Teir | So also endet die Welt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Teir So also endet die Welt

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-21922-2
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-641-21922-2
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Julia und Erik, Mitte dreißig, verbringen die Ferien mit ihren Kindern im Sommerhaus an der Westküste Finnlands. Die Atmosphäre zwischen den Eheleuten ist angespannt: Julia, Autorin eines erfolgreichen Romandebüts, quält sich mit einer Schreibblockade und hadert damit, sich zu früh gebunden zu haben. Erik bangt um seinen Job als Informatiker, mit dem er die Familie ernährt, und wird unter dem Druck zum Lügner. Während Tochter Alice ihre erste Liebe erlebt, spitzen sich die Konflikte zwischen den Eheleuten in den zehn Wochen Urlaub dramatisch zu.

Mit großer Kunstfertigkeit und einer sanften Intensität, die den Leser nicht mehr loslässt, erzählt Philip Teir von einer scheinbar ganz normalen Familie und vermag die Risse in ihrem Zusammenleben mit atemberaubender und verstörender Präzision zu schildern.

Philip Teir, geboren 1980, gilt als einer der wichtigsten Nachwuchsautoren Finnlands. Er hat bereits Gedichte und einen Band mit Kurzgeschichten veröffentlicht und ist Herausgeber von Anthologien. Philip Teir lebt als freier Journalist und Schriftsteller mit seiner Familie in Helsinki. Sein Debüt Winterkrieg erschien 2014 bei Blessing.

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1

Julia würde im Herbst sechsunddreißig werden, aber es war ihr niemals ganz gelungen, der Stimme ihrer Mutter zu entkommen. Selbst wenn Julia lange nicht mehr mit Susanne gesprochen hatte, war deren Stimme da, sie lag auf einer hohen Frequenz und kam von oben – weil ihre Mutter eine groß gewachsene Frau war –, und sie schien sich immer mitten in einem Satz zu befinden, mitten in einer Diskussion.

»Ich kann doch Menschen mögen, auch wenn sie mir nicht ständig Komplimente machen.«

»Ich habe diese Frauenzeitschrift seit zwanzig Jahren abonniert, und sie ist full of useless information, aber ich werde sie weiter beziehen to the bitter end

»Heute habe ich ein ganz großartiges Essen gekocht.«

»Hast du zugenommen? Ich meine das nicht negativ, bei dir ist es ja immer ein bisschen rauf und runter gegangen.«

Auch jetzt, als Julia in der Straßenbahn saß und von der Arbeit nach Hause fuhr, hörte sie im Hinterkopf ihre Mutter reden, wie ein Tinnitus in verbaler Form; eine ununterbrochen laufende Meinungsmaschine. Susanne sagte, dass sie jeden Tag schreiben solle, sich Aktivitäten mit den Kindern ausdenken müsse (Susannes immer wiederkehrende Kritik war, Julias Kinder seien so antriebslos und phlegmatisch). Sie solle an ihre Karriere und den Hauskredit denken, sich aber vor allen Dingen um Susanne kümmern, weil Julias Mutter sich als den selbstverständlichen Mittelpunkt der Familie betrachtete.

Julia stieg aus der Straßenbahn und spürte den Impuls, sich mit dem ganzen Körper zu schütteln wie ein nasser Hund, der zur Tür hereinkommt. Sie versuchte sich selbst daran zu gemahnen, dass heute der Urlaub begann und sie an andere Dinge zu denken hatte als an ihre Mutter.

Sie öffnete die Tür zu ihrer Wohnung, aber niemand war zu Hause. Kurz fragte sie sich, ob die anderen schon ohne sie losgefahren waren. Erik hatte gesagt, er würde die Kinder um elf Uhr abholen, sie hatte ihn aber den ganzen Tag nicht erreichen können. Das Auto hätte gepackt sein sollen, und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie gleich losfahren können, dann wären sie bis zum Abend da gewesen.

Julia wollte das Sommerhaus lüften und die Betten neu beziehen, bevor sie schlafen gingen, und sie fragte sich, ob sie zuerst nicht auch alles abstauben müssten, weil schon seit Langem niemand mehr am Mjölkviken gewesen war. Wahrscheinlich wäre es auch nötig, den Kühlschrank zu putzen, bevor sie ihn mit Lebensmitteln füllten.

Sie rief Oona an, die in den ersten Sommerwochen, in denen sie noch arbeitete, auf die Kinder aufpasste.

