E-Book, Deutsch, Band 73, 392 Seiten
Reihe: Edition Gegenwind
Theiss Darmstädter Nachtgesänge
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-347-80500-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, Band 73, 392 Seiten
Reihe: Edition Gegenwind
ISBN: 978-3-347-80500-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein authentischer Kriminalfall zur deutschen Biedermeierzeit, verwoben mit dem Schicksal des damals verfolgten Dichters und Revolutionärs Georg Bücher, dem Verfasser des 'Woyzeck'. Auch die damals 14-jährige Luise Büchner, spätere Frauenrechtlerin, spielt eine wichtige Rolle.
Ella Theiss lebt in der Nähe von Darmstadt. Sie hat Germanistik und Sozialwissenschaften studiert und rund zwanzig Jahre unter ihrem Klarnamen Elke Achtner-Theiss als Redakteurin und Texterin gearbeitet, insbesondere im Themenbereich Ökologie und Bio-Lebensmittel. Seit 2008 schreibt sie auch Romane und Erzählungen. Mit ihrem historischen Krimi »Die Spucke des Teufels« belegte sie Platz 2 zum Gerhard-Beier-Preis 2010. Für ihre Erzählungen und Kurzgeschichten erhielt sie mehrere Preise und Auszeichnungen. Mehr unter www.ellatheiss.de
Autoren/Hrsg.
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1. Kapitel Winter 1833 / 1834 Niemand Er trägt sein Beil geschultert und stapft durch lichtes Gehölz. Nasskalte Luft, Dunstschleier hie und da. Gut so, keine Atemwolke wird ihn weithin verraten. Und doch dringt genug Nachmittagssonne durch die kahlen Wipfel, sodass es hell ist am Schmalberg, und dass er keine Sorge haben muss vor versteckten Baumwurzeln, über die er stolpern könnte, oder vor Schlammlöchern unter dem Moos, die an seinen Stiefeln saugen. Er kennt den Waldstrich. Kennt ihn besser als mancher Förster der Grafschaft. Auch wo die Hasenfallen lauern, die er im Spätherbst gelegt hat, weiß er genau. Eine bei der umgestürzten Buche da hinten links, eine zwischen den zwei Eiben gleich daneben, eine in der Senke zwischen den Brombeeren. Sie sind leer geblieben, die Fallen. Bis jetzt. Im Frühjahr, um Ostern herum, da wird er Ernte halten. Ganz sicher. Wie er erwartet hat, ist sonst keiner unterwegs. Jedenfalls kein Förster. – Oder doch? Er bleibt stehen, lauscht. Ein Eichelhäher. Ein Specht. Und das Pulsieren seines Bluts in den Ohren. So wenige Tage vor Weihnachten hocken alle am heimischen Herd. Sofern sie etwas haben, womit sie den Herd befeuern können. Aber auch wer nichts hat, der hat sich zuvor schon eingedeckt. Kahles Geäst abgehauener Wipfel liegt verstreut unweit des Wegs statt verborgen zwischen Hasel- oder Holunderbüschen. Baumstümpfe ragen zollhoch aus dem Laub, umringt von frischen weißen Spänen. Da sind Stümper am Werk gewesen. Jeder Sonntagsspaziergänger kann die Frevelei entdecken und der Grafschaft anzeigen. Er sollte sich ein anderes Waldstück aussuchen, eine Meile nordwestlich, hinter einer der ausgedienten Köhlerplatten vielleicht. Entschlossen bahnt er sich einen Weg, meidet die Fichtenschonung, meidet die Lichtung, stapft geduckt eine Anhöhe hinauf. Sicher ist sicher. So weit ist er noch nie gegangen. Dieser Teil des Walds scheint unberührt. Nester erfrorener Stockschwämmchen kleben auf moderndem Holz. Derart viel Wald hat der Graf, dass er nicht einmal die Pilze einsammeln lässt. Allein mit dieser Masse an