Terkel | Giganten des Jazz | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Terkel Giganten des Jazz


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7317-0032-6
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-7317-0032-6
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Anfänge des Jazz und die Karrieren seiner ersten Stars waren wild: Bix Beiderbecke verlor häufiger einen Schneidezahn, den das Publikum dann suchen musste, denn ohne konnte er nicht weiter Trompete spielen. Joe Oliver, der King, machte sich nicht nur musikalisch breit: Mit zwei Litern Milch vertilgte er locker zwölf Hamburger. Dizzy Gillespie besorgte sich sein erstes Instrument im Pfandhaus. Und Billie Holiday kaufte von ihrer ersten Gage ein Sandwich und ein Hühnchen für ihre Mutter. Studs Terkel, der sich selbst als »Guerilla-Journalist« bezeichnete, kannte zahllose solcher Geschichten über die Größen der klassischen Jazz-Ära aus erster Hand, lernte er doch viele persönlich kennen. In seinen 13 virtuos geschriebenen und zeitlosen Porträts werden die Künstlerinnen und Künstler so lebendig, dass man glaubt, bei den vibrierenden Ursprüngen des Jazz in New Orleans, Chicago und New York dabei gewesen zu sein. Mitreißende Porträts von Joe Oliver, Louis Armstrong, Bessie Smith, Bix Beiderbecke, Fats Waller, Duke Ellington, Benny Goodman, Count Basie, Billie Holiday, Woody Herman, Dizzy Gillespie, Charlie Parker und John Coltrane. Mit Illustrationen von Robert Galster.

Studs Terkel (1912-2008) war ein preisgekrönter Radiomoderator und erfolgreicher Buchautor. Seine Interviews mit Amerikanern aller Schichten und Herkünfte, die über vierzig Jahre lang wöchentlich in dem Chicagoer Radiosender WFMT ausgestrahlt wurden, gelten als legendär. Er lebte in Chicago und war dort als junger Mann dabei, als sich die späteren Weltstars des Jazz im Dreamland Ballroom die Klinke in die Hand gaben.
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1 Joe Oliver, der King


Der wuchtige Mann mit dem traurigen Gesicht und der Narbe über dem linken Auge sang leise vor sich hin. In dem Billardsaal, in dem er als eine Art Aufseher beschäftigt war, sortierte er Kugeln ins Regal. Es war ein Aprilabend in Savannah im Bundesstaat Georgia. Man schrieb 1938.

»Ein schöner Blues, den du da singst, Joe«, sagte ein junger Poolspieler, während er seinen Queue einkreidete.

»Ich hab ihn geschrieben«, antwortete das Faktotum.

»Und ich bin Napoleon Bonaparte!«, spottete der junge Mann. »Als Nächstes erzählst du uns noch, dass auch das Stück, das gerade aus der Jukebox kommt, von dir ist, Joe!«

Der Mann, der auf den Namen Joe hörte, lächelte versonnen.

»Ist es auch.«

Der ganze Ballsaal lachte.

Die Platte, die sich in der Jukebox drehte, war »Sugarfoot Stomp« in der Version von Benny Goodman und seinem Orchester.

»Wirklich«, setzte der kräftige Mann in ernstem Ton hinzu. »Ich nannte es ›Dippermouth Blues‹. Sie haben ihm einen anderen Titel gegeben, aber es ist meine Nummer.«

»Erzähl uns mehr darüber, Papa Joe, erzähl uns mehr!«, frotzelte ein anderer und stieß dabei seinen Freund mit dem Ellenbogen an. Sie machten sich lustig über Joe Oliver, das Faktotum.

»›Papa Joe‹! So hat Louis mich immer genannt!«, murmelte Oliver vor sich hin.

»Welcher Louis?«

»Louis Armstrong. Er war mein Schüler.«

Brüllendes Gelächter im Billardsaal. Die Gäste schlugen sich auf die Schenkel und jauchzten. Das war lustiger als Kino.

Es war Mitternacht, als Joe Oliver, 53 Jahre alt, die Lichter ausmachte und die Eingangstür zum Billardsaal abschloss. Er tat einen Seufzer der Erschöpfung. Er war schrecklich müde. Um 9 Uhr morgens musste er wieder aufschließen.

Als er durch die lautlose Straße schlurfte, in der er sein möbliertes Zimmer hatte, dachte er an den »Dippermouth Blues«. Wie er Chorus für Chorus auf seinem gold glänzenden Kornett geblasen hatte! Das war, bevor ihm die Zähne ausgefallen waren, bevor er krank geworden war. Das war in einer Zeit gewesen, als man seinen Namen noch kannte.

