Szmaglewska | Die Unschuldigen in Nürnberg | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 536 Seiten

Szmaglewska Die Unschuldigen in Nürnberg


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7317-6214-0
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 536 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6214-0
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In einem sturmgebeutelten Militärflugzeug reist Seweryna Szmaglewska aus den Trümmern Warschaus nach Nürnberg, wo die Überlebende des Frauenlagers AuschwitzBirkenau am 27. Februar 1946 vor dem Internationalen Militärgerichtshof gegen die nationalsozialistischen Kriegsverbrecher aussagen wird. Sie ist eine von nur zwei Augenzeugen aus Polen, die vor dem Tribunal über das Erlittene sprechen dürfen. Im kriegszerstörten, vorfrühlingshaften Nürnberg fragt sich die junge Frau besorgt, wie sie den Albtraum der KZ-Realität in Worte fassen und der enormen Verantwortung gegenüber ihrem zerstörten Heimatland gerecht werden soll. Untergebracht im Grand Hotel, wo sich die amerikanischen Offiziere - und mit ihnen die Zeugen, Verteidiger und Korrespondenten aus aller Welt - abends amüsieren, wird sie von dunklen Erinnerungen verfolgt: Sie misstraut der deutschen Bevölkerung, staunt angesichts der Ungerührtheit der Angeklagten, und bei Görings theatralischem Auftritt vor dem Gericht schaudert ihr. Wird es für ihre Generation Gerechtigkeit und eine Zukunft geben? In »Die Unschuldigen in Nürnberg«, halb Erlebnisbericht, halb Roman, schildert die später zu literarischem Ruhm gelangte Schriftstellerin Seweryna Szmaglewska aus erster Hand eindringlich, präzise und in bisher ungekanntem Detail einen der wichtigsten Prozesse der Nachkriegszeit.

Seweryna Szmaglewska wurde 1916 im polnischen Przyg?ów geboren. Sie besuchte ein Lehrerseminar im nahegelegenen Piotrków Trybunalski und studierte bis zum Kriegsausbruch Soziologie in Warschau. Von 1942 bis 1945 war sie im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau inhaftiert, 1946 sagte sie als eine von zwei Zeugen aus Polen bei den Nürnberger Prozessen aus. Nach dem Krieg lebte sie einige Jahre in ?ód?, später in Warschau, wo sie eine erfolgreiche Schriftstellerin wurde und 1992 starb.
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Kapitel 1

Wir fliegen hin. Der starke Wind hält unsere Maschine in seinen Krallen und versetzt sie in starke Schaukelbewegungen, der Schnee beklebt von allen Seiten die Fenster der Pilotenkabine und die verglasten runden Öffnungen über den Passagiersitzen. Ich schlafe nicht. Ich warte voller Zuversicht auf den Moment, in dem das Flugzeug endlich die Bäuche der sich ballenden Wolken durchbohrt und wir Nürnberg erreichen.

Wieder ein Schaukeln. Mein Nachbar kommt mir immer näher, er wälzt sich nach links, sein flaumiger Kopf hängt schlaff über die Sessellehne, sein zerzaustes Haar fällt ihm in die Stirn. Ich höre sein gesundes Schnarchen direkt an meiner Wange. Er öffnet für einen Moment die Augen, die vom Schlaf so hell sind, dass sie fast weiß wirken, und sagt mit einem Lachen: »Und was jetzt? Herr Grabowiecki hat heute Morgen im Hotel auf mich aufgepasst, ja, das hat er schon, aber das Wetter ist dadurch nicht besser geworden, wie man sieht. Ha! Es stimmt, ich habe den Zimmerschlüssel wieder eingesteckt. Die hölzerne Birne ragte aus meiner Tasche wie eine Faust. Und davor hatte ich sie zwei Tage hintereinander im Auto und im Flugzeug dabei. Was sagen Sie dazu?«

Ich schweige.

