E-Book, Deutsch, Band 2, 368 Seiten, E-Book Epub
Reihe: Kajsa Coren
Teige Das Mädchen, das schwieg
2. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8412-1317-4
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 2, 368 Seiten, E-Book Epub
Reihe: Kajsa Coren
ISBN: 978-3-8412-1317-4
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Frau stirbt, ein Mädchen verschwindet
Die Journalistin Kajsa lebt mit ihrem Mann, dem Polizisten Karsten, auf einer idyllischen Insel in Norwegen. Der ganze Ort gerät in Unruhe, als Sissel tot aufgefunden wird - eine Frau, die seit Jahren nicht mehr sprach, aber alles von ihrem Fenster aus beobachtete und auf kleine Zettel schrieb. Was hat Sissel gesehen, und warum musste sie sterben? Als plötzlich ein Mädchen verschwindet und Karsten mit seinen Ermittlungen nicht weiterkommt, greift Kajsa ein.
Kajsa Corens vierter Fall - Hochspannung von der norwegischen Bestsellerautorin!
Trude Teige, Jahrgang 1960, ist eine bekannte Journalistin und TV-Moderatorin. Mit ihren Krimis und historischen Romanen gehört sie zu den erfolgreichste Autorinnen Norwegens. Sie hat drei erwachsene Kinder und lebt mit ihrer Familie am Oslofjord. Gabriele Haefs übersetzt aus dem Schwedischen, Norwegischen, Dänischen, Englischen, Niederländischen und Irischen, wofür sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat. Sie lebt in Hamburg. Andreas Brunstermann übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Norwegischen und Englischen. Er hat u.a. Roy Jacobsen, Jan-Erik Fjell und Jørn Lier Horst ins Deutsche übertragen. Er lebt in Berlin.
Weitere Infos & Material
1
Kurz bevor Kajsa Coren die aus Losvika hinausführende Straße erreichte und am letzten Haus im Dorf vorbeikam, hörte sie plötzlich einen Schrei. Eine Frau erschien auf der Vortreppe und winkte aufgeregt mit den Armen. Dann beugte sie sich über das Geländer und übergab sich.
Kajsa schob den Kinderwagen durch das Gartentor und trat auf den überwucherten Kiesweg. Sie war mit Jonas zu einer kleinen Spazierfahrt aufgebrochen, damit er endlich einschlafen könnte. Sein leises Wimmern hatte nachgelassen, aber er blinzelte immer noch zu den Wolken hinauf, die an diesem windigen letzten Novembertag rasch über den Himmel zogen. Schnell ließ Kajsa die Bremsen am Kinderwagen einrasten und eilte der Frau entgegen.
Kajsa wusste, dass die Bewohnerin des Hauses Sissel Våge hieß und Anfang dreißig war, aber nicht sie war es, die auf der Treppe stand. Sondern Bente Rise, die Nachbarin.
»Was ist passiert?«, fragte Kajsa.
»Ruf … ruf die Polizei an«, schluchzte Bente. »Es ist Sissel.«
»Was ist denn mit ihr?«
Bente deutete mit dem Daumen auf die offene Haustür hinter sich und legte die andere Hand über Mund und Nase. Kajsa bemerkte es jetzt auch: ein stinkender, an Kanalisation erinnernder Dunst, der mit der warmen Innenluft ins Freie sickerte.
»Ich glaube, sie ist tot«, sagte Bente und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.
»Achtest du bitte auf Jonas?«
Bente nickte.
Zögernd trat Kajsa in den Flur. Im Haus war es still. Die eigentümliche Stille eines leeren Hauses. Der Geruch wurde stärker und drang ihr in die Nase. Kajsa konzentrierte sich darauf, durch den Mund zu atmen. Ein widerlicher Geschmack nach Fäulnis breitete sich auf ihrer Zunge aus.
Sie betrat die Küche. Niemand war zu sehen. Die meisten alten Häuser im Dorf waren räumlich wie dieses aufgeteilt: eine Tür vom Flur in die Küche, eine Tür zwischen Küche und Stube nebenan, wo eine weitere Tür in das Wohnzimmer führte. Von dort aus konnte man zurück in den Flur gelangen.
Kajsa durchquerte die Küche und blieb an der Tür zur Stube stehen. Mit einem Mal wurde ihr Mund völlig trocken.
