Teismann / Koban / Illes Psychotherapie suizidaler Patienten
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8409-2584-9
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Therapeutischer Umgang mit Suizidgedanken, Suizidversuchen und Suiziden
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: Therapeutische Praxis
ISBN: 978-3-8409-2584-9
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Etwa 10.000 Menschen sterben in Deutschland jedes Jahr an einem Suizid. Ein großer Teil der Suizide wird im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen verübt. Das empathische Verstehen der Innenwelt einer suizidalen Person, der Kontaktaufbau, die Beurteilung des aktuellen Suizidrisikos, die Einschätzung der Distanzierungs- und Absprachefähigkeit sowie die Behandlung suizidalen Erlebens und Verhaltens gehören zu den schwersten und gleichzeitig verantwortungsvollsten Aufgaben und Herausforderungen für professionelle Helfer. Das Buch bietet einen praxisorientierten Leitfaden für den therapeutischen Umgang mit Suizidgedanken und Suizidversuchen.
Der Band liefert zunächst epidemiologische, ätiologische und diagnostische Informationen zum Verstehen und Erkennen suizidaler Entwicklungen und Krisen. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf der Darstellung von Strategien und Methoden der Risikoabschätzung, Krisenintervention und Psychotherapie bei suizidalen Erwachsenen, Kindern, Jugendlichen und alten Menschen. Neben verschiedenen Verfahren zur Einschätzung der Suizidgefährdung, zur Feinsteuerung der therapeutischen Beziehung, zur Optimierung der motivationalen Ausgangslage und zur Krisenintervention bei akuter sowie hochakuter Suizidalität, wird der Umgang mit suizidalem Erleben und Verhalten in der kognitiven Therapie, der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) und dem Cognitive-Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) aufgezeigt. Das therapeutische Vorgehen wird anhand zahlreicher Fallbeispiele veranschaulicht. Schließlich wird ein Überblick über Strategien der Postvention gegeben, die mögliche negative Auswirkungen bei Mitbetroffenen eines Suizides verringern sollen, und es werden rechtliche Aspekte im Umgang mit suizidalen Patienten erläutert.
Zielgruppe
Ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten, Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinische Psychologen, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Psychologische Berater, Studierende und Lehrende in der psychotherapeutischen Aus-, Fort- und Weiterbildung.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Psychotherapie suizidaler Patienten;1
1.1;Inhaltsverzeichnis;7
1.2;Vorwort;11
2;Kapitel 1: Definitionen, Häufigkeit und Risikofaktoren;13
2.1;1.1Definition und Klassifikation suizidalen Erlebens und Verhaltens;13
2.2;1.2Epidemiologie;18
2.3;1.3Verlauf suizidaler Krisen;19
2.4;1.4Risiko- und Schutzfaktoren;20
2.5;1.5Komorbidität;26
2.5.1;1.5.1Unipolare Depression;26
2.5.2;1.5.2Bipolare affektive Störungen;27
2.5.3;1.5.3Schizophrenie;28
2.5.4;1.5.4Suchtmittelstörungen;28
2.5.5;1.5.5Borderline-Persönlichkeitsstörungen;29
2.5.6;1.5.6Anorexia nervosa;30
2.5.7;1.5.7Posttraumatische Belastungsstörung;30
2.5.8;1.5.8Störung des Sozialverhaltens;31
2.5.9;1.5.9Fazit;32
3;Kapitel 2: Psychologische Erklärungsmodelle;33
3.1;2.1Kognitives Modell suizidaler Handlungen;34
3.2;2.2Cry of Pain-Modell;35
3.3;2.3Interpersonale Theorie suizidalen Verhaltens;37
3.4;2.4Integratives motivational-volitionales Modell suizidalen Verhaltens;40
3.5;2.5Fazit;41
4;Kapitel 3: Diagnostik und Risikoabschätzung;42
4.1;3.1Allgemeine Hinweise zur Risikoabschätzung;42
4.2;3.2Einschätzung von Risikofaktoren;43
4.3;3.3Einschätzung von protektiven Faktoren;46
4.4;3.4Bestimmung des Suizidrisikos;46
4.5;3.5Indikation für die Durchführung einer Risikoabschätzung;50
4.6;3.6Spezielle Modelle zur Risikoabschätzung;50
4.7;3.7Diagnostikinstrumente zur Einschätzung der Suizidgefährdung;54
5;Kapitel 4: Krisenintervention bei akuter Suizidalität;56
5.1;4.1Therapeutische Beziehung;58
5.2;4.2Reflexion/Ambivalenzklärung;62
5.3;4.3Förderung der Selbstkontrolle;69
5.4;4.4Allgemeine Strategien der Krisenintervention;75
5.5;4.5Entscheidung über das Setting;80
6;Kapitel 5: Krisenintervention bei hochakuter Suizidalität;85
7;Kapitel 6: Kognitive Therapie suizidaler Handlungen;90
7.1;6.1Kognitive Therapie suizidalen Verhaltens;90
