E-Book, Deutsch, 576 Seiten
Taylor Die Mauer
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-33248-8
Verlag: Bassermann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
13. August 1961 bis 9. November 1989
E-Book, Deutsch, 576 Seiten
ISBN: 978-3-641-33248-8
Verlag: Bassermann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
- 'Ein künftiges Standardwerk.' (FAZ)
- Die Geschichte der Mauer vollständig erzählt
- Ein eindringliches, spannendes und höchst fundiertes Buch über die Zeit des Kalten Krieges von Bestsellerautor Frederick Taylor
Frederick Taylor hat Neue Geschichte und Germanistik studiert und ist Fellow der Royal Historical Society. Die deutsche Geschichte kennt Taylor von mehreren Studienaufenthalten, die ihn bereits in den 1970er-Jahren für längere Zeit in beide deutsche Staaten führten. Sein Buch über die Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg 'Dresden. Dienstag, 13. Februar 1945' (2004) wurde ein internationaler Bestseller. Zuletzt erschienen bei Siedler 'Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989' (2009), 'Zwischen Krieg und Frieden. Die Besetzung und Entnazifizierung Deutschlands 1944-1946' (2011), 'Inflation. Der Untergang des Geldes in der Weimarer Republik und die Geburt eines deutschen Traumas' (2013) sowie 'Coventry. Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg' (2015).
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Einleitung
Willkommen an der Mauer
Es war an einem Wochenende im August 1961. Ich hatte eine glückliche Kindheit hinter mir und mit meinen 13 Jahren ohne allzu viele unangenehme Zwischenfälle die Schwelle der Adoleszenz erreicht. Jetzt jedoch hing eine Wolke über dem Horizont. Meinem Vater ging es nicht gut, ganz und gar nicht. Das Rauchen – sein einziges Laster, soweit ich wusste – hatte ihn bereits einen Lungenflügel gekostet. Nach der Operation anderthalb Jahre zuvor schien er sich gut erholt zu haben, aber in diesem Sommer wirkte er wieder schwach und erschöpft und hütete oft das Bett. Ich ging häufig hinauf, um ihm Gesellschaft zu leisten. An diesem Tag sprachen wir über einen Artikel in der Sonntagszeitung. Deshalb erinnere ich mich daran, dass es ein Wochenende war. Bedeutsame, irgendwie unheilvolle Dinge gingen vor in der Welt.
Mein Vater hatte an jenem Abend einen schweren Herzanfall. Unsere Nachbarin, eine Krankenschwester, eilte herbei, und ich erhaschte durch die halb offene Schlafzimmertür einen Blick auf sie, wie sie auf seine Brust drückte, um ihn am Leben zu erhalten. Dann wurden wir nach unten geschickt. Der Arzt kam. Jemand schaltete den Fernseher ein, um uns zu beschäftigen. Flackernde Schwarz-Weiß-Bilder einer Großstadt. Wütende Menschen, Männer mit Gewehren und Stacheldraht. Vielleicht ein oder zwei Panzerspähwagen. Die Erinnerung ist etwas verschwommen, so wie die Bilder. Es ist lange her.
Ich weiß immer noch nicht, ob der Entschluss, dieses Buch zu schreiben, etwas mit diesem Abend zu tun hatte. Aber für mich wird die Berliner Mauer stets nicht nur mit dem Zustand der Welt von damals und heute verbunden sein, sondern auch mit einem starken Gefühl von Abschied und Trennung. Der Tag, an dem sie gebaut wurde, markierte für mich wie für viele Millionen andere Menschen das Ende eines Lebensabschnitts und den Beginn eines neuen, schwereren. Mein Problem an jenem Tag war jedoch weder ökonomischer noch geographischer oder politischer, sondern rein privater Natur, und es hatte nichts mit Berlin zu tun.
Mein Vater blieb noch einige Zeit im Obergeschoss. Ich sah ihn nur noch einmal, später am Abend, wieder durch eine halb offene Tür, diesmal diejenige zu meinem Schlafzimmer. Sanitäter trugen ihn auf einer Bahre über den Flur zur Treppe. Er war bei Bewusstsein und sah sich um. Er machte einen ernsten, aber gefassten Eindruck. Fast schien es, als sei er neugierig auf das, was mit ihm geschah.
