Sznaider | Fluchtpunkte der Erinnerung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Sznaider Fluchtpunkte der Erinnerung

Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-446-27350-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was unterscheidet Rassismus und Antisemitismus? Natan Sznaider über das Verhältnis des Holocaust zu den Verbrechen des Kolonialismus.


International wird schon lange über das Verhältnis von Kolonialverbrechen und Holocaust diskutiert. Werden jüdische Opfer in der Erinnerung gegenüber den afrikanischen Opfern bevorzugt? Die Debatten rund um das Humboldt Forum zwingen nun auch Deutschland, sich der kolonialen Vergangenheit zu stellen. Was unterscheidet Rassismus von Antisemitismus? Hannah Arendt und Edward Said waren nicht die Einzigen, die schon früher solche Fragen gestellt haben. Bei ihnen findet Natan Sznaider Ideen und Argumente, um die heutige Diskussion voranzubringen. Wird es am Ende möglich sein, der Opfer des Holocaust und des Kolonialismus zu gedenken, ohne Geschichte zu relativieren?
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Karl Mannheim:
Ungar, Jude, Deutscher
Man würde es sich zu einfach machen, beiden Seiten recht zu geben. Ich möchte in diesem Essay zeigen, wie es historisch und soziologisch zu dieser intellektuellen Starre zwischen den Diskussionen um Holocaust und Postkolonialismus gekommen ist. Ich will versuchen, die Formen des Wissens über Holocaust, Völkermord und Kolonialismus, wie es die Jüdischen Studien und die Postcolonial Studies hervorbringen, begreiflich zu machen und zu zeigen, wie unterschiedlich diese Realitäten beschrieben werden. Dass ich mich hier auf einen wissenssoziologischen Ansatz beziehe, ist kein Zufall, denn dabei handelt es sich nicht um eine beliebige soziologische Tradition, sondern um einen Blick auf die Welt, wie er sich in den jüdischen Lebenswelten der Weimarer Republik vor der Katastrophe des europäischen Judentums ausgebildet hat.1 Aus dieser Perspektive sollen die Auseinandersetzungen zwischen Partikularismus und Universalismus beobachtet werden. Beginnen wir mit Karl (Károly) Mannheim. Dessen Blick war nicht nur ein soziologischer, es war ein jüdischer Blick, der Blick des Fremden, des gleichzeitig dazu- und nicht dazugehörenden Menschen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Budapest geboren, war er Sohn eines von dort stammenden jüdischen Textilhändlers und einer in Ungarn lebenden Jüdin aus Deutschland. Mannheim studierte zwischen 1911 und 1916 deutsche und französische Literaturgeschichte. In den Jahren 1916 und 1917 stand er in enger Verbindung mit Georg Lukács, war Teil des so genannten »Sonntagskreises«, zu dem sich vor allem jüdische Intellektuelle wöchentlich trafen, um Themen der Philosophie und Kunst zu diskutieren. 1918 promovierte er über ein Thema der Erkenntnistheorie, danach arbeitete er kurz während der Ungarischen Räterepublik als Lehrbeauftragter an der Universität Budapest. Nach der Niederschlagung der Räterepublik emigrierte Mannheim über Wien nach Deutschland. Die Räterepublik dauerte 133 Tage. Viele Juden waren bei dieser revolutionären Bewegung dabei, was dann die konterrevolutionäre Bewegung unter Miklós Horthy zum Anlass für antisemitische Hetze nahm. Das betraf auch Mannheim.2 Seine freundschaftliche Beziehung zu Georg Lukács, die sich daraus ergebende Verbindung zur kurzlebigen Revolutionsregierung von Béla Kun, all das machte aus Károly nun Karl  Mannheim, der als Kollaborateur mit der Revolution 1919 das Land verlassen musste, obwohl er nie Revolutionär war. Und seine Sprache wurde Deutsch. Er war als Ungar, als Jude, als Exilant, als Flüchtling, als Intellektueller ein so genannter freischwebender Intellektueller, der politisch unabhängig war. Mannheim interessierte sich für die Strukturen des Denkens, für dessen Hintergründe, Kontexte, Sinnzusammenhänge. In seiner Habilitationsschrift aus dem Jahre 1925 über den Konservatismus als politische Ideologie unterscheidet er zwischen dem, was er »Traditionalismus« nennt — einer unreflektierten psychologischen Grundhaltung, die auf die Bewahrung des Bestehenden pocht —, und dem »Konservatismus« als einer reflektierten Reaktion auf die Moderne, die sich im ständigen Dialog mit dem Liberalismus der Aufklärung befindet.3 Der Grundgedanke, dass politische Denkstrukturen einander in Wechselwirkung definieren, geht dann auch in seine 1929 erschienene Essaysammlung Ideologie und Utopie ein, die seinen Ruf als neuer Star der Soziologie in Deutschland festigte. Die Soziologie sollte die Philosophie als Erkenntniswissenschaft ablösen, denn Mannheim glaubte nicht, dass man noch nach einer fundamentalen Wahrheit suchen könne. Möglicherweise hat schon dieses Denken mit einer mehr oder weniger bewussten Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft zu tun: Karl Mannheim war Jude, aber kein gläubiger Jude. Er ging nicht in die Synagoge, glaubte eher nicht an Gott. Er sah die Soziologie als eine Übung, ohne einen festen