7.2;6.2Attempted Suicide Short Intervention Programm (ASSIP);105
8;Kapitel 7: Dialektisch-Behaviorale Therapie bei Suizidalität;107
8.1;7.1Einleitung;107
8.2;7.2Störungsmodell;108
8.3;7.3Behandlungsmodell;108
9;Kapitel 8: Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy bei Suizidalität;127
9.1;8.1Hintergrund: CBASP und Suizidalität;127
9.2;8.2Liste prägender Bezugspersonen mit Übertragungshypothese;128
9.3;8.3Kiesler Kreis;130
9.4;8.4Diszipliniertes persönliches Einlassen mit interpersonellen Diskriminationsübungen;132
9.5;8.5Situationsanalyse;133
9.6;8.6Zusammenfassung;135
10;Kapitel 9: Umgang mit Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen;136
10.1;9.1Epidemiologie und Risikofaktoren;136
10.2;9.2Besonderheiten im therapeutischen Umgang mit suizidalen Kindern und Jugendlichen;137
10.3;9.3Spezielle Behandlungsansätze;143
11;Kapitel 10: Umgang mit Suizidalität bei alten Menschen;149
11.1;10.1Epidemiologie und Risikofaktoren;149
11.2;10.2Besonderheiten im therapeutischen Umgang mit suizidalen alten Menschen;150
11.3;10.3Dialektisch-Behaviorale Therapie für ältere Depressive;152
12;Kapitel 11: Effektivität;156
12.1;11.1Psychotherapeutische Interventionen;156
12.2;11.2Pharmakologische Interventionen;160
13;Kapitel 12: Postvention;162
13.1;12.1Angehörige als Mitbetroffene;162
13.2;12.2Mitpatienten als Mitbetroffene;171
13.3;12.3Professionelle Helfer als Mitbetroffene;172
14;Kapitel 13: Rechtliche Situation;179
14.1;13.1Rechtliche Grundlagen der Handlungsoptionen bei akuter Suizidalität Erwachsener;179
14.2;13.2Rechtliche Grundlagen der Handlungsoptionen bei akuter Suizidalität von Kindern und Jugendlichen;182
15;Literatur;184
16;Anhang;203
16.1;Fragen zur Risikoabschätzung;205
Kapitel 3 Diagnostik und Risikoabschätzung (S. 40-41)
Die Risikoabschätzung basiert auf den Annahmen der in Kapitel 2 beschriebenen theoretischen Modelle und dem grundsätzlichen Wissen um Risiko- und Schutzfaktoren für suizidales Erleben und Verhalten. Im Folgenden werden zunächst allgemeine Hinweise zur Risikobschätzung gegeben, bevor mit dem „Collaborative Assessment and Managment of Sucidiality“ von Jobes (2006) und dem „Chronological Assessment of Suicidal Events“ von Shea (2011) zwei spezifische Verfahren zur Risikoabschätzung vorgestellt werden. Abschließend wird kurz auf Fragebogen- und Interviewverfahren eingegangen.
3.1 Allgemeine Hinweise zur Risikoabschätzung
Das Ziel eines jeden Kontaktes mit einer suizidgefährdeten Person besteht darin, das aktuelle Ausmaß suizidalen Erlebens und Verhaltens zu erfassen und die Distanzierungs- und Absprachefähigkeit der Person einzuschätzen. Todeswünsche und Suizidgedanken sollten hierbei immer offen und mit konkreten Worten angesprochen werden. Die Risikoabschätzung ist ein zu ernstes Thema, als dass Raum für Missverständnisse gegeben werden darf! Ohnehin ist es ein Mythos anzunehmen, dass man Patienten auf die Idee bringt, sich umzubringen, wenn man sie auf Suizidgedanken und -pläne anspricht. Diagnostische Fragen stellen vielmehr wirkungsvolle Interventionen dar, durch welche Isolation und Einengung begrenzt werden können (vgl. auch den Leitfaden mit Fragen zur Risikoabschätzung im Anhang, S. 203).
Mythos: „Wenn man Menschen auf Suizidgedanken anspricht, bringt man sie erst auf die Idee.“
Gould und Kollegen (2005) konnten diese Befürchtung in einer groß angelegten Fragebogenstudie bei Jugendlichen (N = 2.342, 13 bis 19 Jahre) eindrücklich entkräften. Im Rahmen dieser Untersuchung wurden alle teilnehmenden Schüler zu zwei Zeitpunkten im Abstand von einer Woche nach ihrem Befinden befragt. Eine Hälfte der Schüler wurde zu beiden Messzeitpunkten nach Suizidgedanken befragt, während die andere Hälfte nur zum zweiten Zeitpunkt zu Suizidgedanken befragt wurde. Wenn Fragen nach Suizidgedanken selbige tatsächlich bedingen oder verstärken können, dann sollten die Schüler, die zweimal nach Suizidgedanken befragt wurden, zum zweiten Messzeitpunkt in stärkerem Maße suizidal sein als die Schüler, die nur einmal gefragt wurden. Tatsächlich fand sich zwischen den beiden Gruppen jedoch kein Unterschied bezüglich des Grades allgemeiner Belastung und Suizidgedanken. Im Gegenteil äußerten jene Schüler, die in der ersten Erhebung depressive Symptome und/oder suizidales Erleben und Verhalten geschildert hatten, weniger Belastung und weniger Suizidgedanken bei der zweiten Erhebung.