Im Krankenhaus erlitt er einen weiteren – dieses Mal tödlichen – Herzinfarkt. Es war der 14. August 1961. Tags zuvor, am Sonntag, war eine Vorform der späteren Berliner Mauer errichtet worden, die eine Großstadt teilte und Menschen voneinander trennte, Freunde von Freunden, Eltern von ihren Kindern, Brüder und Schwestern von ihren Geschwistern. Gleichzeitig war es auch der Tag, an dem ich von meinem Vater getrennt wurde. Das Hindernis, das ihn von mir trennte, war düster, geheimnisvoll und vor allem dauerhaft. Die Berliner Mauer war dagegen in keiner Weise geheimnisvoll. Sie war real und brutal. Es sollte sich erst noch herausstellen, dass sie nicht dauerhaft war, aber das konnte damals noch niemand ahnen.
Als ich Berlin fast auf den Tag genau vier Jahre später zum ersten Mal besuchte, hatte ich ganz gewiss den Eindruck, als würde die Mauer bis an mein Lebensende bestehen bleiben. Ich war 17 Jahre alt und stand ein Jahr vor meinem Schulabschluss. Im Jahr vor dem Tod meines Vaters hatte ich begonnen, Deutsch zu lernen, und jetzt war ich auf einer Klassenfahrt in der Stadt, die geteilt worden war, als er starb. Ich erinnerte mich an die Bilder aus jener Nacht im Jahr 1961, auch wenn sich die Stadt, als ich sie wirklich sah, ganz in Farbe präsentierte und keineswegs so verschattet und bedrückend wirkte wie ein Horrorfilm aus der Stummfilmzeit, wie ich sie mir seltsamerweise vorgestellt hatte. Stattdessen unterschied sie sich nicht allzu sehr von London. Es war allerdings ein London mit wesentlich mehr Bomben- und Granatenlöchern und mit einer quer durch die Stadt verlaufenden Zement- und Stacheldrahtsperre, die immer noch improvisiert und wacklig aussah.
Das Hotel, in dem wir untergebracht waren – es handelte sich wohl eher um eine Jugendherberge –, befand sich an einer Ecke des ehemals ziemlich prächtigen, dann aber weitgehend zerstörten und noch nicht wieder aufgebauten Askanischen Platzes im West-Berliner Bezirk Kreuzberg. Dem Hotel gegenüber stand die Ruine der Eingangsfront des Anhalter Bahnhofs; der Rest der einst größten Berliner Eisenbahnstation war dem großen amerikanischen Luftangriff am 3. Februar 1945 zum Opfer gefallen. 200 Meter weiter zog sich die Mauer hin, und der Checkpoint Charlie war bequem zu Fuß zu erreichen. In der Nähe des Hotels stand eine Holzplattform, auf die man über eine Treppe hinaufsteigen konnte, um einen Blick in den »Osten« zu werfen. Man sah damals allerdings hauptsächlich ramponierte und größtenteils ungenutzte Regierungsgebäude in der Leipziger und der Wilhelmstraße. Heute weiß ich, dass dies das »Regierungsviertel« war, mit Hermann Görings berühmtem Luftfahrtministerium als einem der herausragenden Bauwerke. Das in den dreißiger Jahren errichtete Gebäude sah schlimm aus, so leer und verwaist und vom Krieg gezeichnet. Zwischen den Pflastersteinen und auf den verkehrsfreien Straßen wuchs Unkraut.