In seiner Kammer setzte er sich hin und schrieb einen langen Brief an seine Schwester Victoria. Mit ihr wechselte er viele Briefe. Sie wusste, wer er war.

Sein ganzes Leben war Joe Oliver ein Optimist gewesen. Solange er zurückdenken konnte. Er legte den Stift zur Seite und starrte die nackte Wand an. Er lächelte, als Erinnerungen an seine Kinderzeit in New Orleans in ihm aufstiegen – das Bild eines pummeligen kleinen Jungen, der auf dem Bordstein saß. … Eine Blaskapelle marschierte vorbei.

Wann war das gewesen? 1895? 1896? So lange her, und dabei fühlte es sich so an, als sei es erst gestern gewesen …

Der zehnjährige Joe Oliver sprang freudig erregt hoch und rannte auf die Straße. Wie viele andere Kinder folgte er der Kapelle. Teenager und kleinere Jungen und Mädchen, aber auch Erwachsene liefen tanzend oder hüpfend hinter der Musik her. Sie bildeten die sogenannte »zweite Linie«.

In New Orleans liebten alle die Musik dieser Brass Bands. In den späten 1890er- und den frühen Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts fand fast jeden Tag eine Parade statt. Die Schwarzen, erst seit einer Generation vom Joch der Sklaverei erlöst, feierten ihre neu gefundene Freiheit in dieser Musik. Brass Bands spielten auf Jahrmärkten, an Feiertagen, bei Picknicks im Grünen und bei Beerdigungen. Zu so ziemlich jedem Anlass wurde Musik gespielt.

Bei Beerdigungen spielte die Kapelle auf dem Weg zum Friedhof ein getragenes Spiritual. Auf dem Rückweg ließen die Musiker jedoch ein fröhliches Stück erklingen. Das war keinesfalls als ein Mangel an Pietät zu verstehen! Dem Verstorbenen hatte man auf dem Weg zu seiner letzten Ruhestätte die Reverenz erwiesen. Auf dem Heimweg wurde Musik für die Lebenden gespielt. Das Leben ging weiter. Das wollte der Kornettist zum Ausdruck bringen, wenn er sein Instrument gen Himmel richtete und die Band ein ausgelassenes Marschlied anstimmte. Die wenigsten von diesen Musikern konnten Noten lesen. Sie spielten nach Gefühl, wie der Augenblick es ihnen eingab. Sie nahmen sich alle erdenklichen Freiheiten gegenüber dem ursprünglichen Werk heraus. Viele der Melodien, die sie spielten, kamen aus Europa, vorwiegend aus Frankreich und Spanien. Aus diesen Ländern stammten viele der frühen Einwanderer, die sich in Louisiana niedergelassen hatten. Die Rhythmen wiederum kamen aus Westafrika, aus den dortigen Küstenländern, wo die Vorfahren der Musiker im 17. und 18. Jahrhundert von Sklavenjägern verschleppt worden waren. Diese Mischung ergab eine Musik, wie noch niemand sie gehört hatte. Voller Schwung, Freiheit und Leichtigkeit. Die Erwachsenen und Kinder, die die »zweite Linie« bildeten, marschierten nicht einfach im Rhythmus der Musik mit, sie tanzten danach. Es war der Jazz in seinen Kinderschuhen.

Der kleine Joe Oliver tanzte verzückt hinter der letzten Reihe der Musiker und ahmte den Bandleader nach. Er hielt ein imaginäres Kornett in den Händen, betätigte mit seinen Fingern imaginäre Ventile und schickte imaginäre Töne gen Himmel.

»O Mann!«, murmelte der Kleine vor sich hin. »Wäre es nicht das Höchste, wenn ich einmal ein Instrument blasen und die ganze Stadt es hören würde! Eines Tages werden sie mich den König nennen, so wie Buddy Bolden!«

Bolden war der erste Kornettist aus New Orleans gewesen, der sich einen Namen erspielt hatte. In den späten 1890er-Jahren marschierte er häufig an der Spitze seiner Kapelle durch die Straßen der Stadt. Derjenige, der dem Kornett die höchsten und schönsten Töne entlocken konnte, durfte den Beinamen »King« tragen. Buddy Bolden war zu jener Zeit der unumstrittene König.

