E-Book, Deutsch, Band 2, 544 Seiten
Reihe: Haugesund
Tangen Totenfest
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-20333-7
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 2, 544 Seiten
Reihe: Haugesund
ISBN: 978-3-641-20333-7
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geir Tangen betreibt Norwegens größten Krimiblog, Bokbloggeir.com. Er lebt im norwegischen Haugesund, wo ihm die Idee zu seiner Trilogie über die Polizeiermittlerin Lotte Skeisvoll und den Journalisten Viljar Ravn Gudmundsson kam.
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Haugaleite, Haugesund
Sonntagvormittag, 1. März
Oberkommissarin Lotte Skeisvoll merkte, in welch schlechter Verfassung sie war, als sie in die kleine Stichstraße zum Haus Vestevegen 53 einbog und die Polizeiabsperrungen im Wind flattern sah. Sie nahm den Fuß vom Gaspedal. Ihre Finger umklammerten das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie rang nach Luft. Das Auto blieb auf der ansteigenden Straße stehen und begann, langsam rückwärtszurollen.
Die Leiterin der Kriminaltechnik in Haugesund, Åse Frugård, erkannte mit einem schnellen Blick, dass Lotte offenbar vorübergehend handlungsunfähig war, und zog resolut die Handbremse an. Die Reifen rutschten über den Splitt, dann kam der Wagen zum Stehen.
Lotte senkte den Kopf und holte tief Luft. Sie rieb sich das Gesicht mit beiden Händen und murmelte eine kaum hörbare Entschuldigung. Sie spürte, wie Åse Frugård ihre rechte Schulter umfasste und sie freundlich drückte.
Die Monate seit der Ermordung ihrer Schwester waren eine einzige Abwärtsspirale gewesen. Wie bei Dantes Inferno führten alle Wege sie immer näher an einen Abgrund aus Schuld, Selbstvorwürfen und Gewissensqualen. Seit sie ihre Arbeit als Ermittlerin wieder aufgenommen hatte, fühlte sie sich wie eine Ertrinkende, die verzweifelt Wasser trat. Es lief nicht gut, und die Polizeiführung hatte bereits ihre Belastbarkeit infrage gestellt. Oft saß sie stundenlang in ihrem Büro, unfähig, die einfachsten Dinge zu erledigen.
An einen neuen Tatort zu kommen wühlte alle schlimmen Gefühle auf. Die erste Einheit hatte um 09.30 Uhr mündlich Bericht erstattet und die Kriminaltechnik angefordert. Verdächtiger Todesfall. Zwanzigjährige Mädchen starben selten eines natürlichen Todes. Ein Knacken im Sprechfunkgerät riss Lotte aus ihren Gedanken. Der Polizeidistrikt hatte das neue digitale Kommunikationssystem noch nicht eingeführt. Bis auf Weiteres benutzten sie den analogen Polizeifunk.
»Wieso habt ihr unten auf der Straße angehalten? Stimmt was nicht?«
Lotte schüttelte ihre Dämonen ab. Hob den Kopf, richtete sich auf und nahm das Mikrofon aus der Halterung.
»Alles in Ordnung, Knut. Wir dachten, wir parken besser hier unten. Wollen lieber nicht mit dem Wagen zu dicht an den Tatort heranfahren.«
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Åse Frugård sie vom Beifahrersitz verwundert anblickte.
»Verstanden. Wir erwarten euch dann hier.«
Lotte setzte zurück und parkte auf einem kleinen Wendeplatz neben einem Trafohäuschen. Sie stellte den Motor ab, knöpfte die Uniformjacke zu und stieg aus. Schwere graue Wolken hingen über dem Meer, und die Wogen schlugen hoch an die Kaimauer von Killingøy. Schaumgekrönte Wellen brandeten gegen Sørhaugøy, wo an der Spitze der einsame Leuchtturm Tonjer Fyr auf sommerliche Museumsbesucher wartete. Alles war in Grau gehüllt, wie so oft im März. Lotte konnte sich dunkel erinnern, dass die Sonne irgendwann im Januar ein Mal kurz vorbeigeschaut hatte.
