Tadday | Sidney Corbett | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 198, 118 Seiten

Reihe: MUSIK-KONZEPTE

Tadday Sidney Corbett

E-Book, Deutsch, Band 198, 118 Seiten

Reihe: MUSIK-KONZEPTE

ISBN: 978-3-96707-676-9
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wenn sich das kompositorische Denken und Schaffen Sidney Corbetts (*1960) nicht so einfach auf einen Nenner bringen lässt, ist das auch ein Zeichen einer ausgeprägten Individualität: einer Individualität, die sich in einzelnen klanglichen Ereignissen ausdrückt und Corbetts Werke in ihren vielfältigen Erscheinungen durchformt, sei es als Opern und Vokalmusik oder als Orchester- und Kammermusik. Dabei setzt sich die individuelle Gestalt der Werke niemals dem bloßen Verdacht der Subjektivität aus, weil Corbetts Musik immer auch philosophisch und literarisch reflektiert einen Bezug zur Welt herstellt.
Dass sich allerdings Corbetts Musik nicht in ihrem weltimmanenten Bezug erschöpft, sondern in ihrer klanglichen Gestalt weit darüber hinaus weist, arbeitet der Band ebenso anschaulich heraus, wie er außerdem die Lehrtätigkeit des Komponisten Corbett vorstellt.
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MANFRED STAHNKE Topos und Utopik bei Sidney Corbett
Betrachtungen zum Werk Utopie und Nähe für Violine und 6 Stimmen mit Texten von Ernst Bloch Eine grundsätzliche Beobachtung könnte ich zu Sidney Corbetts Musik etwa so formulieren: Jeder Ton hat bei Corbett einen im alten tonalen Kontext möglichen, aber nicht zwangsläufigen Ort. Die Hörerin entscheidet im Moment, welche tonale (U-)Topik dahintersteckt. Anders gesagt: Bei Corbett öffnen sich dem Hörer stets gedankliche Möglichkeiten, Töne in eine bekannte musikalische Sprachlichkeit einzuordnen. Es eröffnet sich allerdings auch, andersherum gesagt, bei Corbett in wechselnder Strenge die Unmöglichkeit, einen übergreifenden alten tonalen Kontext in seine Musik hineinzuhören oder aus ihm weitflächig zu extrahieren. Corbetts Intervallsprache ist doppelt codiert: Sie enthält die alten Orte, und sie verneint sie. Beides wird im Folgenden aufzuzeigen sein. Doch zum Wort »Tonalität« muss ich etwas voranstellen, das Wort »tonal« relativierend: Die möglichen Bi- oder Tritonalitäten der allermeisten Ton-Kontexte bei Corbett sind keine ein-ein-deutigen grundtönigen Orte. Ich muss hier, einen physikalischen Terminus übernehmend, »ein-ein-deutig« schreiben, weil »eindeutig« auch eine Mehrfachdeutbarkeit sein kann. Aber »eindeutig« ist Corbetts Mehrdeutigkeit nicht. Es kann sogar sein, dass in Akkorden entweder ein tonalitäts-ferner Gesamtklang entsteht; dann gewinnt solch ein Akkord eine Webern-hafte kristalline stand-alone-Qualität, gewonnen aus einer »abstrakten« Zwölftönigkeit. Oder es kann im gedanklichen Hintergrund des Komponisten und des Hörers ein aus dem Jazz stammender »slash-Akkord« herausscheinen, der zwar Elemente von mehreren einfachen Akkorden enthält, aber wie eine Sprachformel vollkommen als Gesamtklang gültig ist. Solch ein Klang wäre wie ein Zitat aus der Jazzwelt. Die begrifflichen Probleme gehen aber noch weiter: Ich kann, Zwölftönigkeit und Jazz einmal ausklammernd, bei dem Hauptfeld Corbett’scher Denkweisen nicht einfach von »Tonalität« oder »Dur-Moll-Tonalität« schreiben, da ein sehr altes Feld aus »modalen« Skalen des Mittelalters oder der Renaissance auch noch