Es könnte das Jahr 1898 gewesen sein, als der dreizehnjährige Joe Oliver ein verbeultes Kornett ergatterte und sich das Spielen darauf beibrachte. Es ging langsam voran, aber er gab nicht auf. Er lernte das Notenlesen! Mit großer Mühe entzifferte er die aufs Papier gedruckten Melodien. Das Lesen fiel ihm nicht leicht.

Eines Tages stellte sich Walter Kenchen, ein Musiklehrer, bei Joes Mutter vor. »Mrs. Oliver, ich würde den kleinen Joe gerne in meine Blaskapelle aufnehmen. Würden Sie das erlauben?«

»Aber er ist erst vierzehn!«, antwortete Mutter Oliver.

»Es ist eine Kinderband. Sie sind alle aus unserem Viertel«, erklärte der Lehrer.

»Ist er denn gut genug?«, wollte Mrs. Oliver wissen.

Joe mischte sich ein. »Mama, was denkst du? Ich werde der Kornett King von New Orleans sein! Lass mich mitspielen, lass mich mitspielen!«

Mr. Kenchen klopfte dem Jungen sacht auf die Schulter.

»Es ist noch ein weiter Weg dorthin, Joe. Du musst noch eine Menge dazulernen auf deinem Instrument. Aber du gibst dir große Mühe, das kann ich zu deinen Gunsten sagen.«

Mit der Kinderband trat Joe Oliver in mehreren Städten Louisianas auf. Auf einer dieser Fahrten nach Baton Rouge hatte er einen Unfall: Ein Besenstiel verletzte ihn über dem linken Auge. Die Platzwunde ließ eine Narbe zurück, die ihm bis an sein Lebensende erhalten blieb.

Joes Mutter starb schon 1900. Von da an war es seine Schwester Victoria, die sich am intensivsten um sein Wohlergehen kümmerte und die über all die Jahre eine treue Freundin ihres jüngeren Bruders blieb.

In den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts spielte Joe bei etlichen Brass Bands; er konnte das Kornett laut und lange blasen. Einen seiner ersten Jobs hatte er bei der Onward Brass Band unter Manuel Perez. Hier fingen aber auch schon seine Probleme an. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, präzise nach gedruckten Noten zu spielen, dass es ihn irritierte, wenn die anderen improvisierten.

»Pack lieber ein und geh nach Hause, Joe!«, sagten die anderen. »Du spielst zu laut und zu schlecht.«

Oliver war niedergeschlagen. Er wusste, sie hatten recht. Zum Jazz gehört mehr als nur eine Melodie, die auf einem Blatt Papier steht, Note für Note nachzuspielen. Joe wusste nur zu gut, dass noch etwas dazukommen musste, nämlich ein Gefühl von Freiheit.

»Du musst das rauslassen, was in dir ist«, sagte ihm Bunk Johnson. Von Bunk, für den er einige Male einsprang, lernte Joe, wie wichtig es für Jazzmusiker war, sich freizuspielen, bis es »swingte«.

In der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts arbeitete Oliver als Butler. Mit dem Spielen in Brass Bands konnte man nicht genug Geld verdienen, um sich und seine Familie zu ernähren. Joe war inzwischen verheiratet; seine Frau Stella hatte eine Tochter aus einer früheren Ehe.

Joe Oliver war ein guter Butler, aber ein noch viel besserer Kornettist. Unablässig übte er, unablässig hörte er den anderen...


Terkel, Studs
Studs Terkel (1912–2008) war ein preisgekrönter Radiomoderator und erfolgreicher Buchautor. Seine Interviews mit Amerikanern aller Schichten und Herkünfte, die über vierzig Jahre lang wöchentlich in dem Chicagoer Radiosender WFMT ausgestrahlt wurden, gelten als legendär. Er lebte in Chicago und war dort als junger Mann dabei, als sich die späteren Weltstars des Jazz im Dreamland Ballroom die Klinke in die Hand gaben.

Studs Terkel (1912–2008) war ein preisgekrönter Radiomoderator und erfolgreicher Buchautor. Seine Interviews mit Amerikanern aller Schichten und Herkünfte, die über vierzig Jahre lang wöchentlich in dem Chicagoer Radiosender WFMT ausgestrahlt wurden, gelten als legendär. Er lebte in Chicago und war dort als junger Mann dabei, als sich die späteren Weltstars des Jazz im Dreamland Ballroom die Klinke in die Hand gaben.



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