E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Tabatabai Rosenjahre
10001. Auflage 2010
ISBN: 978-3-550-92019-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Meine Familie zwischen Persien und Deutschland
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-550-92019-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jasmin Tabatabai, geboren 1967 in Teheran, ist eine der angesehensten Film- und Theaterschauspielerinnen Deutschlands. Auch als Musikerin feiert sie große Erfolge. Sie besitzt sowohl die deutsche als auch die iranische Staatsbürgerschaft und lebt mit ihrer Familie in Berlin. www.jasmin-tabatabai.com
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Wo bitte ist der Damavand?
ALS DIE LUFTHANSA-MASCHINE endlich auf der Landebahn des Mehrabad-Flughafens im Westen Teherans aufsetzte, war es früher Morgen. Rose streckte sich beim Aufstehen, um den langen Flug, der ihr ganz schön in den Knochen steckte, ein wenig abzuschütteln.
Etwas benommen blieb sie am Ausstieg oberhalb der Treppe stehen. Ihre Augen wurden von der Sonne geblendet, und sie versuchte, sich an das gleißende Tageslicht zu gewöhnen. Sie wusste zwar, dass Teheran in einer Höhe zwischen 1200 und 1700 Metern und etliche Breitengrade südlicher als München lag, aber das viel intensivere Strahlen des Lichts überraschte sie doch sehr.
Rose blickte nach oben. Das war er also, der tief azurblaue persische Himmel, von dem ihr Taba in seinen Briefen erzählt hatte.
Sie stieg die Treppe hinunter und betrat nun zum ersten Mal iranischen Boden. Während die anderen Fluggäste geschäftig an ihr vorbeieilten, blieb sie andächtig stehen, sog die trockene, dünne Luft ein, die hier am Flughafen freilich nach Kerosin roch, und versuchte, alles Fremde einzufangen. Im Norden konnte sie die deutlichen Konturen der schneebedeckten hohen Gipfel des Elburs-Gebirges sehen, an dessen Fuß Teheran lag.
Vergeblich versuchte sie, unter all den Gipfeln den sagenumwobenen Berg Damavand auszumachen. Es handelte sich dabei, so hatte sie in einem ihrer Bücher gelesen, um einen erloschenen Vulkan, der mit seiner Höhe von 5671 Metern der größte Berg Irans und des gesamten Nahen Ostens war. Zudem war er einer der höchsten frei stehenden Berge der Welt.
Während Roses Blick den Damavand suchte, hatte sie plötzlich den Eindruck, als würde sie Stimmen hören, die ihren Namen riefen. Damals war der Mehrabad-Flughafen noch viel kleiner als heute, man stieg vom Flugzeug direkt auf die Rollbahn und ging dann zu Fuß zum Flughafenterminal. Hinter einer Absperrung entdeckte sie eine beachtliche Menschentraube. Es sah fast so aus, als würden sie allesamt in ihre Richtung winken.
Rose blieb stehen und blickte sich um. Sie konnte doch unmöglich gemeint sein. Oder etwa doch? Waren all diese Menschen ihretwegen hier?
Immer deutlicher wurden nun die Rufe. Ja, ohne Zweifel: »Rose, Rose!«, lauteten sie. In ihr stieg eine gewisse Panik hoch. Unter lauter Fremden hatte sie sich noch nie wohl gefühlt, und gerade jetzt fühlte sie sich müde, wie gerädert, und ihre Frisur saß nach dem langen Flug schon längst nicht mehr gut. Dieser vielköpfige Empfang passte ihr gar nicht.
Rose reagierte so, wie sie meistens auf unangenehme Situationen reagiert: mit Verdrängung. Sie drehte sich um und schaute sich noch einmal interessiert das Elburs-Gebirge an. Wo war denn jetzt dieser Damavand? Herrgott noch mal, wieso konnte man den bloß nirgends sehen?
Sie ließ sich Zeit.
Mit einem Mal hörte sie eine vertraute Stimme: »Meine Rose, da bist du ja endlich!«
Da stand er nun neben ihr: Taba. Und sie wusste überhaupt nicht mehr, warum sie jemals an der Reise gezweifelt hatte.
Taba sah noch genauso gut aus wie vor einem halben Jahr bei ihrem Abschied. Nur ein wenig magerer und noch braungebrannter als in München war er. Sie fielen sich in die Arme. Dann wandten sie sich dem Ausgang zu.
»Rose, komm! Meine Familie wartet auf dich. Sie freuen sich schon so, dich zu sehen! Komm!«
Mein Vater hatte vierzig seiner engsten Familienmitglieder und Freunde mitgebracht. Vierzig!
Im Iran ist es Sitte, jemanden, der zu einer weiten Reise aufbricht oder aus dem Ausland, aus der Fremde, aus Farang, zurückkommt, von einer großen Schar Verwandter, Freunde und Bekannter am Flughafen verabschieden oder begrüßen zu lassen. Je größer die Zahl, desto höher der Status des Reisenden. Da machten alle gerne mit, wenn sie es nur irgendwie einrichten konnten. Es war jedes Mal ein kleines Spektakel, das man sich nicht entgehen lassen wollte. Viel geflogen wurde damals ja noch nicht. Später, als man sich an die Weltreiserei der Leute gewöhnt hatte, wurden die Empfangskomitees merklich kleiner.
