E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Piper Schicksalsvoll
Temple Der Tanz des Maori
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-98453-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Neuseeland-Roman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Piper Schicksalsvoll
ISBN: 978-3-492-98453-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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NEUSEELAND, SÜDINSEL, 1995
1.
Sein dunkles Gesicht war nass, die Augen weit aufgerissen. Er trommelte sich auf seine Brust, schrie und stampfte dazu auf den Boden. Die schwarzen Haare lagen in feuchten Locken um sein Gesicht, während ihm der Regen ins Gesicht peitschte. Er brüllte etwas Unverständliches. Es klang wie eine Kampfansage. Aus den dunklen Wolken schüttete es, ein Blitz zuckte über den Himmel, während der Mann im hohen Gras drohend zwei Schritte in ihre Richtung machte …
Sina schreckte hoch und starrte in die Dunkelheit. Regen prasselte gegen die Zeltplane, in der Ferne grollte ein Donner. Neben ihr atmete Katharina tief und ruhig. Ihr Gesicht, umrahmt von dunklem Haar, war in der schwachen Beleuchtung nur ein heller Fleck. Benommen schüttelte Sina den Kopf. Sie hatte nur einen üblen Traum gehabt, kein Grund, sich aufzuregen. Das hier war der lang ersehnte Traumurlaub in Neuseeland. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Katharina wanderte sie durch ein märchenhaftes Tal im Schatten der Farnbäume an dem kleinen Fluss Mohikinui entlang. Trotzdem: Der Eindruck aus dem lebhaften Traum ließ sich so schnell nicht vertreiben. Immer noch sah sie das dunkle Gesicht des wütenden Mannes vor sich.
Ein weiteres Donnern, diesmal lauter, ließ sie zusammenzucken. Direkt danach schien der Regen noch heftiger zu werden. Sina seufzte leise. Hier an der Westküste änderte sich das Wetter ständig, und leider regnete es viel zu häufig für ihren Geschmack. Sie konnte sich jetzt nicht einmal vor dem Zelt einen Tee zur Beruhigung machen – so wie sich das Prasseln anhörte, war man im Freien innerhalb von Sekunden bis auf die Haut durchnässt.
Woher kam nur dieser Traum, der sie seit ihrer Ankunft vor zwei Wochen in Neuseeland quälte? Immer wieder wachte sie auf, immer an der gleichen Stelle – wenn der geheimnisvolle Mann im Regen drohend auf sie zukam.
Sie sah erneut zu Katharina hinüber, die immer noch selig schlief. Von dieser Reise hatten sie geträumt, seitdem sie sich im ersten Semester an der Universität kennengelernt hatten. Sie erinnerte sich noch gut an den Moment, als sie nebeneinander in der Schlange an der Mensa standen und Katharina nachdenklich die bräunliche Masse auf ihrem Teller betrachtet hatte. »Billig und sättigend. Was will ich mehr?«, hatte sie gemurmelt.
»Geschmack wäre kein Fehler«, war damals Sinas Antwort gewesen. Wenig später saßen sie gemeinsam mit ihrem »Rahmgulasch« an einem der langen Tische und hatten sich über die Suche nach einer bezahlbaren Wohnung und den Kampf um einen Platz in einem Seminar unterhalten. Es dauerte nicht lange und sie wussten, dass sie einen gemeinsamen Traum hatten: Einmal im Leben für ein paar Monate nach Neuseeland! Sina hatte diesen Traum, seit sie in einem Bildband ein paar Fotos von klaren Fjorden und verwunschenen Buchten gesehen hatte. Ihr war damals so, als ob diese Landschaft sie rufen würde, wie ein vertrautes, aber vergessenes Haus. Katharinas Gründe waren simpler. Sie wanderte für ihr Leben gern, die Trecks, die kreuz und quer über die beiden Pazifikinseln führten, bedeuteten für Katharina das Paradies.
