E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Sznaider Die jüdische Wunde
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-446-28096-0
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Leben zwischen Anpassung und Autonomie
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-446-28096-0
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das jüdische Dilemma zwischen Assimilation und Eigenständigkeit – von der Aufklärung bis heute
Die Deutschen lieben Nathan. Doch Lessings Bühnenfigur konnte die Hoffnung, dass es eines Tages keine Rolle mehr spielen würde, ob jemand Jude sei, nicht erfüllen. Und als Hannah Arendt 1959 den Lessing-Preis entgegennahm, sprach sie sich in ihrer Dankesrede ausdrücklich gegen diese Idee der Assimilation aus, die am Ende zum Verschwinden jüdischer Identität führen würde. Das jüdische Dilemma zwischen Anpassung und Autonomie konnte seit der Aufklärung nicht aufgelöst werden – auch der Staat Israel steht in dieser Spannung zwischen säkularer und religiöser Identität. Natan Sznaider ist überzeugt, dass dieser Widerspruch nie verschwinden wird. Was spricht dagegen, ihn zu akzeptieren und anzuerkennen, dass wir immerhin als Ungleiche gleich sind?
Autoren/Hrsg.
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I Nennen wir ihn Nathan
Unbekannte Welten
Titelbild »Jüdisches Leben in Deutschland. Die unbekannte Welt nebenan«, SPIEGEL GESCHICHTE 4/2019 Die unbekannte Welt nebenan. So titelt der SPIEGEL im April 2019 sein Sonderheft GESCHICHTE über jüdisches Leben in Deutschland. Zwei Herren im besten Alter, in ein Gespräch vertieft, schauen sich an und reden, die Welt um sie herum scheint sie nicht zu interessieren. Eine gewöhnliche Alltagsszene? Ganz im Gegenteil. Die beiden sind nicht Teil der Welt. Sie scheinen die Wirklichkeit zu ignorieren und sind ganz auf sich selbst bezogen. Sie tragen abgewetzte Kleidung und Schuhe, Äußerlichkeiten interessieren sie offenbar nicht. Im Hintergrund ist der Hauseingang einer vermutlich Berliner Straße zu erkennen, darübergeblendet ein großer Davidstern. Das Foto macht sie sichtbar: Die beiden sind unverkennbar Juden, »Ostjuden«, Juden also, die aus Osteuropa nach Deutschland eingewandert sind, um dort zu bleiben, was dann auch ein Problem für andere, weniger sichtbare Juden wird. Denn diese Juden waren in der Tat erkennbar anders. Mit dem Begriff »Ostjude« im Gegensatz zu den unsichtbaren »Westjuden«, die geglaubt hatten, in eine neue Welt aufgebrochen zu sein, verbindet sich Sichtbarkeit, Tradition, Rückschritt, Partikularismus. Das mag auch der Blick des Fotografen gewesen sein. Namen haben sie keine, sie sind — wie der Titel bekundet — unbekannt. Ich will einen der beiden Nathan nennen, denn dieser Name ist in Deutschland eine vertraute Ikone, obwohl nicht weit verbreitet. Ein Name, der nicht unbedingt mit osteuropäischen Juden assoziiert wird, ganz im Gegenteil: Nathan ist mehr als ein Vorname. Er ist gerade in Deutschland eine Ikone, bekannt als Nathan der Weise, eine fiktive Figur, geschaffen 1779 von Gotthold Ephraim Lessing1, eine Figur, die für vieles steht und stehen muss, nämlich für Aufklärung und Toleranz, für Kunst und Theater. Lessings Nathan der Weise ist nach wie vor eine der wichtigsten Projektionsflächen jüdischen Lebens in Deutschland und hat sogar die Jahre 1933 bis 1945 überlebt. Nathan der Weise lebt Ende des 12. Jahrhunderts während der Zeit der Kreuzzüge in Jerusalem. Deutsche Schüler und Schülerinnen glauben ihn aus dem Unterricht zu kennen, die Theater arbeiten sich immer noch an ihm ab. Er steht für das Gute im Menschen, nicht weniger eine jüdische Ikone als Anne Frank.2 Er steht für gegenseitige Anerkennung, Toleranz, Aufklärung, für die Idee, dass Juden und Jüdinnen Menschen wie andere Menschen sind. Lessings Nathan lebt aber nicht nur im 12. Jahrhundert in Jerusalem, sondern auch Ende des 18. Jahrhunderts in Berlin. Dort heißt er Moses Mendelssohn, gilt als der vielleicht wichtigste Protagonist der jüdischen Aufklärung und des Versuchs, das moderne Judentum universal zu verstehen und aus den rückständigen Zwängen des Partikularismus zu befreien. »Wir träumten von nichts als Aufklärung«, so der Titel der Ausstellung über Moses Mendelssohn in Berlin im Jahr 2022. Für Mendelssohn war die Aufklärung ein universeller und deutscher Traum. Universal hieß für ihn in erster Linie deutsch, deshalb übersetzte er die Hebräische Bibel ins Deutsche.3 Sie wird, mit hebräischen Buchstaben gedruckt, in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts veröffentlicht. Nichts ist