Direkt vor ihren Füßen war ein großer Fleck aus getrocknetem Blut. Ein kleines weißes Kreuz an der Wand war mit Blutspritzern übersät. Eine Frau saß zum Fenster gewandt in einem Sessel.
Kajsa zog sich den dünnen, elastischen Kragen ihres Pullovers halbwegs übers Gesicht und bedeckte die Nase mit der Hand, während sie über den Blutfleck auf dem Boden hinwegstieg. Sie drückte sich an einer Topfpflanze vorbei und umrundete den Tisch, um das Gesicht der Frau sehen zu können.
Es war völlig überflüssig, nach dem Puls zu fühlen.
Aus dem geöffneten Mund ragte die dunkel verfärbte Zungenspitze heraus. Der Kopf lag etwas schräg, das Gesicht war halbwegs dem Sesselrücken zugewandt. Die leblosen Augen starrten zum Fenster hin, der Blick war gefroren in einem Moment, den es nicht mehr gab. Auf der Wange hatte sie ein großes lilarotes Mal. Es hatte die Form eines umgekehrten Herzens, das sich von der Schläfe nach unten ausbreitete und am Mundwinkel endete. Ihre Arme lagen auf den Sessellehnen, die Hände hingen schlaff über die Kanten. Sie wirkte verwundert, als ob sie nicht glauben könnte, dass sie tatsächlich tot war.
Der Geruch entsprach dem, was passiert, wenn der Tod eintritt und Muskeln und Reflexe, welche die Körperflüssigkeiten zurückhalten, nicht mehr funktionieren. Er erinnerte Kajsa an Fischabfälle, die an der Kaikante vor sich hin rotteten, nachdem die Fischerboote den Fang an Land gebracht hatten.
Ein kleiner Tisch neben dem Sessel war umgestürzt, und eine Brille und eine Frauenzeitschrift lagen auf dem Fußboden.
Kajsa betrachtete die Tote gleichermaßen angeekelt wie erstaunt. Die Frau trug ein tief ausgeschnittenes, langes schwarzes Kleid aus schwerer, glänzender Seide. Ihr Haar war locker mit kleinen Spangen hochgesteckt. Es war blond gefärbt, wie Kajsa am dunklen Haaransatz erkennen konnte. Um den Hals trug sie eine Goldkette mit einem Kreuz, die Ohrläppchen waren mit großen Perlen geschmückt. Ihre Augen waren stark geschminkt, die Lippen wiesen eingetrocknete Spuren eines roten Lippenstifts auf. Das Gesicht war schmal. Eine lange Nase mit einer kleinen Erhebung gleich unterhalb der Nasenwurzel, dünne Lippen, hohe Wangenknochen. Der Bauch war aufgebläht. Vermutlich hatte die Leiche hier schon eine Weile gelegen, doch zu Lebzeiten musste die Frau schlank und feingliedrig gewesen sein.
Sissel Våge war festlich angezogen und hätte sicher sehr hübsch ausgesehen, wenn nicht die blaue Zunge, die aufgerissenen, ins Leere starrenden Augen und dieser Gesichtsausdruck gewesen wären, der Kajsa noch mehr Unwohlsein verursachte, als sie ohnehin schon verspürte. Die Übelkeit stieg als grummelndes Gefühl vom Magen auf, wurde stärker, und Kajsa musste schlucken.
Die Szene erinnerte sie an ein zerstörtes Gemälde, als wäre jemand hereingekommen und hätte die Leinwand aufgeschlitzt.
Sie blickte sich um. Das Zimmer wirkte altmodisch, mit angejahrten Möbeln, aber sauber und aufgeräumt. Auf der Fensterbank lagen eine Bibel und ein Fernglas. Ein altes schwarzglänzendes Klavier stand an der Querwand. Kajsa trat näher heran und inspizierte die Noten auf dem Notenhalter. Christian Sindings Frühlingsrauschen. Für Fortgeschrittene, dachte Kajsa, die selbst Klavier spielte. Sissel Våge hatte anscheinend ziemlich gut Klavier spielen können. Viel Glück! Grüße, O, stand in einer Ecke des Notenblatts geschrieben. Vielleicht war es auch ein G; Kajsa war sich nicht ganz sicher. Auf dem Klavierdeckel lag ein Stapel gelber Notizbücher.