»Nein, Erik hat nicht angerufen. Soll ich sie nach Hause schicken?«, fragte Oona. Julia konnte das Klavier im Hintergrund hören, wahrscheinlich spielte Alice gerade.

Oona war eine Frau in den Sechzigern und stammte aus Estland. Sie war vor langer Zeit wegen eines Mannes nach Finnland gezogen. Jetzt wohnte sie allein und war zu einem Teil ihres Lebens geworden, eher aus Zufall, denn Alice hatte Klavierunterricht bei ihr genommen, und Anton war manchmal mitgekommen.

»Tu das«, sagte Julia. »Wir fahren bald los.«

»Seid ihr den ganzen Sommer weg?«, fragte Oona.

»Wir kommen erst im August zurück.«

Julia fiel plötzlich ein, dass sie natürlich mit einem Geschenk zu Oona hätte gehen sollen. So etwas machte man, wenn der Sommer kam. Eine Dose Kekse, ein Blumenstrauß, ein paar Tassen von Arabia. Julia war nie diejenige gewesen, die Geld eingesammelt hatte, um den Lehrern der Kinder ein Geschenk zu machen, das hatte sie immer den anderen Eltern überlassen. Woher sollte man solche Dinge wissen und sich darüber hinaus auch noch daran erinnern?

Sie legte auf und wählte Eriks Nummer, er ging jedoch immer noch nicht ans Telefon, also setzte sie sich aufs Sofa und wartete.

Anton war der Erste, der durch die Tür kam; sein zehnjähriger Körper schien sich darauf vorzubereiten, in die Höhe zu schießen. Er werde größer als sein Vater, hatten die Ärzte gesagt, und er selbst konnte das vor seinen Freunden gar nicht oft genug wiederholen. Anton wusste nicht, dass Julia manchmal heimlich zuhörte, wenn er Freunde zu Besuch hatte, aber sie tat es: Zehnjährige Jungen versuchten einander mit Dingen zu beeindrucken, die sie über die Welt zu wissen glaubten.

»Habt ihr etwas von Papa gehört?«, fragte sie.

»Er hat angerufen«, sagte Anton. »Er kommt später.«

»Was habt ihr heute gemacht?«

Anton zuckte mit den Schultern. »Wir haben Monopoly gespielt. Aber Oona wollte keine Risiken eingehen, also habe ich beide Male gewonnen«, sagte er.

»Und was hat Alice gemacht?«

Seine Schwester war mittlerweile in den Flur gekommen und hatte ihre Jacke auf den Boden geworfen.

»Sie hat Klavier gespielt und war unheimlich zickig«, sagte Anton.

Alice kam ins Wohnzimmer, ohne ein Wort zu sagen, setzte sich einfach nur mit dem Handy in der Hand neben Julia aufs Sofa.

»Wollt ihr mir helfen, das Auto zu packen?«, fragte Julia.

»Müssen wir?«, erwiderte Anton.

Sie fuhr das Auto vor den Hauseingang. Widerwillig halfen ihr die Kinder dabei, die Taschen zu tragen, und der Kofferraum füllte sich schnell.

Als sie fertig waren, saßen Alice und Anton mit den Schuhen auf dem Sofa, als wären sie auf dem Sprung. Sie fragten, wo ihr Vater sei, und Julia antwortete, so gut sie konnte. »Er ist immer noch auf der Arbeit.«

Sie fragte, ob sie Hunger hätten.

»Ich hab keinen Hunger, ich will losfahren«, sagte Anton. »Warum kommt Papa nicht nach Hause? Ich hasse Warten.«

Anton warf sich auf dem Sofa zurück und landete auf seiner großen Schwester.

»Au!«, rief Alice. »Mama, ich hab keinen Bock, mir sein Gejammer anzuhören. Halt doch einfach mal die Klappe, Anton.«

Anton versetzte ihr einen Schlag auf die Schulter.

»Hey! Mama, hast du gesehen, was er gemacht hat?«

Julia seufzte.

»Blöde Zicke«, sagte Anton, legte sich demonstrativ die Hände aufs Gesicht und ließ sich erneut rücklings neben Alice aufs Sofa fallen.

Julia putzte die Wohnung und versuchte, den Lärm der Kinder auszublenden, um sich nicht über sie aufregen zu müssen. Sie schrubbte die Badewanne, machte die Betten und warf fast alle Lebensmittel weg, die noch im Kühlschrank waren.