Er spricht laut weiter: »Pure Zerstreutheit. Zweimal waren wir schon fast über Nürnberg und mussten umkehren. Aber waren diese Notlandungen wirklich meinetwegen? Wegen meiner Vergesslichkeit? Ich bin kitzelig wie ein Bär, und dieser Pedant tastete mich ab, um rauszufinden, ob ich den Schlüssel wieder mitgenommen hatte!«

Er wartet einen Moment, seine Augenbrauen zucken in einem Anflug jungenhafter Freude.

»Aberglaube! Heute Morgen lauerte er mir auf und sagte: Legen Sie dieses verdammte Ding hin, Ihretwegen hatten wir Navigationsprobleme, sind von der Route abgekommen und mussten die Nacht hier verbringen. Jeder lässt seinen Schlüssel an der Rezeption, nur Sie wollten mit Ihrem und diesem Holzkürbis nach Nürnberg fliegen. Also gab ich ihn ab. Wie es sich für einen Soldaten gehört, der Befehle gewohnt ist. Und? Hat es geholfen? Hexerei! Der Morgen war sonnig – und jetzt? Ein Sturm wie hundert Teufel! Der Aberglaube hat das Schneegestöber auch nicht aufhören lassen. Ich werde Kaiser von China, wenn wir Nürnberg glücklich erreichen. Eine Hölle ist das! Eine weiße Hölle! Wieder werden wir auf irgendeinem Militärflughafen feststecken. Wenn wir überhaupt ein Stück Land zum Landen finden. Drei Tage lang das goldene Prag … Die Karlsbrücke …«

Ein plötzlicher Sprung der Maschine und eine spürbare Neigung der Flügel.

Ist es wahr, dass wir nach Nürnberg fliegen? Ist es möglich, dass wir dort auf der Anklagebank eine Gruppe von Deutschen sehen werden, die zusammen mit Hitler es als nötig befanden, etwas so Ungeheuerliches tun zu müssen, das sich nicht in Worte fassen lässt, das aber das Gedächtnis mit Visionen von einer Grausamkeit verfolgt, die man weder im Wachzustand noch im Schlaf vergisst?

Die Anklagebank. Lächerlich. Niemand wird diejenigen finden, die angeklagt werden sollten, es gab zu viele Mitverantwortliche. Ich bin übrigens nicht so sehr an dem Urteil selbst interessiert; es ist mir wichtiger, dass die alte Ordnung der Welt wiederhergestellt wird, dass eine Wiese ihre ursprünglichen Eigenschaften zurückbekommt, damit dort, wo Menschen erschossen wurden, die Erde nicht unter dem Grün des Grases anschwillt.

Die Motoren stöhnen, brüllen, heulen.

Ich versuche wieder einzuschlafen, aber das ist nicht so einfach. Das Bewusstsein unterliegt Deformationen, verliert seine Form, wird zu einem auf dem Glas eines Mikroskops verschmierten Protozoon.

Ich lehne die Stirn gegen die geballte Faust. Das Rumpeln des Flugzeugs umgibt mich von allen Seiten; es verursacht ein Druckgefühl in den Ohren, massakriert die Luft, würgt die Kehle. Es ist schon der dritte Tag hintereinander, an dem wir seit dem Morgen das Gedröhn des Flugzeugs und den Schnee erleben. Eine graue Nichtexistenz in den ersten Stunden des Tagesanbruchs, der angeblich noch nicht richtig begonnen hat. Die Passagiere schweigen die meiste Zeit, versuchen, noch etwas Schlaf zu bekommen, versunken in die grauen Sessel, in den grauen Innenraum der Kabine, in die grauen Schatten der zurückweichenden Nacht. Sie wirken selbst silbergrau, grauhaarig, vergeistigt, blutleer.

Ich hebe den Kopf und sehe direkt neben mir, im rechten Fenster, die Wipfel von Nadelbäumen, behängt mit langen Zapfen, bedeckt mit Schnee, und ein Stück weiter die senkrechte Kruste eines Felsens und ein vereistes, mit frischem Schneepulver überzogenes Geröll.

Wieder ein Sprung des Flugzeugs. Werden wir mit diesem Felsen kollidieren oder über seine Spitze und die ganze unsichtbare Bergkette drübergehen?