Mendelssohn wichtiger, als dass Juden Deutsch lesen und sprechen können. Für ihn ist Deutsch die Sprache der Aufklärung. Unser Nathan auf dem Spiegel-Titel kann kein richtiges Deutsch. Er spricht Jiddisch, die Sprache der Ostjuden. Wie Nathan ist auch Mendelssohn eine jüdische Traumfigur, weise, tolerant, fromm. Er ist keiner dieser Ostjuden, wie ihn der Spiegel auf dem Titel platzierte, dessen Äußeres, rückständig und aus der Zeit gefallen, schon Ende der 1920er Jahre, als das Foto aufgenommen wurde, Unbehagen auslöste. Viele dieser Ostjuden sprechen kein richtiges Deutsch, sondern »mauscheln« ein für viele eher unverständliches Jiddisch, eine Sprache, die nicht nur von Antisemiten jüdischen Hausierern angedichtet wird. Das sind nicht die Juden, die Bürgerrechte und Emanzipation für sich reklamieren können. Mendelssohn jedoch steht genau für diese Bürgerrechte, die Juden und Jüdinnen in »Mitbürger« verwandeln, er steht für Emanzipation, für die Befreiung der Juden aus ihrem selbst auferlegten Joch. Ein jüdischer Sokrates, wie ihn Lessing liebevoll nennt. Unser Nathan ist wahrhaftig kein Sokrates, und die deutsche Bibelübersetzung des Moses Mendelssohn wird er gewiss auch nicht lesen. Auch die Namen Lessing und Kant kennt er vermutlich nicht, dafür Namen, die in der deutschen Philosophie und auf deutschen Bühnen eher unbekannt sind. Sie gehören nicht zu den Juden, die Teil werden von der ihnen unbekannten christlichen Welt nebenan. Und sie wollen das auch nicht. Damals wie heute müssen sie sich von Nichtjuden und Juden anhören, dass sie in Sprache, Kleidung sowie Riten und Gebräuchen partikular bleiben wollen, dass sie rückständig sind, anders als Moses Mendelssohn oder Nathan der Weise, dass sie weiter in einem Stammesdenken gefangen sind, aus dem man sich eigentlich befreien sollte. Und nach Maßstäben der aufgeklärten Moderne sind sie tatsächlich rückständig. In den Augen derer, die sie als Fremde sehen, sind sie keine Europäer, sondern orientalische Fremdlinge, Semiten, die man nicht nur ablehnen kann, sondern zurückweisen muss. Ihre Sichtbarkeit macht sie verletzlich. Ihre offen praktizierte Religiosität, ihre traditionelle Kleidung, ihre Wohnverhältnisse verweisen auf weitere Unterscheidungen des Fort- und Rückschrittlichen. Die Sichtbarkeit dieser Merkmale löst bei anderen, unsichtbaren Juden, den Nachfolgern des weisen Moses Mendelssohn, der selbst noch ein sichtbarer Jude war, Panik aus. Sie glauben, im öffentlichen Raum ihren Partikularismus beherrschen und kontrollieren zu können. Diese Juden und Jüdinnen sind stolz auf ihre Assimilation, sie fühlen sich angekommen, sprechen ein klares Deutsch, führen Geschäfte, gehen auf Universitäten, schreiben Bücher und Zeitungsartikel, haben Liebschaften mit nichtjüdischen Menschen, feiern Weihnachten und fallen für das deutsche Vaterland. Manche konvertieren zum Christentum, um auch religiös universell zu sein. Sie glauben fest an ihre Unsichtbarkeit als Juden und Jüdinnen. Sie können sich auf der Straße bewegen, ohne als Juden oder Jüdinnen erkannt zu werden. Manchmal funktioniert ihr Name wie eine Klingel, aber auch den kann man gegebenenfalls ändern. Sie wollen mit Nathan und seinem Freund möglichst wenig zu tun haben, denn sie verstehen sich als fortschrittlich und aufgeklärt. Diese Unsichtbarkeit aber erweist sich als Illusion, die auf dem Irrglauben beruht, unsichtbare Juden seien sicher vor den Angriffen der Nichtjuden. Sie glauben, dass man, geschützt von einer Tarnkappe, weniger angreifbar sei. Sie sind bürgerlich und redlich, Mitbürger im besten Sinne. Nathan der Weise trägt diese Tarnkappe der Aufklärung und der Toleranz, unter der er sich auf ein Gespräch mit dem Sultan einlassen kann. Er spricht die Sprache Lessings und wird in diesem makellosen Deutsch zu einer Figur des jüdischen Deutschen, der nicht von anderen Deutschen unterschieden werden kann. Er wird auch gerne in modernen Designeranzügen auf die Bühne gestellt, um die Zeitlosigkeit der Figur zu unterstreichen.4 Nathan und der Sultan sprechen zunächst über Geld und Kredite, die der Sultan braucht, aber schon bald geht es um die Wahrheit: »Mir denn? — Was will der Sultan? was? — Ich bin Auf Geld gefaßt; und er will — Wahrheit. Wahrheit!«5 Juden sind fürs Geld zuständig, das gilt auch bei Lessing als normal. Dass Juden aber auch Wahrheit verhandeln, mag Ende des 18. Jahrhunderts neu sein. Nathan soll Saladin erklären, welcher Glaube nun der wahre sei. Darauf ist Nathan nicht vorbereitet. Er will dem Sultan Geld bringen und muss ihm nun vorsichtig die Wahrheit...