Hinter ihr wurde eine Kofferraumklappe zugeknallt. Sie drehte sich um. Die schmächtige Gestalt von Åse Frugård ertrank in einem knöchellangen gelben Regenmantel. Ein großer grauer Tatortkoffer aus Metall stand neben ihr, und Lotte musste unwillkürlich an eine verlorene Einwanderin auf Ellis Island denken. Der Metallkoffer reichte der zierlichen Frau bis zur Taille. Sie bot sich an, ihn zu tragen, erhielt aber nur ein ärgerliches Schnauben als Antwort.
Åse Frugård ertrug viel, nur eins nicht: behandelt zu werden wie eine zerbrechliche Frau. Sie fischte eine Zigarette aus der Manteltasche, stellte sich gegen den Wind und zündete sie an. Mit bissiger Miene und der Kippe im Mundwinkel griff sie nach dem Koffer und machte sich auf den Weg den steilen Hügel hinauf. Ab und zu umwehte sie eine Rauchwolke. Vermutlich, wenn sie Luft holte, dachte Lotte.
Vor der Polizeiabsperrung blieben sie stehen, und Lotte hob das Band an, um Åse durchschlüpfen zu lassen, während sie es straffer zog. Sie blieb an der Absperrung stehen und blickte Åse Frugård nach, die sich die letzten Meter zur Villa hinaufschleppte.
Ein paar Jugendliche, die sich wahrscheinlich im Haus aufgehalten hatten, als das Mädchen vor einer Stunde gefunden worden war, standen frierend vor der Absperrung. Sie waren zu dünn angezogen und nass bis auf die Haut. Lars Stople, der dienstälteste Polizist im Revier, nahm gerade ihre Aussage auf. Lotte sprach kurz mit ihm. Es war wichtig, dass die Jugendlichen sofort eine Aussage machten, bevor sie die Möglichkeit hatten, ausgiebig miteinander zu reden. Im Hintergrund stand eine Gruppe Erwachsener und unterhielt sich gedämpft. Einer von ihnen, ein gedrungener Kraftprotz Mitte dreißig, kam auf Lotte und Lars zu. Er stellte sich als Trond Anfinsen vor, Nachbar und Freund der Familie.
»Sie können gern in meinem Haus in Ruhe mit den Zeugen reden. Ich wohne gleich da hinten«, sagte er und fügte hinzu: »Die Kinder holen sich ja sonst noch den Tod.«
Trond Anfinsen zeigte auf ein ockergelbes älteres Haus ein Stück die Straße hinunter, und Lotte nickte. Drinnen könnten sie die Formulare mit den Angaben der Jugendlichen schneller ausfüllen. Sie bat Lars Stople, die Leute zusammenzurufen und mit der Arbeit zu beginnen.
Lotte hielt Ausschau nach Viljar und entdeckte ihn weiter oben auf der Straße. Er stand mit seinem Sohn zusammen, Alexander. Es sah fast so aus, als würden die beiden sich aneinanderklammern. Sie ging zu ihnen. Frugård und der Rechtsmediziner mussten ihre Arbeit im Haus erst beenden, bevor sie mit ihrer Ermittlungsarbeit anfangen konnte. Sie begrüßten sich mit einem kurzen Nicken, obwohl eine lange, feste Umarmung angebrachter gewesen wäre, in Anbetracht der Freundschaft, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte.
Viljars blonde Haare klebten ihm an den Wangen, und der hellgraue, abgetragene Mantel war an Schultern und Rücken dunkel vom Regen. Alexander zitterte wie Espenlaub. Lotte fiel sofort ein roter Kratzer in seinem Gesicht auf und dass sein Kinn an der rechten Seite geschwollen war. Der Junge trug nur einen dünnen, rostroten Pullover, und seine durchnässte Jeans hing ihm fast bis in die Kniekehlen. Sie legte ihre Hand auf seine.