hineinspielt. Bei Corbett ist diese Modalität sogar grundsätzlich strukturbildend. Deswegen geht es nicht, etwa von »grundtönigen Orten« zu sprechen, denn die alten Modi kennen keine Rameau’schen »Grundtöne«. Musik enthält eine komplexe Grammatik. Sie zu formulieren, ist ähnlich schwer wie bei sprachlichen Gebilden. Und ein Beziehungsgeflecht der Analyse von Musik ohne vorgeprägte, also beladene Wörter zu entwerfen, würde zu einer Chomsky-haften Grafik-Mathematik führen, noch unlesbarer als meine begrifflichen Überlegungen soeben. Ich möchte einen Zugang zu Corbetts Musik eröffnen und ihn nicht gleich zu Beginn verschließen. Deswegen breche hier ab mit dem Abklopfen von Begriffen und wende mich Corbetts Musik zu, wohl wissend, dass ich seine »Ton-Orte« nur umkreisen kann. Sie entstehen im Hören und können immer woanders sein. Sie sind beim Analysieren und sogar beim Komponieren Topoi und U-Topien zugleich. Wir bewegen uns jedenfalls, das sei zusammenfassend beschildert, bei Corbett in einem magischen Quadrat aus:   1. Satz: Absichten
Ich möchte anhand dieses Satzes eine Annäherung Corbetts an das Denken Blochs andeuten. Corbett hat Bloch-Zitate eher als Wortfetzen zu seiner Musik gesetzt, wie gleich zu Beginn »Wie nun?« und »Es ist genug«, letzteres entstehend ab T. 15. Dieser Bach’sche Choraltext dürfte von Bloch/Corbett mitgedacht sein genauso wie später in Corbetts 3. Satz das Bloch’sche »Wohin?« aus der Johannes-Passion. Die gesamten Zitate von Bloch gebe ich anhand einer Aufstellung Corbetts am Ende dieses Essays wieder. Im 1. Satz biegt Corbett/Bloch die existenzielle Frage zu einer Antwort in Richtung »schöne Wärme der Geliebten« und »Licht«. Doch zunächst sollte die Logik der Corbett’schen Musik beleuchtet werden. Zu Corbetts Sprache gehört eine starke Webern-Orientierung und damit eine inhärente Abstraktheit der Tonkonstellationen. Schauen wir auf den Violin-Beginn:   Notenbeispiel 1: Absichten, T. 1 Violine, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Henry Litolff’s Verlag/C. F. PETERS Leipzig – London – New York Wir sehen zu Beginn die Töne (dis+a)–d–dis–d–a–cis–c. Zur Webern-Sprachlichkeit gehören das erste Motiv und alle Sprünge sowie die chromatische Ausfüllung des Tonraums c/dis. Isoliert von dem nun folgenden Geschehen in den Gesangspartien könnten wir ein von jeder »Tonalität« abstrahiertes 5-Ton-Gebilde vermuten, charakterisiert durch verminderte Oktaven dis–d und cis–c, also jegliche »Tonalität« vermeidend. Jedoch passiert in den Gesangspartien Folgendes:   Notenbeispiel 2: Absichten, T. 4, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Henry Litolff’s Verlag/C. F. PETERS Leipzig – London – New York Stimme I beginnt pentatonisch, melodisch notiert: g–a–d–g–a–d–e. Stimmen II und III ergänzen dieses Feld. Stimmen IV, V und VI bilden ein kontrastierendes Feld mit den Tönen (vom tiefsten Ton aufwärts notiert): fis–gis–cis–dis. Stimme I bleibt danach T. 18 mit dem ergänzenden Ton f fast durchgehend D-dorisch, Ausnahme der Ton fis T. 27 sowie Ton gis T. 53, dies ist eine lydische vierte Stufe auf D. Beide neuen Töne sind aber auch zu denken als hinüberreichend in das kontrastierende Feld der anderen Stimmen. Ab T. 70 »meno mosso«, kurz vor Satzschluss, ergibt sich ein ähnliches Bild: Ton ais erscheint, aus dem Gegenfeld der anderen Stimmen hinüberreichend in Stimme I. Wie sieht dieses Gegenfeld insgesamt aus? Es erscheint schon im ersten Takt, also zum Violin-Einsatz, mit den Tönen (gis+dis), Stimmen IV und V. Dann wird es ergänzt durch fis und cis ab T. 4 (siehe Notenbeispiel 2). Dieses Gegenfeld zum D-Feld können wir als »Cis-Dur« denken, sobald im Folgenden die Töne eis (T. 18) und ais (T. 19) dazukommen. Damit haben wir den Tonraum cis–dis–eis–fis–gis–ais. Über allem steht das Bloch’sche »Wie nun?