Deuten sich im Gespräch Hinweise auf Lebensmüdigkeit oder Suizidabsichten an, so sollten diese also unmittelbar thematisiert und expliziert werden (Teismann & Dorrmann, 2014):
–– Ihr Leben ist gerade wirklich extrem schwierig!
… Ich kenne andere Menschen, die sich bereits in einer weniger zugespitzten Situation nicht mehr sicher waren, ob sie überhaupt noch leben möchten – wie ist das denn bei Ihnen?
–– Gibt es derzeit Momente, in denen Sie sich wünschen, lieber tot zu sein?
–– Denken Sie daran, sich das Leben zu nehmen/ sich selbst zu töten?
Bejaht der Patient eine solche Frage oder lassen andere Reaktionsweisen das Vorhandensein von Suizidgedanken vermuten, sollte sich eine weiterführende Exploration anschließen. Vage Antworten wie „nicht wirklich“ und mimische und gestische Reaktionen/Veränderungen in Reaktion auf die Frage nach Suizidgedanken müssen sorgfältig beobachtet, aufgegriffen und vorsichtig angesprochen werden:
–– Was meinen Sie mit „nicht wirklich“?
–– Was geht denn gerade in Ihnen vor?
Grundsätzlich ist sorgfältig auf Ambivalenzen des Patienten acht zu geben (vgl. Kapitel 4.2): So kann die Erleichterung und der Wunsch, über Suizidimpulse zu sprechen, immer wieder auch durch Befürchtungen bezüglich potenziell negativer Konsequenzen ehrlicher Antworten (z. B. in Form einer stationären Einweisung) torpediert werden. Phasen des offenen Austauschs können sich daher mit abweisenden Reaktionen des Patienten abwechseln. In Anbetracht von Schamgefühlen bei der Offenbarung suizidaler Intentionen ist es schließlich hilfreich, proaktiv zu normalisieren:
–– Es ist absolut menschlich, dass Ihnen in dieser Situation die Frage durch den Kopf geht, ob Sie noch weiterleben möchten. Ich finde das sehr nachvollziehbar und überhaupt nicht verwunderlich!
–– Viele Menschen erwägen im Laufe ihres Lebens die Möglichkeit einer Selbsttötung.
–– Gerade nach traumatischen Erlebnissen/in Anbetracht massiver Schmerzen/der Diagnose einer solchen Erkrankung usw. ist es nicht unnormal, an einen Suizid zu denken.
Sollten Patienten fürchten, dass die Offenbarung von Suizidgedanken unmittelbare Zwangsmaßnahmen nach sich zieht, können psychoedukative Hinweise zum therapeutischen Umgang mit Suizidabsichten hilfreich sein (vgl. Kapitel 4.1).
3.2 Einschätzung von Risikofaktoren
In Abhängigkeit davon, ob die suizidale Person dem Kliniker bereits bekannt ist, also auch schon Vorwissen zur Lebensgeschichte, psychischen und körperlichen Erkrankungen sowie aktuellen Stressoren besteht, oder es sich um eine unbekannte Person handelt, die beispielsweise im Rahmen eines Erstgesprächs, einer Krisenintervention oder einer Konsiliaruntersuchung gesehen wird, nimmt die Risikoabschätzung naturgemäß einen unterschiedlichen Verlauf. Wird es im einen Fall zunächst darum gehen, Informationen über das Vorliegen psychischer Störungen (akut und/oder lifetime), die Lebenssituation des Patienten und aktuelle krisenhafte Erlebnisse (z.?B. Todesfälle, Trennungen, Verluste, familiäre Konflikte, Arbeitslosigkeit, finanzielle Engpässe, anstehende Inhaftierung, Obdachlosigkeit, akute und/oder chronische Erkrankungen, Traumatisierungen) zu erhalten, kann im anderen Fall unmittelbar mit der Exploration der akuten Suizidalität begonnen werden. Hier muss direkt nach Suizidgedanken, Suizidplänen, vorbereitenden Verhaltensweisen und Suizidversuchen gefragt werden. Im Folgenden werden mögliche Fragen genannt (Dorrmann, 2012; Teismann & Dorrmann, 2014):