Šteger / Steger | Neverend | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 462 Seiten

Šteger / Steger Neverend

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8353-4800-4
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 462 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4800-4
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein hochpoetischer und gesellschaftskritischer Roman, der zeigt, was mit uns allen passieren könnte - wenn es nicht schon längst passiert. Es herrschen angespannte Zeiten: Die EU befindet sich mit dem Rest der Welt in Handelskriegen, in den Regalen der Supermärkte gibt es keine Bananen mehr. In Slowenien stehen Wahlen vor der Tür, und in Ljubljana treffen Proteste auf Gegenproteste, extremistische Parteien befinden sich im Aufwind. Inmitten dieses Chaos durchlebt eine junge Schriftstellerin ihre ganz eigene Krise, Liebe und Finanzen liegen im Argen. Um Letzterem Abhilfe zu schaffen, nimmt sie einen Honorarauftrag an, Creative Writing Workshops in einem Gefängnis durchzuführen. Während drei Gefangene ihr immer wieder neue Erzählungen liefern, die alle vom Krieg handeln, beginnt sie, einen historischen Roman zu schreiben, der von der Freundschaft zwischen Antonio Scopoli und Carl von Linné erzählt, von Scopolis Reise durch das kriegsverwüstete Europa des 18. Jahrhunderts und von dem Ort, an dem die erste Banane auf europäischem Boden gezüchtet wurde.

Ale? ?teger, geb. 1973, ist der bekannteste slowenische Autor seiner Generation und lebt in Ljubljana. Er studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und Germanistik in Ljubljana und debütierte 1995 mit einem Lyrikband. Darauf folgten weitere Gedichtbände, Romane und Essays, seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt vielfach ausgezeichnet. Ale? ?teger ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Matthias Göritz, geb. 1969, ist ein vielfach ausgezeichneter Lyriker, Theaterautor, Übersetzer und Romancier. Er veröffentlichte die Gedichtbände »Loops«, »Pools« und »Tools« sowie die Romane »Der kurze Traum des Jakob Voss« (2005), für den er den Mara-Cassens-Preis erhielt, »Träumer und Sünder« (2013), der mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet wurde, und »Parker« (2018). Außerdem erhielt Göritz den William H. Gass Award. Derzeit lehrt er an der Washington University in St. Louis, USA. Göritz ist Kurator des Slowenischen Buchmesseauftritts in Frankfurt 2023. Alexandra Natalie Zaleznik, geb. 1984. Sie ist zweisprachig in München aufgewachsen und lebt mit ihrer Familie in Slowenien. Sie übersetzt aus dem Slowenischen und Schwedischen ins Deutsche sowie aus dem Deutschen und Schwedischen ins Slowenische.
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12. September

Auf dem Hof werde ich von meiner Nachbarin Paula aufgehalten. Sie inspiziert mich genau, als hätte ich etwas im Gesicht. Dann sagt sie: »Es ist aus und vorbei mit dir, du bist schwarz gekleidet wie ich, und es ist aus mit dir. Liebes Kind, du wirst unsterblich werden müssen«, sagt sie.

»Und wie stellt man das an?«, frage ich sie.

»So, dass du dich entscheidest, nicht zu sterben«, sagt Paula und grinst. »Ich werde nicht sterben, hören Sie!«, kreischt sie so laut, dass einige Fenster der umliegenden Gebäude zugehen.

Die Nachbarn meiden Paula. Einige haben Angst vor ihr, den anderen ist sie einfach im Weg. Wenn sie für immer verschwinden würde, wäre es ihnen am liebsten. Letztes Jahr haben sie sogar Feuer vor ihrer Garage gelegt, zum Glück aber wurde der Brand rechtzeitig gelöscht.

»Siehst du, mein Kind, du kannst dich nicht einfach nur entscheiden, nicht zu sterben. Vielleicht kannst du dich entscheiden, zu sterben, das geht noch irgendwie. Nicht zu sterben aber kann man sich nicht einfach so entscheiden. Findest du das gerecht? Es ist gerecht, gerecht!«, schreit sie erneut gellend, dass es von der Kraft ihrer Stimme in meinem Kopf dröhnt.

»Siehst du, mein Kind, um sich zu entscheiden, nicht zu sterben, müssen sich die anderen für dich entscheiden. Ja, mein Kind, die anderen müssen dir einen guten Grund dafür geben, sie müssen es sich so sehr wünschen, dass du sofort an Ort und Stelle krepierst, dass du dich entscheiden kannst, aus Trotz nicht zu sterben, nur um sie zu verarschen. Ihr könnt mich alle mal!«, ruft Paula.

»Mein liebes Kind, pass auf, was du sagst. Gott mag kein schmutziges Gerede und schließlich weißt du nie, wann du ihn brauchen könntest«, sagt Paula, verstummt und bewegt schweigend ihren Mund, als hätte sie noch viele unausgesprochene Wörter darin, die sie zuerst mit ihren fehlenden Zähnen noch gründlich durchkauen muss. Ihre Augen haben sich derartig an mir festgesaugt, dass ich einfach nicht wegkomme von der alten irren Paula.

