E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Thien Akzente: EXIL
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-910732-53-7
Verlag: Dittrich Verlag ein Imprint der Velbrück GmbH Bücher und Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Steine, Straßen, Städte. 72. Jg. Heft 1/2025
E-Book, Deutsch, 104 Seiten
ISBN: 978-3-910732-53-7
Verlag: Dittrich Verlag ein Imprint der Velbrück GmbH Bücher und Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Annika Reich (*1973) hat Philosophie und Ethnologie studiert. Sie ist Schriftstellerin, (Mit)Gründerin und Künstlerische Leiterin von 'WIR MACHEN DAS' und 'Weiter Schreiben'. Auch die Kolumne '10nach8' bei ZEIT Online hat sie mitgegründet und -geleitet. Ihre Romane und Kinderbücher erscheinen in den Hanser Verlagen. Zuletzt Männer sterben bei uns nicht (2023) bei Hanser Berlin. Annika Reich lebt in Berlin. Mirjam Wittig (*1996) hat Philosophie und Literarisches Schreiben studiert. Arbeit in der Kulturvermittlung u.a. für das PROSANOVA Festival und die BELLA triste Literaturzeitschrift, daneben diverse Lehraufträge. 2022 erschien Mirjams Debütroman An der Grasnarbe im Suhrkamp Verlag, aktuell ist ein zweiter Roman in Arbeit. Mirjam Wittig lebt in Berlin und arbeitet seit 2024 im Team von 'Weiter Schreiben' mit.
Weitere Infos & Material
Editorial S. 5
Briefwechsel zwischen
Lina Atfah und Nino Haratischwili S. 7
Sam Zamrik | Die Armen in den Städten S. 16
Yirgalem Fisseha Mebrahtu | Die Enge S. 20
Widad Nabi | Der Ort von Erinnerung beleuchtet S. 21
Annett Gröschner | Unter Hunderten S. 24
Briefwechsel zwischen Marie Bamyani und Tanasgol Sabbagh (Auszug) S. 27
Rabab Haidar | Welche Farbe hat der Beton? S. 36
Ahmad Katlesh | Die Straßen auf meinem Rücken S. 40
Nasta Mancewicz | Der Schritt hinein in die Schwere S. 42
Galal Alahmadi | Ein Hund in der Gasse S. 47
Kateryna Mishchenko | Sackgasse S. 48
Briefwechsel zwischen Daryna Gladun und Asal Dardan S. 51
Abdalrahman Alqalaq | Flashback S. 63
Rasha Azab | Das Hausboot S. 69
Bahram Moradi | Im Zenit der Nacht S. 72
Ahmed Awny | Der Preis des Helden S. 79
Mariam Meetra | Kabul, traurigste Stadt der Welt S. 84
Stella Gaitano | Die Flucht vor dem Monatslohn S. 85
Dima Albitar Kalaji | ohne Titel S. 90
Biografien der Beitragenden S. 93
Briefwechsel zwischen Lina Atfah und Nino Haratischwili
Übersetzung aus dem Arabischen von Osman Yousufi
Von: lina atfah Betreff: Guten Abend liebe Nino Datum: 27. Januar 2019 um 22:42:35 MEZ
An: Nino Haratischwili
Guten Abend, liebe Nino,
heute Morgen bin ich glücklich aufgewacht. Ich trank meinen Matetee und hörte dabei Fairuz. Ich habe dir über Fairuz und ihre Stimme bislang noch nichts erzählt, auch nichts darüber, was sie für mich bedeutet, und zwar nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie und mein ganzes Land. Als würde ich mir einen alten Morgen ins Gedächtnis rufen, hörte ich Fairuz, während sich meine Zunge unter der köstlichen Bitterkeit des Matetees zusammenzog.
Kann Schreiben die Welt verändern?, fragte ich mich, aber ich hatte das Gefühl, dass diese Frage zu groß und kompliziert war, dass sie zu diesem ganz normalen Morgen nicht passte, deswegen beschloss ich, sie zu vereinfachen, aber es gelang mir nicht. Ich dachte lange darüber nach, wie ich etwas bewirken könnte. Was kann ich schon tun, damit die Welt zu einem friedlicheren Ort wird? Das Schreiben ist tatsächlich das Einzige, was ich kann.
Die Welt verändert sich so schnell und wird jeden Tag gewalttätiger, und die Menschen haben keine Lust zu lesen, sie fürchten sich vor dem Lesen, weil das Lesen ihre Sorgen verstärken könnte, weil es sie zwingen könnte, endlich eine Entscheidung zu treffen. Warum sollte ich ein Gedicht von Bertolt Brecht lesen, wenn ich das Kreuzworträtsel einer Zeitung lösen kann, deren Nachrichten mich nicht interessieren?
