Tadday | Giacomo Puccini | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 190, 93 Seiten

Reihe: MUSIK-KONZEPTE

Tadday Giacomo Puccini

E-Book, Deutsch, Band 190, 93 Seiten

Reihe: MUSIK-KONZEPTE

ISBN: 978-3-86916-876-0
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die geläufige Annahme, die Opern von Giacomo Puccini (1858-1924) seien sehr bekannt und weil sie so bekannt sind, wäre auch ihr Gehalt erkannt, hat sich als trügerisch erwiesen. Die Forschung ist gefordert – mehr denn je.
Umgekehrt wäre es aber genauso falsch anzunehmen, bei Erforschung ihres Gehaltes die Opern Puccinis als bekannt vorauszusetzen. Im Mittelpunkt des Heftes steht Puccinis Spätwerk, das aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird. Die Autorinnen und Autoren des Heftes nähern sich dem Komponisten Puccini sowohl als einem unbekannten Bekannten als auch als einem bekannten Unbekannten.
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LAURENZ LÜTTEKEN »Il tono della campana«
Zur Technik des nicht-linearen Erzählens bei Puccini Puccinis erste Begegnung mit Victorien Sardous La Tosca 1889, anderthalb Jahre nach der Uraufführung, löste sogleich die Idee einer Vertonung aus – die sich dann noch über Jahre hinzog, nicht zuletzt wegen Fragen der Rechte und der Bearbeitungen.1 Die weitgehende Umarbeitung des originalen, fünfaktigen Dramas in eine dreiaktige Oper fand immerhin die Zustimmung des ursprünglichen Autors. Die von Puccini angestrebte dramaturgische Stringenz hatte bedeutende Folgen, erscheint das Drama doch vordergründig als ein zugespitzt passgenaues Modell des Realismus.2 Erzählte Zeit und Erzählzeit sind weitgehend deckungsgleich, die Handlung ereignet sich an einem genau bestimmbaren Tag (17. Juni mit darauffolgender Nacht) des Jahres 1800, die Handlung der Tragödie ist blutrünstig und umschreibt genau 16 Stunden (in drei Stationen), die drei Schauplätze sind genauestens festgelegt, in Rom auffindbar – und sie liegen zudem, in Abweichung der Orte bei Sardou, in fußläufiger Entfernung. Die historischen Umstände erweisen sich als exakt rekonstruierbar, die außerordentlich blutige Schlacht bei Marengo, mit dem kurzfristigen Erfolg der Österreicher und dem anschließenden Sieg der Franzosen. Handlungsräume, Orte, Kontexte sind im Libretto folglich mit geradezu penibler Genauigkeit fixiert, und die Folter-, Mord- und Selbstmordszenen sind es auch.3 In diesem so exakten Geflecht bildet die einzige Störung – die Handlung selbst. Sie ist ebenso frei erfunden wie es die Protagonisten, ungeachtet historischer Anregungen, sind.4 Durch die Eingrenzung von Sardous großem Tableau auf die beiden Antagonisten Tosca und Scarpia sowie Cavaradossi, auf die Präzision der drei Akte wird dieser Konflikt nicht nur schärfer und prägender, er wird bestimmend und erlangt Unbedingtheit. Der Rahmen eines auf den Tag genau fixierbaren politischen Ereignisses und exakt fixierbarer Orte (die sich zudem seit 1800 nicht wesentlich verändert haben), fast genau 100 Jahre vor der Uraufführung, wird konterkariert durch eine Handlung, der jeglicher historische Bezug fehlt. Diese seltsame Grundstörung verleiht den zahlreichen ›realistischen‹ Bezügen, welche diese Handlung durchziehen, eine eigenartige Färbung. Beim Angelus-Läuten, dem ersten ›realistischen‹ Einzug in das Geschehen, verfällt der Sagrestano zwar in den Rezitationston des Gebetes – dieses