Als sie durch den Flur ging, sah sie sich kurz im Spiegel und dachte zu ihrer Verwunderung, dass sie auf eine etwas strenge Art gut aussah: So sah eine alleinerziehende Mutter aus, so würde sie ab jetzt aussehen, wo sie nur noch zu dritt in der Familie waren. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich zu den Kindern, um sich noch hemmungsloser ihrer Fantasie hinzugeben.

»Was schaust du dir gerade an?«, fragte sie Alice.

»Nichts Besonderes.«

Julia beugte sich zu ihr und warf einen Blick auf ihr Handy. Alice stellte eine Fotocollage zusammen. Es waren drei Selfies, und sie versah sie alle mit Grimassen, zog mit den Fingern die Unterlider herunter, bis man von den Augen nur noch das Weiße sah.

»Sind solche Bilder gerade angesagt?«, fragte Julia.

»Keine Ahnung«, sagte Alice und zuckte gelangweilt mit den Schultern.

»Wollen wir ein Selfie machen? Wir drei zusammen?«, fragte sie.

»Mama«, sagte Alice.

»Ich kann eins machen«, sagte Anton.

Erik kam um zwei Uhr nach Hause, redselig und gestresst, als wollte er überspielen, dass er zu spät gekommen war. »Der Handyakku war leer, und wir hatten eine Besprechung, die sich hinzog. Aber ich habe ja Oona angerufen und Bescheid gesagt. Ich wusste nicht, wann du heute aufhörst.«

Julia seufzte.

»Ich will mich deswegen nicht streiten, aber ich habe gepackt, die Wohnung geputzt, die Spülmaschine ausgeräumt und den Kühlschrank geleert. Ich bin total durchgeschwitzt.«

»Aber hier muss doch nicht alles geputzt sein, wenn wir nach Hause kommen«, meinte er.

Es überraschte sie immer wieder, wie real Erik war, wenn er schließlich nach Hause kam, als gäbe es zwei Eriks: einen, auf den sie in ihrer Fantasie wütend sein konnte, und einen richtigen Erik, der mit ihr redete und Ansichten hatte, zu denen sie Stellung beziehen musste.

»Wie auch immer, wir müssen jetzt fahren, wenn wir bis zum Abend da sein wollen.«

»Es ist die ganze Nacht hell, da spielt es doch keine Rolle, ob wir um sieben oder um neun ankommen«, sagte er und küsste sie auf die Stirn. Sie nahm die Berührung mit jener Erleichterung zur Kenntnis, die dem bereits Bekannten entspringt, einem Ort, an dem alles logisch und einfach wirkt, weil es immer schon so gewesen ist. Sie schob das zwiespältige Gefühl aus Angst und Spannung zur Seite, das sich in ihrem Bauch eingenistet hatte, als sie Erik nicht erreichen konnte und nicht wusste, wo die Kinder waren, und das sie nicht kontrollieren konnte, weil ihre Gedanken immer wieder dorthin wanderten, wo sie nichts zu suchen hatten. Sie dachte, dass es ein bisschen so war, als würde sie in wachem Zustand träumen, als würde ihr Gehirn jetzt die Arbeit erledigen, für die eigentlich der Schlaf da war: den Tag verarbeiten, sich auf Katastrophen vorbereiten.

Sie löschten die Lampen in der Wohnung, zogen den Stecker des Kühlschranks und sahen ein letztes Mal, nach, ob auch nichts mehr eingeschaltet war, bevor sie die Wohnung verließen. Anton schubste Alice ein bisschen, als sie die Treppen hinuntergingen.

Erik bog auf den Mannerheimvägen ab. Jedes der Kinder hatte einen Laptop auf dem Rücksitz und schaute sich einen Film an. Alice hatte Geld bekommen und im Laden Süßigkeiten...


Teir, Philip
Philip Teir, geboren 1980, gilt als einer der wichtigsten Nachwuchsautoren Finnlands. Er hat bereits Gedichte und einen Band mit Kurzgeschichten veröffentlicht und ist Herausgeber von Anthologien. Philip Teir lebt als freier Journalist und Schriftsteller mit seiner Familie in Helsinki. Sein Debüt Winterkrieg erschien 2014 bei Blessing.

Alms, Thorsten
Thorsten Alms, geboren 1966 in Celle, studierte Skandinavistik, Geschichte und Sprachwissenschaft an den Universitäten Bonn und Lund (Schweden). Seit 2003 arbeitet er als freier Literaturübersetzer aus den Sprachen Schwedisch, Dänisch, Norwegisch und Englisch. Er lebt mit seiner Familie in Stolberg bei Aachen.



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