Für Rose, die aus einem Zwei-Personen-Haushalt kam, mit wenig Verwandtschaft und einem überschaubaren Freundeskreis, war es eine Herausforderung, plötzlich mit so vielen Leuten konfrontiert zu sein. Ihr Unbehagen drohte sogar ihre Wiedersehensfreude mit Taba zu überschatten. Unversehens sah sie sich umringt von einem Pulk ihr völlig unbekannter Menschen. Taba beeilte sich, ihr seine Familie vorzustellen:
»Sieh, das ist mein ältester Bruder Zia. Und das hier seine Frau Houri. Die Kleine ist Helis Schwester Goli, und das ist Houris Sohn Ali… Schau mal, und hier ist Zohre!«
Endlich jemand, den sie kannte. Zohre küsste Rose auf beide Wangen und umarmte sie.
»Siehst du«, sagte sie, »ich wusste, dass du kommst!«
Taba fuhr indessen unverdrossen fort. »Und das hier ist Zohres Mutter, meine Schwester Forugh. Und hier ist ihr Mann Habibollah, und das da sind Rokhi und Reza. Das Baby ist unsere kleine Setareh, der Name bedeutet ›Stern‹. Und hier sind noch meine Cousins …«
Es folgten noch etliche fremde Namen und Gesichter. Rose hatte aber längst aufgeben, sich alle zu merken, ihr schwirrte der Kopf. Alle umarmten sie herzlich und küssten sie auf beide Wangen. Manche wussten, dass sie dabei war, Persisch zu lernen, und erwarteten nun eine Begrüßung. Das Einzige, was Rose herausbrachte, war aber: »Pas kuh-e Damavand kodscha ast? – Aber wo ist denn jetzt der Berg Damavand?« In feinstem Schriftpersisch, versteht sich.
Das war nun eine recht ungewöhnliche Begrüßung und wurde von der Menge nach kurzem Stutzen mit entsprechender Heiterkeit quittiert: Ein deutsches Mädchen, mutterseelenallein in Teheran, die als Erstes wie eine Forschungsreisende nach dem Berg Damavand fragt und auch noch Persisch wie aus dem Buche spricht! Das war ein Ereignis, von dem man sich in der Familie noch zwanzig Jahre später erzählte.
Rose wusste natürlich noch nicht, dass ihr Schriftpersisch die Familie an Tabas damals schon verstorbenen Vater Mir Sadreddin erinnerte. Der hatte nämlich als Einziger im Verwandten- und Bekanntenkreis tatsächlich noch wie gedruckt gesprochen, allen Sprachmoden zum Trotz. Dass das deutsche Mädchen so sprach wie er, schien den anderen ein gutes Zeichen.
Das waren sie also, Tabas Verwandte. Herzlich waren sie und unverkrampft. Und viele – sehr viele …
Ankunft im Stadthaus
Bald darauf fuhr ein gutgelaunter Konvoi durch den schönen sonnigen Morgen Richtung Teheraner Innenstadt. Die Straßen waren von Platanenbäumen gesäumt und die Häuser hinter den Alleen fast alle aus hellen, lehmfarbenen Klinkersteinen gebaut. Ihre Farbe unterschied sich nur geringfügig von dem Lehmboden, den man überall sah und der sich auffällig gegen den blauen Himmel abhob. Da die Häuser nur zwei oder drei Stockwerke hatten, wirkte Teheran gar nicht wie eine Großstadt, eher wie ein sehr groß geratenes Dorf, das sich bis zu den Bergen hin in die Länge zog.
Sie fuhren zum Stadthaus von Tabas Schwester Forugh. Hier sollte Rose die ersten zwei Wochen ihrer Reise zubringen und sich in aller Ruhe akklimatisieren. Erst dann würden sie in den Norden fahren, um Tabas Ländereien zu besuchen. Taba selbst wollte schon eine Woche früher dorthin aufbrechen, um alles für ihre Ankunft vorzubereiten.
Forughs Haus lag am nördlichen Rand des Zentrums unweit der alten Schemiran-Straße. Es war der Winterwohnsitz ihrer Familie und Dreh- und Angelpunkt der gesamten Großfamilie, die sich dort oft und gerne traf.
Taba erzählte Rose, dass es im Sommer in Teherans Innenstadt manchmal so heiß werde, dass der Asphalt Blasen warf und man auf dem Kotflügel eines Autos Spiegeleier braten könne. Die Familie ziehe dann gerne in ihr altes Haus in Schemiran um, einem ruhigen, grünen Vorort von Teheran, ungefähr fünfzehn Kilometer weiter nördlich und einige Hundert Meter höher gelegen. »Schemiran liegt direkt am Fuß der Berge, die Luft ist dort kühler und klarer«, erzählte er und beschrieb, wie sie diese Tage meistens in ihrem großen Garten verbrachten, umgeben von alten Platanen und Kiefern, bis die Temperaturen in der Innenstadt wieder erträglicher wurden. Jetzt, Mitte Januar, konnte sich Rose nicht so recht vorstellen, dass es hier im Sommer tatsächlich dermaßen heiß sein konnte. Die Temperaturen waren milder als zu Hause, aber doch empfindlich kalt.
Gleich nach der Ankunft bei Forugh wurde Rose in den großen Wohnraum geführt, den Salon, wo Tee aus silbernen Teeglashaltern, Schirinis (persische Süßigkeiten) und frisches Obst gereicht wurden. Sie staunte über die wunderschönen Teppiche, die überall im Haus lagen. Schon als Kind hatte sie Perserteppiche geliebt und ihre Muster stundenlang bei ihrer Tante in Ulm studiert. Aber solche Prachtexemplare, riesengroß und fein geknüpft, in so vielen verschiedenen Farben und Mustern wie hier, hatte sie noch nie gesehen.
Es würde Spaß machen, alles darüber zu lernen – doch jetzt überfiel sie schlagartig eine...