sie doch, die Schmetterlinge.«

»Schmetterlinge? Wo? Du hast doch nie das Hochland verlassen!«

»Sie sind dort, im Land hinter den Bergen. Sie errichten dort Häuser, und sie nehmen sich Land.«

»Wie kannst du so weit sehen?«

»Narren, alles Narren«, murmelte er verzweifelt in sich hinein.

Nairobi war bereits eine blühende Stadt. Die Eisenbahn durchquerte das Land hinter den Bergen; doch nur wenige aus dem Hochland waren bisher dort hingekommen. Noch sagte man sich hier:

»Die Weißen sprechen die Sprache der Berge nicht.«

»Und sie kennen die Bräuche unseres Landes nicht.«

Und doch war der weiße Mann nach Siriana gekommen, und Joshua und Kabonyi hatten sich zum Christentum bekehren lassen. Sie hatten die Bräuche ihres Landes aufgegeben und folgten dem neuen Glauben. Aber noch immer zuckten die Leute mit den Schultern, gingen wie gewohnt ihrer Arbeit nach und sagten: »Wer von da draußen findet schon den Weg in die Berge?«

Chege war damals noch jung gewesen. Jetzt war er alt, aber er erinnerte sich an vieles. Dann kam Glanz in seine Augen. Darin flackerte die Hoffnung auf, die bewahrte er. Sein Wissen wollte er nur dem Rechten weitergeben.

Die Jungen wollten nicht in die Dunkelheit kommen. Sie trieben das Vieh zusammen, um es nach Hause zu bringen. Viele Pfade führten durch den Wald zu den in den Bergen verstreut liegenden Hütten. Man konnte sich leicht verirren, doch die Jungen, in den Bergen geboren und aufgewachsen, kannten die Wege.

Es war dunkel geworden, als Waiyaki zu Hause ankam. Chege erwartete ihn bereits. Er rief Waiyaki in seine thingira, die Hütte des Mannes. Er saß auf einem Hocker an einen Pfosten gelehnt. Das Feuer brannte niedrig, und als Waiyaki hereinkam und an der Tür stehen blieb, nahm Chege den Stock, der neben ihm lag, und schürte langsam die Glut. Funken sprühten.

»Warum kommst du erst bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause?«, fragte Chege schließlich, ohne dabei aufzusehen. Er spuckte auf den Boden.

»Wir mussten das Vieh hinunter in die Ebene bringen.«

»In die Ebene?«

»Ja, Vater.«

»Das ist ein weiter Weg«, sagte Chege nach kurzem Schweigen.

Waiyaki blieb stumm. Es war ihm selten wohl, wenn er vor seinem Vater...


Djafari, Anita
Anita Djafari studierte Germanistik und Anglistik und arbeitet seit vielen Jahren als Übersetzerin, Lektorin und Literaturvermittlerin. Sie ist Geschäftsleiterin der Litprom e. V.

Thiong’o, Ngugi wa
Ngugi wa Thiong’o, geboren 1938 in Kenia, studierte am Makerere University College in Kampala (Uganda), wo er seine schriftstellerische Laufbahn begann, und an der University of Leeds (Großbritannien). Mit seinem umfangreichen Romanwerk und einer Vielzahl von literarischen und politischen Essays zählt er zu den bedeutendsten Schriftstellern Afrikas. 1977 wurde er verhaftet und interniert, 1982 musste er Kenia verlassen. Seit 2002 war er Distinguished Professor of English and Comparative Literature an der University of California, Irvine. Er starb 2025.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.