Es vergingen ein paar Jahre, bis sie es endlich geschafft hatten: Drei Monate lang wollten sie hierbleiben, mitten im deutschen Winter genossen sie das Land ihrer Träume … Und ausgerechnet jetzt wurden ihre Träume von einem immer wiederkehrenden Albtraum begleitet. Dabei hatte sie noch nie Probleme mit Ängsten und Träumen gehabt. Eher im Gegenteil: Ihre Mutter hatte sie immer lachend »meine nüchterne Tochter« genannt – und sie hatte sich mit ihrem Medizinstudium ganz bewusst für eine Naturwissenschaft entschieden. In der Medizin ging es um Fakten, Zahlen und Formeln – nicht um Philosophien und Meinungen. Ihre Freundin Katharina war da ganz anders: Sie studierte Politik und Soziologie und konnte sich stundenlang über irgendwelche Gesellschaftstheorien auslassen.
Ein Blitz erhellte das Zelt, Bruchteile von Sekunden später beendete ein lauter Donnerschlag sogar Katharinas legendär festen Schlaf. Mit einem Schreckenslaut richtete sie sich auf.
»Was war das denn?«
Sina zuckte mit den Schultern – eine überflüssige Bewegung, in dem Zelt konnte man nur Schemen erkennen.
»Ein Unwetter an der Westküste. Hat man uns davor nicht gewarnt?«
»Vielleicht hört es ja bis morgen früh wieder auf?« Katharinas verschlafene Stimme klang hoffnungsvoll.
»Sicher«, grinste Sina. »Es könnte aber auch sein, dass es eine Woche lang nicht mehr aufhört. Alles ist möglich am anderen Ende der Welt …«
Als wollte er antworten, wurde der Regen erneut stärker, das Prasseln auf der Zeltplane wurde zu einem ohrenbetäubenden Lärm. Dazu mischte sich ein beunruhigendes Rauschen. Misstrauisch lauschte Sina. Was konnte das jetzt schon wieder sein? Vorsichtig kroch sie durch das Vorzelt, griff nach dem Reißverschluss und öffnete ihn einen winzigen Spalt, um mit einer Taschenlampe in die finstere Nacht hinauszuleuchten. Der Himmel hatte alle seine Schleusen geöffnet, die Gräser lagen flach auf dem Boden. Nichts erinnerte mehr an die herb-schöne Landschaft des Vorabends. Sie hatten sich herumliegendes Holz zusammengesammelt, ein kleines Lagerfeuer gemacht und in den Nachthimmel gesehen, während es allmählich dunkler wurde. Jetzt war von der Feuerstelle kaum noch etwas zu sehen. Stattdessen der Bach, der zu einem reißenden Wildflüsschen angeschwollen war. Täuschte sie sich, oder war er breiter geworden? Dann bemerkte sie die breiten Rinnsale, die sich links und rechts von ihrem Zelt ihren Weg bahnten, um sich mit dem Bach zu vereinigen – und das Rauschen wurde immer lauter. Erschrocken zog Sina den Reißverschluss wieder hoch und drehte sich zu Katharina um.