Ich denke daran ohne Angst. Ich habe vor Langem aufgehört, mich vor allem zu fürchten – es war in dem Moment, in dem ich keine Angst mehr vor Hitlers Marionetten haben musste. In einer über den Bergen schwebenden Schneeflocke fortgetragen, schaue ich jetzt ständig zum Fenster hinaus. Ich weiß nicht, ob die Fantasie mein Verbündeter oder mein Feind ist, aber ich empfinde es als sehr angenehm, mir vorzustellen, dass ich in einer Gondel der Seilbahn sitze, die zum Kasprowy Wierch1 fährt und gerade die Stelle passiert, wo so schön ein Dickicht von Fichtenbaumwipfeln emporragt. Ich bin also in Polen und mache einen Ausflug in die Berge …

Ein weiteres Poltern, Brummen und Dröhnen. Schmerzen in den Ohren.

»Oho! Wir zerschellen! Wir fliegen zu unserem lieben Gott!«, ruft jemand, in wackeligen Schritten vorbeilaufend.

Erst jetzt bin ich vollkommen wach. Ich nehme gerade noch rechtzeitig meinen Arm von der Sessellehne, bevor der riesige, mit silbernem Haargestrüpp bedeckte Kopf, der wie eine farblos gewordene Sonnenblume aussieht, Zeit hat, sich in seiner Kraftlosigkeit wieder auf meine Seite zu wälzen. Die Form der zerzausten Mähne erinnert an die Ponys der Knaben aus der mittelalterlichen Piasten-Dynastie (oder der Krieger: gerade abgeschnitten, der Helmlinie entlang); das Grau bildet unregelmäßige Streifen im Gewirr der pechschwarzen, glänzenden Zottel. Es dringt zu mir ein scharfer Geruch von Rauch, Tabak, Segeltuch und Schweiß – als hätte ich mich an ein Lagerfeuer gestellt. Ich wende mich mit Widerwillen ab und versuche wieder einzuschlafen. Der riesige Kopf des Nachbarn kehrt auf den alten Platz zurück, wodurch der Ärmel seiner Uniform mit einem roten Halbkreis sichtbar wird.

Ich lese Buchstabe für Buchstabe das darauf stehende vertraute Wort und beginne, Zuversicht zu empfinden. Das Flugzeug hat nicht die Absicht zu zerschellen; es brummt, rumpelt und drängt vorwärts.

Im rechten Fenster sind keine Nadelbäume und Felsen mehr zu sehen, es gibt nur den Himmel, schwer von Wolken, verdeckt durch den wirbelnden Schnee. Die Spitzen der Fichten haben wir jetzt auf der linken Seite, es scheint, dass wir durch unsere Flugkraft gleich die höchsten Äste abschneiden werden. Dicht vor uns erhebt sich ein steiler Berg, doch ich habe seltsamerweise keine Angst vor einer Kollision – mein Land hat seine Freiheit wiedererlangt, ich bin von einem Ort zurückgekehrt, an dem die Menschen das Recht hatten, andere Menschen zu erniedrigen und zu töten, das halbe Europa wurde von der Macht der wahnsinnigen Deutschen befreit. Ich denke darüber in keinen bestimmten Kategorien. Ich vertraue unserer Crew: von dem hochgewachsenen Oberst, der als Kapitän allen anderen Befehle erteilt, bis zu der netten Stewardess, meiner Altersgenossin und der einzigen Frau hier, neben mir.

Furchtlos ertrage ich die komplizierte Reise, die erzwungenen Zwischenstopps auf militärischen und zivilen Flughäfen, beobachte die Bemühungen des Piloten, des Navigators und des Funkers: Sie werden schon die Zeugen, deren Aussage von jemandem benötigt wird, an ihr Ziel bringen. Nur noch ein wenig Geduld.

Inzwischen hat sich in mir die einst zaghafte Gewissheit verfestigt: Nachdem ich so viele Tage, Stunde für Stunde, in einem deutschen Lager überlebt habe, werden mir in Zukunft jegliche Gefahren erspart bleiben.