allerdings ist in die Partitur regelrecht ›hineingeschnitten‹, mit Doppelstrich, Takt- und Tonartenwechsel und der ebenso überflüssigen wie ›uneigentlichen‹ Tempoangabe »Andante religioso«; der plötzliche Wechsel nach F-Dur und die Dreiklangsmotivik wirken wie eine Anspielung auf das ›Salve regina‹, das jedoch gerade nicht zitiert wird.5 Selbst das Angelus-Gebet im engeren Sinne ist ›uneigentlich‹, weil der Sagrestano auf den obligatorischen Einschub des ›Ave Maria‹ verzichtet. Cavaradossis unwirsche Frage »Che fai?« verrät also keineswegs vordergründige Ignoranz, sondern bezieht sich offenbar darauf, dass der Sagrestano das Gebet nur unvollständig spricht.6 Puccini war im Vorfeld der Partitur immer wieder um die genaue Aneignung von realistischen Details bemüht. Es ist daher umso auffälliger, dass diese, wie im Angelus, auf subtile Weise gestört werden. Es handelt sich daher nicht um ›couleur locale‹, sondern deren Gegenteil. Bei näherem Hinsehen lässt sich sogar eine ganze Reihe solcher Beispiele finden. Zwischen der eiligen Meldung des Sieges über Napoleon und dem Einzug der Leute und des Kardinals in die Kirche zur Feier eines Te Deum, des traditionellen Dankgesangs, vergehen nur wenige Minuten. S. Andrea della Valle ist als Kirche des Theatinerordens Sitz eines Kapitels, zugleich Titelkirche eines Kardinals. Die feierliche Präsenz der Beteiligten lässt sich gleichwohl nicht in Minuten erzeugen. Der in der Partitur zitierte bischöfliche Segen (Z. 83) erlangt vor dem Hintergrund der Anwesenheit eines Kardinals zwar einen gewissen Sinn, doch vertauscht Puccini die Reihenfolge des Versikels: »Adjutorium nostrum […; eigentlich an zweiter Stelle] Sit nomen Domini [eigentlich an erster Stelle]«. Das nachfolgende ›Te Deum‹ erscheint zwar als einstimmiger, quasi-choraler Gesang (Z. 87), doch hat die vermeintliche Intonation mit choralen Vorlagen nichts zu tun – sie erweist sich also gleichfalls als ›uneigentlich‹. Eine vergleichbare ›Uneigentlichkeit‹ prägt zudem die vermeintlich exakt definierten historischen Orte: Eine ›Cappella Attavanti‹ existierte in S. Andrea della Valle nicht; der Palazzo Farnese war von 1727 an diplomatische Vertretung der Bourbonen, also kein Ort des Kirchenstaates, und er barg im Obergeschoss folglich nicht die Kammer eines capo di polizia, sondern eine Bibliothek; das Gefängnis der Engelsburg lag nicht bei der oberen Plattform, und Hinrichtungen wurden wenn, dann im heute sogenannten ›Engelshof‹ durchgeführt. Die eigenartigen Brechungen, die sich hier abzeichnen, berühren die Erzählstruktur auf eine grundsätzliche Weise. Die geradezu beispielhafte Wahrung einer Einheit von Raum, Zeit und Handlung, die als ein wesentliches Merkmal von Naturalismus und Verismo gelten kann,7 wird durchkreuzt nicht nur durch die fiktiven Akteure, sondern durch wohlkalkulierte Ungenauigkeiten auf verschiedensten Ebenen. Das hat Konsequenzen für die Art der Erzählung, die sich auf den ersten Blick als zielgerichtet und linear erweist. Vor dem Hintergrund dieser ›Störungen‹ jedoch wird diese Linearität infrage gestellt, ja sogar thematisiert. Im berühmten Beginn der Oper zeigt sich dies bereits auf besonders eindrückliche Weise. Gegen die Setzung des ›Scarpia-Motivs‹ folgt ein schneller Teil mit der auffälligen Vortragsbezeichnung ›Vivacissimo con violenza‹. Das Viertonmotiv (zwei Viertel mit anschließender ›lombardischer‹ Punktierung) ist dabei so demonstrativ gegen die Taktschwerpunkte verschoben (mit einem Taktwechsel nach sieben Takten), dass der Eindruck zielgerichteter Linearität bewusst infrage gestellt wird. Es handelt sich bereits gleich zu Beginn um dieselbe ›Uneigentlichkeit‹, welche die Oper im Folgenden prägen wird. Pietro Panchinelli hat in seinen Erinnerungen festgehalten, wie genau Puccini an der historischen Wirklichkeit der Tosca interessiert war, bis zur Erkundung des Daches der Engelsburg. Der Ton der Glocke des Petersdoms, welche die Todesstunde (vier Uhr morgens) anzeigen sollte, war ihm äußerst wichtig: »Ma la difficoltà più seria fu quella di trovare il tono della campana grossa di San Pietro (er campanone) che molti avevano tentato inutilmente di indovinare e di decifrare. Ne feci parola all’amico Orlando Virgili il quale mi disse: – Sai chi ti potrebbe dare informazioni precise? – Chi? – Il vecchio maestro Meluzzi, che mi dicono abbia fatto ricerche minuziose a tal proposito.«8 Der so genau erkundete »tono della campana«, den kein Verurteilter auf dem Dach gehört hat, muss jedoch eine vorsätzliche Fiktion bleiben, ein willentlich realistischer Querstand zu einem fiktiven Zusammenhang. Er bildet folglich nicht, als Färbung, eine Wirklichkeit ab – sondern dient offenkundig dazu, das ›Uneigentliche‹ der Darstellung zu forcieren. Die Suggestion einer ungebrochenen linearen Erzählung in und durch Musik, welche die Oberfläche der Tosca beherrscht, wird in vielen Details auf fundamentale Weise durchkreuzt, ebenso absichtsvoll wie komplex, und dies vielleicht kaum zufällig im symbolischen Jahr ›1900‹. Es stellt sich die Frage, ob dieses Verfahren über die Konstellation der Tosca hinaus bedeutsam gewesen ist – und wo dessen Wurzeln liegen könnten. 1876 hörte Puccini in Pisa Giuseppe Verdis Aida, in einer Aufführung, der er 1903, kurze Zeit nach der Uraufführung der Tosca, eine Schlüsselstellung zuwies für seine Entscheidung, Opernkomponist zu werden.9 Diese Selbstinszenierung entsprach jedoch keineswegs den tatsächlichen Gegebenheiten, Puccini hörte zuvor nachweislich Rossinis Cenerentola ebenso wie dessen Tell, Bellinis Norma ebenso wie Donizettis Lucrezia Borgia.10 Der Umstand, dass ausgerechnet der Aida eine absichtsvolle, willentlich inszenierte Schlüsselstellung zugesprochen werden sollte, ist daher erklärungsbedürftig. Denn bereits hier zeichnen sich Phänomene ab, die sich um 1900 als Preisgabe einer linearen Perspektive deuten ließen. Auch in der Aida spielt die Wendung in eine Geschichte, die vor aller erfahrbarer Zeit liegt und damit als ›uneigentlich‹ gelten kann, eine herausgehobene Rolle.11 Darin unterscheidet sich Verdis Werk massiv von Exotismus-Erfahrungen, die – wie schon Félicien Davids Le désert – darauf gerichtet waren, im Fremden das Eigene zu entdecken.12 Die Tragödie um den Konflikt zwischen Liebe und Macht, zwischen persönlichen Verhältnissen und den mitunter gewalttätigen Ansprüchen einer rabiaten Staatsraison als zeitgenössischer Konflikt des...


Tadday, Ulrich
Ulrich Tadday, geb. 1963, Studium der Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Dortmund und Bochum; Staatsexamina, Promotion und Habilitation; seit 2002 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bremen; seit 2004 Herausgeber der Neuen Folge der "Musik-Konzepte".


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