Stockschwämmchen hätte die Mutter Suppe fürs ganze Dorf kochen können. Da! Ein Rascheln, das Knacken kleiner Äste, wieder Rascheln. Erst weitab. Nun näher. Ein Wildschwein? Er wartet hinter einer dicken Eiche, späht in alle Richtungen, das Beil schlagbereit in der Rechten. Kein Wildschwein. Ein Mann. Keinen Steinwurf entfernt. Ist in einen grauen Überwurf gehüllt, duckt sich hinter eine verwachsene Kiefer, starrt ihm entgegen. Unter einem tief in die Stirn gezogenen Schlapphut, wie er selbst einen trägt, blitzt das Weiße wie Angst aus seinen Augen. Was soll der arme Teufel anderes hier wollen als er? Also nur Mut. Er tritt hinter der Eiche vor, lächelt breit, so breit, dass der andere seine Zähne erkennen muss, hebt die Hand zum Gruß und wendet sich wortlos ab. Geht ein paar Schritte ohne Eile. Nach Nordwesten, wie er beschlossen hat, wirft über das geschulterte Beil hinweg einen Blick zurück. Der andere hat verstanden, tippt sich mit den Fingern an die Hutkrempe, wendet sich nach Osten. Der Wald ist groß genug für sie beide. Kein Rascheln mehr. Er atmet auf, sucht sich dort, wo viele junge Buchen beisammen stehen, eine aus. Einen Fuß Durchmesser darf die Stange haben, mehr nicht. Und drei Ellen lang darf sie höchstens sein. Sonst schafft er sie nicht nach Hause. So eine Buchenstange gibt Glut für drei Abende und für eine schöne Kohlsuppe. Er zieht die Fellhandschuhe aus, fasst das Beil mit beiden Händen, holt aus, schlägt zu … Ein Echo von irgendwoher. Er zögert, lauscht. Leises, langsames Pochen, das nachhallt. Das ist der andere. Alles gut! Er lächelt vor sich hin. Und holt erneut aus mit seinem Beil, haut beherzt in die Kerbe, die sein erster Schlag hinterlassen hat, die Rinde platzt auf. Wieder und wieder schlägt er zu, krachend splittert das frische grauweiße Holz, die Buche kippt, fällt, reißt abgestorbene Äste des Nachbarbaums mit sich. Geschafft. Er nimmt den Hut ab, wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Der größte Teil der Arbeit steht ihm noch bevor: das Aufräumen. Stümperei? Nicht bei ihm. Noch bevor die Dämmerung einsetzt, ist er fertig, beseitigt die letzten Spuren. Ein Schrei durch die Stille. Heiser und dumpf. Ein Reh vielleicht. Er schultert die Stange mit einem Hauruck, will davon gehen. Wieder ein Schrei, nein, Gebrüll. Das ist kein Reh, das ist ein Mensch … der ruft, kommandiert. Etwas wie Haaalt! … Etwas wie Stejeblei-we! … Ein Schuss? War das ein Schuss? Jetzt ein Greinen, unbändig wie vor Schmerzen. Langgezogen, quälend langgezogen … Das Greinen erstirbt. Nur noch Stille. Kein Zweifel, die Förster haben den anderen erwischt. Den mit dem Schlapphut, wie er selbst einen trägt. Gleich werden sie hier sein, werden auch ihn erwischen. Er lässt die Buchenstange fallen, ebenso das Beil, er hetzt davon, die Arme vor dem Gesicht gekreuzt, um es vor dornigem Gestrüpp zu schützen. Er stolpert über Baumwurzeln, stürzt, rappelt sich auf, tritt in Morast, versinkt bis zum Knöchel, befreit sich, rutscht auf nassem Laub aus, stürzt noch einmal, diesmal mit dem Knie auf einen Gesteinsbrocken … Er blutet, egal, nur weiter! Endlich gelangt er zur Chaussee. Festgetretener Schotter, ein bequemer Weg. Rechts geht es nach Momart, links nach Weiten-Gesäß. Nur ein Pferdefuhrwerk ist unterwegs, verschwindet hinter der Kurve