»Ich habe zehn Tage nichts gegessen«, sagt sie ganz leise. »Und hasse trotzdem nicht. Verstehst du?«

Dann holt sie unter ihrem Rock ein Brötchen hervor und fängt an, daran zu knabbern und mit vollem Mund zu schreien, sodass kleine feuchte Krümel durch die Gegend fliegen: »Es ist gerecht, ja, es ist gerecht.«

13. September

Nach der Beerdigung verdrücke ich mich leise vor meinen Verwandten.

Ana stützt Tante Marija, ich kann nicht, ich möchte nicht näher ran.

Ich fühle mich wie Abschaum, wie ein streunender Hund, der sich mit der Zurschaustellung der Trauer nicht erwischen lässt.

Ich verschwinde, während sich die Trauernden am Grab in eine Reihe stellen, um Worte des Mitgefühls zu empfangen. Es kommt mir gar nicht in den Sinn, ein Teil dieser Traurigkeit zu sein. Geschweige denn des Leichenschmauses, des Fests, wo alle erst gemeinsam weinen werden, um ihre Trauer zu demonstrieren, zwei Stunden später aber bereits vor Glück singen, dass die ganze Totengeschichte erledigt ist.

Ich mag Beerdigungen nicht, aber Leichenschmäuse sind etwas völlig Unmögliches.

Ich spaziere zwischen den Gräbern, verirre mich, finde mich auf einem unbekannten Teil des Stadtfriedhofs wieder. Unüberschaubare Kolonnen von identischen Grabmälern, die sich nur durch die Namen und Geburts- und Todesjahre unterscheiden, alles Opfer im letzten Jugoslawienkrieg, gefallen vor fünfundzwanzig Jahren. Nicht weit entfernt sehe ich an einem großen Beinhaus aus dem Ersten Weltkrieg Marmortafeln mit verblassten Namen der Soldaten aus allen Ecken der damaligen Monarchie. Statuen von trauernden Müttern und grauen Granaten an den Seiten. Gleich daneben Haufen von verwelkten Kränzen, Lichtlein flackern, angeblich halten elektrische sehr, sehr lange, auch nach mehreren Monaten vermitteln sie den falschen Eindruck, als wäre gerade eben jemand am Grab gewesen, jemand, den es kümmert, jemand, dem diejenigen, die vor einem Jahrhundert gefallen sind, nicht egal sind.

Ich nähere mich einem frischen Grabhügel. Eine provisorische Aufschrift besagt, dass hier 8214 nicht identifizierte Opfer aus dem Zweiten Weltkrieg begraben sind. Sie wurden aus irgendeinem Panzergraben hergebracht, auf den man kürzlich beim Bauen einer Eisenbahnstrecke gestoßen war. Die Anfertigung des Denkmals ist noch im Gange, finanziert wird das Ganze aus dem Fonds für Regionalentwicklung und Kohäsion der Europäischen Union.

Wenige Schritte weiter das Knarren von Türangeln, die Tür einer der alten Gruften öffnet sich. Neben dem Sarkophag liegen zwei Obdachlose auf einer alten Matratze. Einer hat einen nackten Oberkörper. Sie begutachten mich in aller Ruhe, dann flüstert der bekleidete dem anderen etwas zu, beide öffnen ihren Hosenschlitz und grinsen mich an, dann schreien sie mir hinterher, dass sie mich flachlegen werden und ich schon sehen werde, wie es ist, mit den Toten zu tanzen.

Erst sehe ich sie sehr lange an. Ich weiß nicht, warum oder wie, ich sehe sie einfach an. Wie viel Zeit wohl so vergeht? Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass währenddessen etwas in mir wächst, mich schließlich schlägt, mit aller Kraft stößt, mich packt und mir den Atem raubt. Ich erschrecke mich zu Tode, renne los, hinter mir das Geschrei und Gelächter beider Typen. Ich drehe mich nicht um. Ich renne und renne einfach zwischen den Gräbern, als würde ich um mein Leben laufen inmitten der zahlreichen Toten, die mich umgeben, spöttisch, spöttisch.

Später werfe ich mir die Dummheit und Ängstlichkeit vor, noch mehr aber diesen nicht endenden Moment, als ich lediglich dastand und ausgehöhlt auf die Obdachlosen starrte, starrte, als wäre ich abwesend, als stünde dort nur mein Körper, der darauf wartete, dass ich in ihn zurückkehre. Wer war ich in meiner Abwesenheit? War ich ein Körper? Eine abwesende Seele? Die Abwesenheit selbst?