So sah ich diese Welt. Ein Ei verlor seine Schale und sein Inneres floss ins Nichts, wo das Schreiben nur noch eine bittere Tat ist. Irgendwo auf dieser Welt stirbt jemand an Hunger, an Kälte oder an Unterdrückung. Und woanders lebt ein anderer, als würde er das Leben auf seinem Knie schlachten.
Viele traurige Gedanken, liebe Nino, deshalb versuche ich verzweifelt zu schreiben, ich versuche, diesem Leben seine Ungerechtigkeit zu vergeben.
LG
Lina
P.S.: Ich würde dir gerne eine Sammlung von Fairuz’ Liedern schicken. Ich hoffe, du hast Zeit, sie zu hören. Vielleicht könnten dir diese Lieder etwas über mein Land erzählen, eine Fantasie, die ich nicht beschreiben kann.
Von: Nino Haratischwili Betreff: Aw: Guten Abend liebe Nino Datum: 30. Januar 2019 um 16:12:14 MEZ
An: lina atfah
Liebe Lina,
ja, schick mir die Lieder. Musik war schon immer ein wichtiger Teil meines Lebens. Alle in meiner Familie haben musiziert und gesungen, bis auf mich :) Ich habe mich auf die Texte spezialisiert. Wie traurig diese Zeile ist, aber zugleich auch rührend: »… ich versuche, diesem Leben seine Ungerechtigkeit zu vergeben.« Das ist ein schöner Gedanke.
Auf Annikas Anregung hin habe ich gestern viel über Ruinen nachgedacht. Was ich damit verbinde und wie dieses Wort für mich besetzt ist. So vieles im Leben verkommt zu Ruinen – nicht nur im physischen Sinne, auch im emotionalen, und manchmal bricht das Leben dort durch, wo man am allerwenigsten damit rechnet. Sofort kam mir dieses Bild in den Sinn, dieses eine Bild aus meiner Jugend von dem zerfallenen Haus. Ich schicke dir ein Foto von einem Foto von diesem Baum, denn ich habe ihn damals mit einer analogen Kamera fotografiert und er hängt gerahmt bei mir in der Wohnung (verzeih die schlechte Qualität).
Ich war damals sechzehn oder siebzehn und gerade mit der Schule fertig geworden. Ich war voller Tatendrang, ich wollte, dass das Leben endlich beginnt, ich wollte studieren, wollte meine neugewonnene Freiheit feiern, wollte mich berauschen an den Verheißungen der Zukunft. Aber alles, was mich umgab, war trist und rau, es war traurig und gelähmt, erstarrt. Denn das ganze Land glich damals einer Ruine: die Unabhängigkeitskämpfe, die Wirtschaftskrise, der Zerfall der Sowjetunion, zwei Kriege und ein Bürgerkrieg, mitten in der Hauptstadt ausgetragen, die totale kulturelle Stagnation, existenzielle Ängste – all das umgab mich, all das hinderte mich daran, mich an meinem Leben zu berauschen. Wir, meine Freunde und ich, versuchten es trotzdem. Wir gingen stundenlang spazieren, wir sprachen von unseren Träumen und Hoffnungen, wir tranken billiges Bier und kamen uns erwachsen vor, wir verliebten uns und entliebten uns, wir lebten in einer Parallelwelt, in der es keine Politik und keine Erwachsenen gab, dafür aber viel Kunst und viele Tagträume.
Auf einem unserer Streifzüge entdeckte ich dieses Haus. Es lag gegenüber einem Café, das zu unserem Lieblingscafé wurde und bis heute existiert. Es ist angebunden an ein wunderschönes Puppentheater, in dem es den köstlichsten Apfelkuchen der Welt gab und das heute von Touristenscharen überlaufen ist. Direkt gegenüber stand ein altes, schönes, herrschaftliches Haus, wahrscheinlich aus dem 19. Jahrhundert, in dem einst gelebt und geliebt, geboren und gestorben wurde und das nun entzweigerissen worden war: Ein riesiger Spalt teilte es in zwei Stücke und inmitten dieser klaffenden Lücke ragte ein schmaler, schöner Baum hervor. In meiner Erinnerung blühte er weiß, wunderschöne, zarte Blüten schmückten seine Äste, vielleicht waren es Kirschblüten, vielleicht aber auch nur ein Stück meiner Fantasie.
Irgendwas an diesem Bild hielt mich gefangen. Ich konnte mich nicht rühren. Meine Freunde zogen weiter, ich blieb stehen und starrte wie versteinert hin. Ich weiß bis heute nicht, woran es liegt, aber immer noch hat dieses Bild eine enorme Wirkung auf mich. Ich kehrte am nächsten Tag zurück und machte dieses Foto.