Ich glaube, wir waren ungefähr ein Dutzend Jungen und Mädchen. Die Leitung lag bei unserem liebenswürdigen Deutschlehrer, Mr. Kitson, und bei einem fröhlichen jungen Studenten aus Österreich, der die Angewohnheit hatte, beim Gehen eine Melodie zu summen und hin und wieder einige Tanzschritte einzulegen. Wenn ich mich richtig entsinne, war es irgendeine geförderte politische Bildungsreise. Ich weiß noch, dass ich erstaunt war, wie wenig die Menschen dem Stereotyp des »Deutschen« aus den Kriegs- und Nazifilmen glichen. Man sah nur wenige Uniformen, dafür viel Freizeitkleidung; die Deutschen waren etwas blonder und rotgesichtiger als die meisten Briten, ansonsten aber erstaunlich, um nicht zu sagen enttäuschend normal. Und soweit ich es mit meinen immer noch begrenzten Deutschkenntnissen verstand, besaßen sie einen frechen, vorlauten Humor, nicht unähnlich dem der Cockneys in London. Wir wurden in ein echtes Berliner Kabarett geführt. Eine der Nummern war ein »Schulmädchen«-Lied, das von drei Schauspielerinnen in durchsichtigen Regenmänteln und hochhackigen Schuhen vorgetragen wurde, die angeblich in der Augsburger Straße arbeiteten. Ich verstand sogar einige der Witze, etwa den Wink, dass sie am meisten beschäftigt seien, wenn der Bundestag seine Sitzungen in Berlin abhielt. Dieser Witz wurde von den Zuschauern am lautesten belacht. Berliner sind nicht gerade für Respekt bekannt.
Bevor wir die obligatorische Reise durch den »Eisernen Vorhang« nach Ost-Berlin unternahmen, mussten wir uns auf der Westseite zu Kaffee und Keksen einen Vortrag anhören. Gehalten wurde er von einem jungen Mann, den ich zuerst für einen Amerikaner hielt – Bürstenhaarschnitt, Button-Down-Kragen, Hornbrille –, der sich aber trotz seines stark amerikanisierten Englisch als West-Berliner herausstellte. Er erklärte uns, was wir schon wenige Minuten, nachdem wir unsere Unterkunft erreicht hatten und zu einem Spaziergang die Straße entlang aufgebrochen waren, erkannt hatten: dass die Mauer ein monströses Bauwerk sei, das Menschen errichtet hätten, die Freiheit nicht nur als entbehrlich, sondern auch als gefährlich ansähen.
Als wir schließlich eines Morgens die Grenze überschritten, fühlte ich mich sogar ein bisschen heimisch. Ich erinnerte mich, dass mein Vater, der im Krieg in der nordafrikanischen Wüste gekämpft hatte, die dortigen Deutschen stets gemocht und geachtet hatte, obwohl sie Feinde waren. Ihr Befehlshaber, General Rommel, war jemand, den er gern auf unserer Seite gesehen hätte. Die Deutschen in El Alamein und anderen Küstenorten waren nicht die unheimlichen Gestapo- und SS-Männer gewesen, die die furchtbaren Gräuel an der Ostfront und in den besetzten Ländern begingen, sondern die normalen Soldaten des Afrikakorps. Für mich sahen die meisten West-Berliner wie die Durchschnittsdeutschen aus, an die sich mein Vater erinnert hatte.
Den ersten Schock löste dann das Aussehen und Auftreten der uniformierten Beamten am Grenzübergang aus. Mit versteinerter Miene starrten sie auf das Foto in meinem Pass, dann auf mich, dann wieder auf das Foto und scheinbar endlos so weiter. In einem Deutsch, das ich nicht verstand, wurden Befehle gebrüllt; heute weiß ich, dass es Sächsisch war. Noch während wir erfolglos versuchten, locker schlendernd an den letzten Wachposten vorbeizugehen und das triste, reklamefreie Ost-Berlin zu betreten, musste ich mich zwingen, mich nicht umzudrehen, um zu überprüfen, ob sie uns immer noch anstarrten. Überall waren Uniformen. Sie ähnelten in der Tat denjenigen der Nazischergen in den Kriegsfilmen. Als wir wenig später Unter den Linden haltmachten, um die klassizistische Neue Wache zu betrachten, vollführten die Wachsoldaten irgendein Ritual – im Stechschritt und in Schaftstiefeln! Und auf den Köpfen trugen sie eine seltsame Mischung aus dem Kohleneimerhelm der Wehrmacht und dem klassischen...