»Wenn mich nicht alles täuscht, dauert es nur noch ein paar Minuten, und wir zelten mitten in einem Flussbett!« Sie bemühte sich, keine Panik in ihrer Stimme zu zeigen. Möglichst ruhig redete sie weiter. »Was sollen wir jetzt nur tun?«
Katharina konnte ihre Gefühle schwerer verbergen. »Bist du dir sicher? Dann müssen wir fliehen! Wir könnten in diesem Zelt ertrinken!«
»Aber wohin?«, gab Sina zu bedenken. »Den letzten Unterstand haben wir vor ein paar Stunden gesehen. Eine Straße ist zwar ziemlich nah, aber an diesem gottverlassenen Ende der Welt wird wohl kaum jemand vorbeikommen!«
Für eine Sekunde hörte man in dem Zelt nur das Geräusch des Regens. Dann räusperte Katharina sich. »Vielleicht hält das Zelt ja dicht? Dann können wir warten, bis es hell wird, und uns dann zur Straße durchschlagen. Irgendwann im Laufe des Tages wird schon jemand vorbeikommen.«
Sina versuchte, sich an die Gebrauchsanweisung des Zeltes zu erinnern. Sie war sich sicher, dass sie sie durchgelesen hatte – sie las jede Gebrauchsanweisung durch. Sogar die von einem Toaster. Ihr letzter Freund hatte sich in einem fort darüber lustig gemacht. Aber jetzt war dieser kleine Tick ziemlich nützlich. »Keine Ahnung, ob das wirklich dicht hält – aber bis zu etwa zehn Zentimeter Höhe sitzen wir in einer Art Gummiwanne. Und von oben schützt uns das Zelt vor dem Regen. Wahrscheinlich ist es besser, hier drin zu sitzen, als ungeschützt auf der Wiese zu stehen.«
Die nächsten Minuten drängten sie sich in der Mitte ihres kleinen Kuppelzeltes aneinander und überprüften immer wieder, ob nicht doch schon Wasser ins Innere drang. Aber der Verkäufer in dem kleinen Outdoor-Laden hatte nicht zu viel versprochen, als er ihr das Zelt wegen seiner »Allwettertauglichkeit« empfohlen hatte. Sie blieben im Trockenen sitzen. Worte fielen wenige. Sie waren zu müde und zu ängstlich, nickten immer wieder ein, um dann beim nächsten Donner wieder aufzufahren und erneut die Wasserfestigkeit ihres Zeltes zu überprüfen. Eine gefühlte Ewigkeit später dämmerte es draußen, und der Regen wurde etwas schwächer.
Sina wagte einen weiteren Blick vor die Zelttür – und musste kichern, als sie sah, wo ihr Zelt inzwischen stand: inmitten des inzwischen gar nicht mehr kleinen Baches, der etwa knöcheltief um ihr Zelt herumfloss. Sie hatten ihr Zelt hinter einem Busch aufgeschlagen, der sie jetzt vor der stärksten Strömung bewahrte. Der Himmel war immer noch grau verhangen, ein scharfer Wind zerrte an den Zeltplanen.
»Ich glaube, es hat keinen Sinn mehr, noch länger zu warten«, beschloss Sina. »Wir sollten zusammenpacken und möglichst schnell ein trockenes Plätzchen finden.«
Katharina nickte. »Okay. Vielleicht gibt es an deinem trockenen Plätzchen sogar einen heißen Kaffee …«
Die Rucksäcke hatten sie am Abend unter dem Vorzelt verstaut – für diese großen Trumms gab es einfach keinen Platz im Inneren des Zeltes. Aber das Vorzelt hatte das Wasser, wie sie jetzt entsetzt feststellen mussten, nicht so zuverlässig abgewiesen. Ihre Rucksäcke waren tropfnass und zentnerschwer. Sina wollte sich nicht einmal vorstellen, dass von der letzten Unterhose bis zum dicken Wollpulli jetzt wahrscheinlich einfach alles tropfte. Wie sollten sie nur die nächsten Tage halbwegs trocken überstehen? Schweigend stopften sie ihre feuchten Schlafsäcke dazu. Sie packten das Zelt zusammen. Dann zwängten sie ihre nassen Füße in die klammen Wanderstiefel, schlüpften in die atmungsaktiven, tropfenden Regenjacken und schulterten die Rucksäcke. Katharina fluchte in der nächsten Stunde nur ab und zu leise vor sich hin – sie war ohne einen Kaffee zum Frühstück ohnehin nicht zu genießen. Sina setzte einfach einen Fuß vor den anderen und hoffte auf ein Wunder.
Als sie am Vortag im strahlenden Sonnenschein die kleine Straße passiert hatten, war es Sina so vorgekommen, als ob sie nur wenige Minuten später das Zelt...