Teller Nichts
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-446-23682-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was im Leben wichtig ist. Roman
E-Book, Deutsch, 144 Seiten, Format (B × H): 1 mm x 2 mm, Gewicht: 1 g
ISBN: 978-3-446-23682-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Janne Teller, 1964 in Kopenhagen geboren, arbeitete als Konfliktberaterin der EU und UNO in aller Welt, besonders in Afrika. Seit 1995 widmet sie sich ganz dem Schreiben und lebt heute in New York und Berlin. Für ihr literarisches Schaffen wurde Janne Teller vielfach ausgezeichnet. In ihrem Werk, das neben Romanen für Erwachsene auch Essays, Kurzgeschichten und Jugendbücher umfasst, kreist sie stets um die großen Fragen im Leben und löst mit gesellschaftskritischen Themen nicht selten stürmische Debatten aus. Für Erwachsene hat Janne Teller die zeitgenössische nordische Saga 'Odins Insel' geschrieben sowie die Liebesgeschichte 'Europa. Alles, was dir fehlt' und zuletzt 'Komm' über Ethik in der Kunst und in unserer modernen Gesellschaft (Hanser, 2012). Für Jugendliche erschien der viel diskutierte, preisgekrönte internationale Bestseller 'Nichts - was im Leben wichtig ist' (Hanser, 2010), die Erzählung 'Krieg, stell dir vor, er wäre hier' (Hanser, 2011) und 'Alles - worum es geht' (Hanser, 2013). Janne Tellers Literatur ist in 25 Sprachen übersetzt.
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II
Pierre Anthon verließ an dem Tag die Schule, als er herausfand, dass nichts etwas bedeutete und es sich deshalb nicht lohnte, irgendetwas zu tun.Wir anderen blieben.Und auch wenn die Lehrer sich bemühten, rasch hinter ihm aufzuräumen – sowohl im Klassenzimmer als auch in unseren Köpfen –, so blieb doch ein bisschen von Pierre Anthon in uns hängen. Vielleicht kam deshalb alles so, wie es kam.Es war in der zweiten Augustwoche. Die Sonne brannte und machte uns faul und leicht reizbar, der Asphalt klebte an den Sohlen unserer Turnschuhe, und die Äpfel und Birnen waren gerade eben so reif, dass sie perfekt als Wurfgeschoss in der Hand lagen. Wir schauten weder links noch rechts. Der erste Schultag nach den Sommerferien. Das Klassenzimmer roch nach Reinigungsmitteln und langem Leerstehen, die Fensterscheiben warfen gestochen scharfe Spiegelbilder, und an der Tafel hing kein Kreidestaub. Die Tische standen in Zweierreihen so gerade wie Krankenhausflure und wie sie es nur an ebendiesem einen Tag im Jahr tun. Klasse 7?A.
Wir gingen zu unseren Plätzen, ohne uns über die vorgegebene Ordnung aufzuregen.Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Unordnung. Aber nicht heute!Eskildsen begrüßte uns mit demselben Witz wie in jedem Jahr.
»Kinder, freut euch über den heutigen Tag«, sagte er. »Ohne Schule gäbe es auch keine Ferien.«
Wir lachten. Nicht, weil wir das witzig fanden, sondern weil er es sagte.Genau da stand Pierre Anthon auf.
»Nichts bedeutet irgendetwas«, sagte er. »Das weiß ich schon lange. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun. Das habe ich gerade herausgefunden.« Ganz ruhig bückte er sich und packte die Sachen, die er gerade herausgenommen hatte, wieder in seine Tasche. Mit gleichgültiger Miene nickte er uns zum Abschied zu und ging hinaus, ohne die Tür hinter sich zu schließen.Die Tür lächelte. Es war das erste Mal, dass ich sie das tun sah. Mir kam die angelehnte Tür wie ein breit grinsendes Maul vor, das mich verschlingen würde, wenn ich mich dazu verlocken ließ, Pierre Anthon nach draußen zu folgen. Wem lächelte es zu? Mir, uns allen. Ich sah mich in der Klasse um, und die ungemütliche Stille sagte mir, dass die anderen es auch bemerkt hatten.
Aus uns sollte etwas werden. Etwas werden bedeutete jemand werden, aber das wurde nicht laut gesagt. Es wurde auch nicht leise gesagt. Das lag einfach in der Luft oder in der Zeit oder im Zaun rings um die Schule oder in unseren Kopfkissen oder in den Kuscheltieren, die, nachdem sie ausgedient hatten, ungerechterweise irgendwo auf Dachböden oder in Kellern gelandet waren, wo sie Staub ansammelten. Ich wusste es nicht. Pierre Anthons lächelnde Tür erzählte es mir. Mit dem Kopf wusste ich es immer noch nicht, aber trotzdem wusste ich es.Ich bekam Angst. Angst vor Pierre Anthon.
Angst. Mehr Angst. Am meisten Angst. Wir lebten in Tæring, einem Vorort einer mittelgroßen Provinzstadt. Er war nicht vornehm, aber ziemlich. Daran wurden wir oft erinnert, auch wenn es nicht laut gesagt wurde. Auch nicht leise. Ordentlich gemauerte, gelb verputzte Häuschen und rote Eigenheime mit Gärten ringsum, neue graubraune Reihenhäuser mit Vorgärten, und dann die Wohnungen, wo die wohnten, mit denen wir nicht spielten. Es gab auch ein paar alte Fachwerkhäuser und ehemalige Bauernhöfe, deren Land eingemeindet worden war, und einige wenige weiße Villen, wo die wohnten, die noch mehr ziemlich vornehm waren als wir anderen.
Die Schule von Tæring lag an einer Ecke, wo zwei Straßen aufeinandertreffen. Alle, bis auf Elise, wohnten an der einen, dem Tæringvej. Elise machte manchmal einen Umweg, um mit uns anderen zur Schule zu gehen. Jedenfalls bis Pierre Anthon nicht mehr zur Schule ging.Pierre Anthon wohnte mit seinem Vater und der Kommune im Tæringvej Nr.25, einem ehemaligen Bauernhof. Pierre Anthons Vater und die Kommune waren Hippies, die in den Achtundsechzigern stecken geblieben waren. Das sagten unsere Eltern, und auch wenn wir nicht richtig wussten, was das bedeutete, sagten wir das auch. Im Vorgarten dicht an der Straße stand ein Pflaumenbaum. Der Baum war groß und alt und krumm und neigte sich über die Hecke und lockte mit bereift-staubigen Victoria-Pflaumen, die für uns unerreichbar waren. In vergangenen Jahren waren wir hochgesprungen, um sie zu erwischen. Damit hörten wir auf. Pierre Anthon war von der Schule abgegangen, um im Pflaumenbaum zu sitzen und mit unreifen Pflaumen zu werfen. Manche trafen uns. Nicht, weil Pierre Anthon auf uns zielte, das sei die Mühe nicht wert, beteuerte er. Der Zufall wolle es halt so.
Und er rief hinter uns her.»Alles ist egal«, schrie er eines Tages. »Denn alles fängt nur an, um aufzuhören. In demselben Moment, in dem ihr geboren werdet, fangt ihr an zu sterben. Und so ist es mit allem.«