»Hast du nicht irgendwo noch was Trockenes zum Anziehen?«
Alexander zog seine Hand weg. Er wirkte abweisend und trotzig.
»Liegt alles drinnen im Haus. Die Bullen lassen mich ja nicht mal meine Jacke holen.«
»He …!« Viljar sah den Jungen streng an. »Nicht in dem Ton! Auch wenn du Lotte kennst, behandelst du sie mit Respekt, wenn sie im Dienst ist.«
Alexander warf seinem Vater einen finsteren Seitenblick zu und schüttelte resigniert den Kopf. Lotte nickte kurz, um Viljar zu sagen, dass es okay war. Der Regen grub neue Bachläufe um sie herum. Nur das Geräusch von Tropfen, die in Schlammpfützen fielen, zeugte davon, dass die Minuten verrannen.
Lotte brach einen kleinen toten Zweig von einer Birke und rollte ihn zwischen den Fingern.
»Ich habe gesehen, dass dein Auto unten an der Kurve steht. Es geht schon in Ordnung, wenn Alexander sich reinsetzt und ein bisschen aufwärmt, bis der Tatort für uns freigegeben wird.«
Viljar holte eine Snusdose aus der Manteltasche, nahm eine Portion heraus und zeigte auf zwei Polizisten am Eingang zur Villa.
»Wir haben gefragt, aber sie haben gesagt, wir sollen uns hier draußen zur Verfügung halten.«
Die Vorschriften für die erste Einheit, die an einem Tatort eintraf, waren streng, wenn es um einen Leichenfund ging, und Lotte stellte fest, dass die Streife genau die Anweisungen befolgt hatte. Sie winkte einen der beiden zu sich, und er kam im Laufschritt auf sie zu. Ein junger Polizeischüler in Ausbildung. Er blieb vor ihr stehen und nahm Haltung an, als wollte er salutieren. Sie sah das Feuer in seinen Augen. Er konnte nicht einmal ansatzweise verbergen, wie spannend er die ganze Sache fand.
»Kannst du mir sagen, welche Situation ihr vorgefunden habt und welche Maßnahmen seitdem getroffen wurden?«
Der junge Mann spulte seinen Bericht herunter, als befände er sich im mündlichen Examen. Korrekt, steif und genau nach Lehrbuch. Lotte mochte ihn sofort.
»Der zentrale Bereich um den Tatort wurde gesichert und abgesperrt. Nur der diensthabende Arzt hat das Haus betreten, um den Tod des Mädchens festzustellen. Wir haben außerdem die nähere Umgebung gesichert«, fügte er hinzu.
»Okay. Gut … Wurde die S-Regel befolgt?«
Lotte bemerkte, dass der Polizeischüler die Schultern noch eine Idee mehr straffte. Das war ein Mann nach ihrem Geschmack.
»Selbstverständlich, Frau Oberkommissarin.«
Sie nickte und schickte ihn zurück auf seinen Posten. Viljar sah sie fragend an.
»Was zum Henker ist die S-Regel?«
Lotte lächelte über seine Neugier.
»Situation sichten, Stelle schützen, Spuren sichern, Sachdienliches sammeln.«
»Hä?«
»Das ist die S-Regel. Sie definiert, was die erste Einheit am Tatort tun soll. Alle Wörter fangen mit S an. Ich mag sie. Also die Regel, meine ich … Es liegt eine Art Ordnung darin, dass alle Wörter mit demselben Buchstaben beginnen.«
Viljar schüttelte den Kopf, und sie meinte zu bemerken, dass auch Alexander die Augen verdrehte.
Ihr Handy klingelte, und sie entfernte sich ein paar Schritte. Es war Åse, die sie bat, den Schutzanzug anzulegen und zu ihr ins obere Stockwerk zu kommen. Lotte winkte Viljar und Alexander zu sich. Zu dritt gingen sie zum Polizeischüler am Eingang. Lotte bat ihn, Alexanders Jacke aus dem Haus zu holen. Der junge Mann nickte nur...