am Hang. Ruhig jetzt, ganz ruhig. Durchatmen, sich Holzspäne und Laub vom Mantelsaum klopfen, die schlammigen Moosfetzen von den Stiefeln wischen. Mit dem zerknüllten Hut in der Tasche gelassen weitergehen. Er ist ein Tagelöhner, der von der Arbeit kommt. Ein armer, aber rechtschaffener Mann auf dem Heimweg. Ein Niemand. Der Gräflich Erbachische Unterförster Philipp Lust von Weiten-Gesäß war nach dem Zeugnisse seines ihm vorgesetzten Revierförsters einer der besten Forstschützen des Reviers; hinsichtlich seines Benehmens gegen die Holzfrevler wurden nie Klagen laut. Zur Zeit seines Todes 64 Jahre alt, war er noch rüstig, so dass er den ihm im Jahre 1801 übertragenen Unterförsterdienst noch gut versehen konnte. Er hinterließ eine Frau, drei Töchter und einen volljährigen Sohn, der über das Verschwinden seines Vaters angab: In den letzten acht bis vierzehn Tagen waren häufig gröbere Holzfrevel im Schmalberg, namentlich im sogenannten Sauschlag vorgefallen, so dass sich sein Vater fast jeden Abend dahin gewendet habe. So wäre er auch am 17. Dezember 1833 des Nachmittags gegen Vier aus der Holzmacherei in der Litzart (einem Walde bei Weiten-Gesäß) in der Richtung nach dem Schmalberg weggegangen. Obgleich er nun nachts nicht nach Hause gekommen, so sei dieses doch nicht aufgefallen, weil dies in der Verrichtung seines Dienstes nicht selten vorgekommen sei. Indessen sei sein Vater auch bis zum Nachmittage des folgenden Tags nicht nach Hause gekommen, und so habe er sich besorgt auf den Weg gemacht (…). Indessen habe sich gegen Nachmittag der Beigeordnete mit vielen Leuten hinzugesellt, und nun hätten Bernhard Walter und Matthäus Breidinger, zwei ganz unverdächtige Leute, seinen Vater in einem Fichtengebüsch im Rohr, vier Schritte unterhalb des Wegs, an einer Stelle, in deren Nähe er selbst mit ihm öfters Frevlern aufgepasst habe, getötet gefunden (…). Aus den Aufzeichnungen des Untersuchungsrichters, zitiert nach »Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege« Scherben Der alte Lust getötet? Anna fällt die Terrine aus den Händen. Klirrend schlägt das Geschirr am Boden auf, zerschellt in einige grobe Scherben, zerstiebt in unzählige feine Splitter. Es ist die Suppenterrine mit den aufgemalten Efeuranken. War es. Die Hühnerfleischbrühe, die Anna in stundenlanger Arbeit aus Haut, Knochen, Krallen und Suppengrün zubereitet hat, breitet sich wie eine Pfütze schmutzigen Aufwischwassers auf den erst vorgestern gewachsten und gebohnerten Dielen aus. All die mühsam murmelgroß geformten Grießklößchen springen zwischen Stuhl- und Tischbeine, kullern bis unter die Anrichte. Am Boden zerstört ist alles. Auch Anna. Herr Medizinalrat Dr. Büchner hat seiner Familie aus der Zeitung vorlesen wollen, wie er es oft vor dem Essen tut. Nur bis »getötet gefunden« ist er gekommen, da ist Anna das Malheur passiert. Nun sitzt er stumm am Tisch, hält die »Großherzoglich Hessische Zeitung« ausgebreitet in den erhobenen Händen, als müsse er das bedruckte Papier vor der Nässe bewahren. Er sieht so drein, wie er meistens dreinsieht und auch mit Vornamen heißt: Ernst. Anna steht starr, wartet vergeblich darauf, dass der Alptraum sich auflöst. Der alte Lust ermordet, die Terrine kaputt, die Suppe ungenießbar. Für den Moment weiß Anna nicht, was schlimmer...