Kajsa zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf. Die Luft war unerträglich warm, stickig und drückend. Ein kleines rotes Licht leuchtete an einem Öl-Radiator, der gleich neben der Tür stand. Erst jetzt nahm Kajsa die Fliegen wahr, die geräuschvoll um Sissels Kopf kreisten. Einige waren bereits in Nasenlöcher, Ohren und Augen gekrochen.
Kajsa presste sich den Rollkragen aufs Gesicht und atmete den Duft ihres Parfüms ein, um das Gefühl von Übelkeit zu unterdrücken.
Die Tür zum Wohnzimmer war angelehnt. Um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, stieß sie sie mit dem Ellbogen auf. Dann zog sie ihr Handy aus der Tasche und rief die Polizei, während sie sich weiter umsah.
Ein riesiger Weihnachtskaktus stand in voller Blüte auf einem schwarzen Hocker. Die knallroten Blüten hingen schwer herab. Auf dem Sofa lag ein Stapel Damenkleider. Alle sahen neu und modern aus, an einigen hingen sogar noch die Preiszettel. In einer Plastiktüte auf dem Fußboden entdeckte Kajsa etwas Spielzeug; eine Rassel und ein Mobile mit kleinen Tierfiguren.
Auf dem Wohnzimmertisch lag weitere Kleidung, fein säuberlich zusammengefaltet. Kajsa hob eine kleine Strampelhose auf, die Größe auf dem Etikett verriet, dass sie für ein neugeborenes Baby war. Alle Sachen auf dem Tisch waren Babykleidung in Weiß und Hellblau.
Offensichtlich Bekleidung für einen kleinen Jungen.
*
Kajsa kannte den Lensmann Ole-Jakob Eggesbø ziemlich gut. Ihr Lebensgefährte Karsten arbeitete bei der Kripo und hatte ihn vor zwei Jahren bei der Aufklärung des Deutschenmords unterstützt. Auch sie selbst hatte eine gewisse Rolle bei den Ermittlungen gespielt. Schon kurz nachdem die Polizei mit der Untersuchung des Mordes an einem deutschen Touristen begonnen hatte, war der Fall von der Presse als Deutschenmord bezeichnet worden. Wie sich schließlich herausstellte, hatte es sich um mehrere Morde gehandelt.
Eggesbø sah sich einmal kurz im Zimmer um, stellte sich vor Sissel und betrachtete sie ein paar Sekunden lang mit halb zusammengekniffenen Augen, ehe er sein Handy aus der Tasche fischte.
Der Arzt, folgerte Kajsa aus dem sich anschließenden Telefongespräch.
Ein dunkelhäutiger Polizeibeamter, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, blieb neben der Tür stehen. Er hielt sich beide Hände vor Nase und Mund, nickte ihr kurz zu, machte aber keine Anstalten, sich der Leiche zu nähern. Kajsa schätzte ihn auf Mitte zwanzig.
Eggesbø sprach in den Hörer und wirkte überaus melancholisch.
»Ja, im selben Haus, es ist die Tochter des Predigers«, hörte sie ihn sagen.
Seine Augenlider hingen schwer herunter, er hatte große Tränensäcke unter den Augen und war von eher kleinem Wuchs, dafür aber breit in alle Richtungen. Der Herzinfarkt vor einem halben Jahr hatte ihn offenbar nicht zum Abnehmen bewegen können. Kajsa registrierte, dass er sich einen Bart zugelegt hatte. Der war graumeliert, genau wie seine kräftige, kurzgeschnittene Mähne.
Der Arzt traf zehn Minuten später ein, als Kajsa zusammen mit Bente Rise auf der Treppe stand und Eggesbø berichtete, was geschehen war. Sie hatte ihn erst vor einer Woche gesehen, als er gekommen war, um ihre Tochter Thea zu untersuchen, die über Ohrenschmerzen geklagt hatte. Er hieß Gustav Berg und wohnte in Losvika, stammte aber nicht aus der Gegend.
Eggesbø und der Arzt gingen hinein, Kajsa folgte ihnen.
Berg schritt über den Blutfleck auf dem Fußboden hinweg. Etwas an der Art, wie er sich bewegte, die Leiche betrachtete, Latexhandschuhe überzog und dann begann, Sissel zu untersuchen, ließ Kajsa vermuten, dass er mit solchen Situationen vertraut war. Als sie ihn darauf ansprach, erwiderte er, er habe während des Studiums als Assistent am Rechtsmedizinischen Institut gearbeitet und...