Was ich da sah, hatte viel mit meiner eigenen Situation zu tun, mit der Energie, die damals freigesetzt wurde und die mich zwang, die endlosen Probleme und die triste Stimmung in etwas Kreatives umzusetzen, was sich letztlich als meine Rettung erwies. Es hatte aber auch viel mit dem Land zu tun, aus dem ich komme, das bis heute in diesem Ruinenspalt etwas Neues aufzubauen versucht, ohne aber vorher die Ruinen wegzuschaffen. Es hat aber auch sehr viel mit der Hoffnung zu tun, die man unbedingt braucht, egal wie schrecklich einem alles erscheint, diese existenzielle Hoffnung, dass doch etwas anderes, Neues möglich ist.
Das Bild habe ich später meiner Freundin Julia gegeben, der Künstlerin, die das Buchcover für »Das achte Leben (für Brilka)« gestaltet hat, und bat sie, sich davon inspirieren zu lassen. Nun sind das Bild und der Roman für immer miteinander verwoben und begleiten mich beide weiterhin durch mein Leben.
Heute steht dort ein neues Haus. Alles ist glatt und hübsch, alles Vergangene ist verschwunden, keine Spur einer Ruine … Und so sieht es aus:
Schreib mir bald.
Deine Nino
Von: lina atfah Betreff: Aw: Guten Abend liebe Nino Datum: 5. Februar 2019 um 14:21:01 MEZ
An: Nino Haratischwili
Liebe Nino,
ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich das Foto sah. Warum sollte Nino mir ein Foto unseres Hauses in Salamiyya schicken?, fragte ich mich. Das Gefühl hatte ich schon lange: Du und ich, wir teilen nicht nur einfache Details, es ist ein ganzes Leben, das seine Fäden zwischen uns spinnt.
Der Anblick eines Hauses wird von weit mehr bestimmt als von dem Haus oder dem Garten selbst. Stundenlang saß ich im Innenhof unseres Hauses und betrachtete den Balkon, die Steintreppe, den Jasmin, der sich die Mauer und die Regenrinne hinaufwand, und den Orangenbaum, der wie ein neugieriger Nachbar aussah, der seinen Kopf vorstreckt, um einen schnellen prüfenden Blick nach draußen zu werfen. In diesem Innenhof experimentierte ich mit der Poesie und teilte meine Geheimnisse mit dem Ort. Der Ort ist ein Verbündeter der Seele. Einsam kommt der Mensch zur Welt und verlässt sie genauso einsam, aber ich teilte meine Einsamkeit mit dem Ort. Ich bin Nachfahrin einer langen Migrationskette, und jener Ort ist es ebenso. Dass die Pflastersteine sich sammeln, um ein Haus zu formen, ist genauso eine Migration.
Von unserem Balkon schaute man auf einen Friedhof. Dort spielte ich jahrelang mit meiner Schwester und anderen Kindern zwischen den Gräbern. Die Tatsache, dass unser Haus vom Friedhof umgeben war, versöhnte mich mit dem Tod. Mein erster Verlust trat ein, als der Friedhof in einen Park verwandelt wurde und der Lieblingsort meiner Kindheit verschwand. Meine Schwester und ich nannten ihn den kahlen Park, weil er mit ein paar Zypressen und einem unfertigen Brunnen aus blauem Porzellan der ärmste Park der Welt war. Aus einem Ort voller Labyrinthe, Geschichten, Kleintiere, Kräuter, komischer Blumen und Geister wurde ein langweiliger Ort, wo man nicht spielen, sondern nur um den Friedhof trauern konnte.
Hier in Deutschland sind die Friedhöfe übersichtlich, perfekt und schön, aber auch kalt, streng und geheimnisvoll. Unser Friedhof war herrlich, chaotisch und laut.
Ich vermisse ihn, ich hatte ihn schon verloren, bevor ich Syrien verließ.
Ich verlor ihn, weil er sich veränderte und ein langes Gedächtnis verschluckte.
Ich vermisse den Ort und seine Gewohnheiten.
Wenn du dir das Bild anschaust, das ich dir schicke, wirst du die Ähnlichkeit bemerken, zwei gegenüberliegende Spiegel und zwei Leben, die Verstecken spielen und lachen, als ob alles in Ordnung wäre.
Früher konnte ich das ganze Haus beobachten, während ich den Innenhof schrubbte. Ich erinnere mich an das Wasser, das ich aus dem Eimer goss, ich erinnere mich an das...