Mehr als an die Gesichter der Obdachlosen erinnere ich mich an den Anblick ihrer Schamhaare, noch genauer als die Schamhaare hat sich die dunkelblaue Matratze, die mit einem schmutzigen rosa Muster übersät war, in meinem Gedächtnis verankert. Am präsentesten jedoch bleibt deren Stimme, das Geschrei, welches mich noch immer begleitet, es ist in mir, ich kann es nicht abschütteln.

Ich habe Angst, dass es ein Teil von mir geworden ist.

14. September

Ich träume vom Redakteur der Literaturbeilage. Ich habe Angst vor ihm, ich weiß, dass er bald über mein Schicksal entscheiden wird und dass seine Entscheidung negativ sein wird. Er hat mich am Wickel. Wie viel Zeit ist vergangen, seit er den Auftrag erteilt hat, mich in den Schlosskerker zu sperren? Ein Monat, vielleicht mehr? Ich trage Lumpen, in der Ecke liegt ein bisschen Stroh, auf dem ich schlafe. Feuchtigkeit, nackte Steine, Wände, Exkremente und Ratten, die hin und her laufen. Endlich werde ich geholt. Er sitzt auf dem Richterthron, doch zu meiner Verwunderung ist er eine Frau, und erst jetzt, als ich entblößt werde, um nackt mein Urteil hinzunehmen, bemerke ich, dass ich ein Mann bin. Der Redakteur der Literaturbeilage, der eine Frau ist, liest tiefgebeugt in meinem Manuskript und rümpft dabei die Nase. Hin und wieder kratzt sie sich an ihrem riesigen Busen. Dann kommt der Henker und führt mich ab, ohne irgendetwas zu sagen. Ich frage: Wie lautet die Anklage? Wie lautet das Urteil? Der Henker lacht mich aus, ob ich denn nie Werke von meinem Freund Kafka gelesen habe, dass sich dergleichen nicht gehört, nicht einmal für eine derartig untaugliche Schriftstellerin wie mich. Ich werde über eine Wendeltreppe hoch hinauf in einen Turm geführt. Der Flur wird immer schmaler und niedriger. Zuletzt muss ich auf allen vieren gehen, auf den Knien weiter nach oben kriechen wie durch einen schmalen unterirdischen Schacht. Ich weiß nicht, ob mich der Henker noch begleitet. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass er sich in seiner schweren Rüstung und mit dem langen Schlachtbeil durch einen so schmalen Durchgang zwängen könnte. Jedoch höre ich von hinten noch immer seine undeutlichen Töne, die mich antreiben. Ich krieche und krieche, bis ich mich durch eine schmale Öffnung in die Turmkammer der Burg ziehe. Der Raum ist vollkommen leer, nur in der Mitte steht eine Kloschüssel. Eine moderne, japanische, würde ich aufgrund der vielen Knöpfe links und rechts sagen. Hinter mir höre ich des Henkers Stimme. Er befiehlt mir zu springen. »Wohin soll ich springen?«, frage ich. Der Raum hat keine Fenster, nicht einmal eine Luke. »In das einzig Mögliche«, befiehlt die strenge Stimme aus der Öffnung, durch die ich gekommen bin, aber jetzt ist es nicht mehr des Henkers Stimme, es ist die Stimme meiner Mutter, die mich beobachtet und mir aus dem schmalen Durchgang Anweisungen gibt. Ich öffne den Deckel der Kloschüssel, er ist modern, völlig unpassend in diesem mittelalterlichen Umfeld. Ich starre ins Wasser. Ich habe Angst. Es ist silbern und undurchsichtig, es spiegelt mein Gesicht wider wie ein venezianischer Spiegel oder wie eine ungewöhnliche Materie. Ich wanke, versuche mich zu verstecken, als ich durch einen kräftigen Stoß von hinten in die Quecksilbermaterie stürze, die mich im selben Moment umschlingt und durchfrisst. Meine Knochen zerfallen, meine Haut und mein Fleisch schmelzen in dieser Flüssigkeit, jedoch nicht...


Göritz, Matthias
Matthias Göritz, geb. 1969, ist ein vielfach ausgezeichneter Lyriker, Theaterautor, Übersetzer und Romancier. Er veröffentlichte die Gedichtbände »Loops«, »Pools« und »Tools« sowie die Romane »Der kurze Traum des Jakob Voss« (2005), für den er den Mara-Cassens-Preis erhielt, »Träumer und Sünder« (2013), der mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet wurde, und »Parker« (2018). Außerdem erhielt Göritz den William H. Gass Award. Derzeit lehrt er an der Washington University in St. Louis, USA. Göritz ist Kurator des Slowenischen Buchmesseauftritts in Frankfurt 2023.

Steger, Ales
Aleš Šteger, geb. 1973, ist der bekannteste slowenische Autor seiner Generation und lebt in Ljubljana. Er studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und Germanistik, reiste viel und debütierte 1995 mit einem Lyrikband. Darauf folgten weitere Gedichtbände, Romane und Essays, seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Aleš Šteger ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Zuletzt erschienen: Atemprotokolle, Gedichte (2023); Neverend, Roman (2022)



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