« wie ein Motto. Höre ich nach Cis, oder höre ich nach D? Ein weiteres Feld tut sich ab T. 7 auf. Wir können dieses ein »b-Moll«-Feld nennen, weil gern die Töne (b+des) in den Bässen stehen. T. 7 bringt zunächst nur (b+des), ab T. 18 kommen (ges+es), unirhythmisch mit f (Stimme I), später oft auch mit Ton a (wie die große Sept aus Barock und Jazz: »maj7«). Dieser Ton a über einem Bass-b erscheint wie eine idée fixe ab T. 20 und taucht im gesamten Werk immer wieder auf. Der dritte Tonraum wäre somit b–des–es–f–ges–a. Er wird gern angereichert durch die »B-dorische« kleine Sept as, die »B-Dur«-Terz d und auch die »lydische« Quart e, siehe T. 23 beim ersten massiven bitonalen Akkord:   Notenbeispiel 3: Absichten, T. 22, Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Henry Litolff’s Verlag/C. F. PETERS Leipzig – London – New York Hier sehen wir die Mehrfach-Kodierung der Felder. Der vorherige D-Zusammenhang scheint in den Stimmen I und II deutlich durch. Die Oberstimmen I bis III sind hör- und deutbar nicht nur als Teil des B-Zusammenhangs, sondern tragen das Feld D weiter, auch mit Ton es als möglicher »phrygischer« Sekunde. Das D-dorisch-Feld findet seinen melodischen Höhepunkt im T. 31 mit einem gebrochenen d-Moll-Akkord, Stimme I, bei der Textstelle »… hier (herrscht jene) schöne Wärme«. Stimme II unterstützt dieses Hören nach D-dorisch mit d–h–a. Beide Stimmen I und II besiedeln danach dieses Feld D-dorisch stetig bis T. 45. »schöne Wärme« ist eindeutig konnotiert mit dem schönen alten dorischen Modus. Jedenfalls ist die Passage in den Oberstimmen so zu hören, denn die Violine ist mit ihren fremden Tönen in die höchste Lage entrückt, und die Fremdmelodik von Stimme III, mit einer fast verspielten Enharmonik ges zu fis T. 37 zu T. 41, vermag die Leuchtkraft der beiden Soprane nicht substanziell zu stören. Jedenfalls vermute ich diesen Klangeindruck. Die Soprane tanzen ab T. 31 warm in D-dorisch über einem tiefer gelegenen Doppelfeld Dis und b-Moll: In b-Moll sind es die Bässe (Stimmen V und zumeist auch VI), oft auch der Tenor (IV), aber mit dem nach D-dorisch hinüberreichenden Ton e (lydisch in B). Ebenso ist der Alt, Stimme III, ab T. 34 dem b-Moll-Zusammenhang zugehörig. Die Stimmen II und III neigen ab T. 47 immer wieder zu Dis-phrygisch mit den Tönen dis–e–gis–h–cis. Dem Hörer werden also weiter übereinandergeschichtet die drei Felder D-dorisch, Dis-phrygisch und b-Moll angeboten. Die Violine bewegt sich in den Feldern auf D und Dis, bis sie T. 53 »intimo« eine eindeutig in dis-Moll stehende Melodie spielt, von der ich den Anfang...


Tadday, Ulrich
Ulrich Tadday, geb. 1963, Studium der Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Dortmund und Bochum; Staatsexamina, Promotion und Habilitation; seit 2002 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bremen; seit 2004 Herausgeber der Neuen Folge der "Musik-Konzepte".


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