Ausgangspunkt der Erkenntnis in Bewegung zu denken. Mannheims Judentum freilich wurde nur selten als zentrale Voraussetzung seiner Wissenssoziologie verstanden. Sie galt eher als eines jener für das Klima der Weimarer Republik so typischen kulturellen Experimente. Aber wenn wir die Wissenssoziologie als Zugang zum Streit der Weltanschauungen auch als einen jüdischen Ansatz verstehen, können wir gesellschaftliche Debatten, die uns sonst eher als beliebig erscheinen, besser verstehen und damit auch einen Schlüssel zu den aktuellen Debatten finden. Einige seiner Kollegen wollten Mannheims Soziologie als jüdisch begreifen und verstehen. »Er hatte manche Eigenschaften eines alttestamentlichen Propheten. […] Ich hatte mit ihm über das Wesen der Freiheit gestritten; ich glaube, dass ich nicht fehl gehe, dass seine Freiheitsidee etwas anderes war als das, was denjenigen, deren Vorfahren nicht aus dem Ghetto stammten, vorschwebt.«4 Dies schreibt Leopold von Wiese in einem Nachruf auf Karl Mannheim, veröffentlicht im ersten Jahrgang der neuen Kölner Zeitschrift für Soziologie 1948. Der deutsche Soziologe Leopold von Wiese war Vorsitzender der 1946 wiedergegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der jüdische Soziologe Karl Mannheim floh 1933 aus Deutschland und verstarb 1947 in London. Anlässlich der Wiedergründung der Gesellschaft konstatierte von Wiese über die Jahre davor in Deutschland: »Und doch kam die Pest über die Menschen von außen, unvorbereitet, als heimtückischer Überfall. Das ist ein metaphysisches Geheimnis, an das der Soziologe nicht zu rühren vermag.«5 Von Wiese, so heißt es, war mit Anstand durch die NS-Zeit gegangen. Er und Mannheim kannten sich, und in der Tat stritten sie schon während der Weimarer Zeit über das Wesen der Freiheit und andere soziologische Fragen. Was trennte diese beiden Soziologen, der eine 1876 im niederschlesischen, damals deutschen Glatz, der andere 1893 in Budapest geboren? Was meinte von Wiese mit den »Eigenschaften eines alttestamentlichen Propheten«, und was hatte er wohl im Sinn, als er über die verschiedenen Freiheitsideen sprach? Welche Freiheitsidee passt besser zu denjenigen, deren Vorfahren aus dem Ghetto stammen? Bedient diese Aussage von Wieses schlicht ein antisemitisches Klischee, oder steckt dahinter vielleicht doch eine soziologische Beobachtung über die Denkweise der Juden? Mannheims Karriere ist durchaus nicht typisch für die akademischen Karrieren von Juden in dieser Zeit. Er habilitierte sich bei Alfred Weber, dem Bruder von Max Weber, in Heidelberg in den Jahren 1922 bis 1925 und unterrichtete dort als Privatdozent, bis er 1930 den Ruf als Professor für Soziologie an die Universität Frankfurt erhielt, was für einen Juden in dieser Zeit nicht selbstverständlich war. Vielleicht kann man trotzdem vorsichtig behaupten, die Weimarer Soziologie sei eine »jüdische Wissenschaft« gewesen, wie sie nicht nur von rechten Kreisen während der Zeit der Weimarer Republik be- und verurteilt wurde. Dieses Attribut war bereits lange vor dem nationalsozialistischen Regime geläufig. Ob es sich bei dieser Soziologie um eine jüdische handelte, das ist eine Frage, die nicht nur die Soziologie Mannheims betrifft, sondern zugleich das Tor zu den Rätseln und Unbegreifbarkeiten des Verhältnisses der jüdischen Kultur zum deutschen und europäischen Raum aufschließt. Und es geht natürlich um die Frage des Partikularismus, der Einzigartigkeit jüdischer Geschichte und Erfahrung. Diese Fragen werden bis heute gestellt, und sie stehen auch im Hintergrund für die Fragen zur jüdischen Emanzipation und des Zionismus als nationale Befreiungsbewegung. Daran knüpft sich die Frage nach dem modernen Begriff der Nation und wie innerhalb der Nation individuelle Freiheit garantiert werden kann. Kann daher eine bestimmte Form der Soziologie als ein Ausdruck moderner, säkularer jüdischer Kultur verstanden werden? Gab und gibt es eine jüdische Nation ohne Territorium, die verstreut und über ...


Sznaider, Natan
Natan Sznaider, 1954 in Mannheim geboren, lehrt seit 1994 als Professor für Soziologie an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv. Jüngere Publikationen: "Gesellschaften in Israel: Eine Einführung in zehn Bildern" (Suhrkamp 2017), "Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte" (edition suhrkamp 2019, hg. mit Christian Heilbronn und Doron Rabinovici) und "Politik des Mitgefühls. Die Vermarktung der Gefühle in der Demokratie" (Beltz Juventa 2021).

Natan Sznaider, 1954 in Mannheim geboren, lehrt seit 1994 als Professor für Soziologie an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv. Jüngere Publikationen: Gesellschaften in Israel: Eine Einführung in zehn Bildern (Suhrkamp 2017), Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte (edition suhrkamp 2019, hg. mit Christian Heilbronn und Doron Rabinovici) und Politik des Mitgefühls. Die Vermarktung der Gefühle in der Demokratie (Beltz Juventa 2021).


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