Erleichterung und Ruhe. Obwohl diese Ruhe, meine eigene und die anderer Überlebender, sicherlich etwas von der Schwäche eines gleichgültigen, in jemandes Händen dösenden Vogels hat. Der Wind und die Wände unserer Douglas umgeben uns und tragen, tragen uns davon.

Ich werde einschlafen. Ich will mich nur noch einen Moment lang der Illusion hingeben, dass neben meinem Ohr eine Hauskatze schnurrt, ich möchte mir das Gefühl des Friedens bewahren, diesen verlorenen Glauben wiedererlangen, dass alles, was mich umgibt, einen Sinn hat. Ein psychisches Atom zu brechen bedeutet eine größere Ungewissheit, als ein Atom in einem Physiklabor zu brechen. Ich werde einschlafen und an diese Dinge nicht mehr denken, ich werde an gar nichts denken. Die Mischung aus Weiß und Grau kommt meinem Wunsch nach Nichtexistenz sehr entgegen. Ich würde gern nach draußen schauen, aber was man jetzt links und rechts durch die Lünetten der Fenster sehen kann, ist wie eine mit Schnee bestreute, festgestampfte und zugleich weiche Fläche, auf der das Flugzeug gerade und leicht, wie ein gut gesteuerter Bobsleigh, gleitet – ohne die geringsten Erschütterungen, ohne dass die Zeit vergeht, sogar ohne irgendeine Bewegung. Ich schlafe ein, wache aber schnell wieder auf.

Der erste bunte Gegenstand, den ich nach dem plötzlichen Öffnen der Augenlider bemerke, ist dieses Abzeichen am Ärmel meines Nachbarn, das stark mit dem Stoff seiner Uniform kontrastiert: Die sechs weißen Buchstaben, die sich auf dem roten Halbkreis zu dem Wort POLAND zusammenfügen,...


Szmaglewska, Seweryna
Seweryna Szmaglewska wurde 1916 im polnischen Przyglów geboren. Sie besuchte ein Lehrerseminar im nahegelegenen Piotrków Trybunalski und studierte bis zum Kriegsausbruch Soziologie in Warschau. Von 1942 bis 1945 war sie im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau inhaftiert, 1946 sagte sie als eine von zwei Zeugen aus Polen bei den Nürnberger Prozessen aus. Nach dem Krieg lebte sie einige Jahre in Lódz, später in Warschau, wo sie eine erfolgreiche Schriftstellerin wurde und 1992 starb.

Kijowska, Marta
Marta Kijowska, geboren 1955 in Krakau, lebt in München. Sie arbeitet als Journalistin für Zeitungen und Hörfunk, vor allem zu Themen der polnischen Kultur, Literatur und Geschichte. Gleichzeitig ist sie als Sachbuchautorin und Übersetzerin aus dem Polnischen tätig. Zu den von ihr übertragenen Autoren gehören u. a. Stefan Chwin, Slawomir Mrozek, Maria Nurowska, Dominik W. Rettinger und Seweryna Szmaglewska.

Seweryna Szmaglewska wurde 1916 im polnischen Przyglów geboren. Sie besuchte ein Lehrerseminar und studierte bis zum Kriegsausbruch Soziologie in Warschau. Von 1942 bis 1945 war sie als politische Gefangene im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau inhaftiert und schrieb darüber das Buch »Die Frauen von Birkenau«. 1946 sagte sie als eine von zwei Zeugen aus Polen bei dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess aus. Nach dem Krieg lebte sie einige Jahre in Lódz, später in Warschau, wo sie eine erfolgreiche Schriftstellerin wurde und 1992 starb. Marta Kijowska, geboren 1955 in Krakau, lebt in München. Sie arbeitet als Journalistin für Zeitungen und Hörfunk, vor allem zu Themen der polnischen Kultur, Literatur und Geschichte. Gleichzeitig ist sie als Sachbuchautorin und Übersetzerin aus dem Polnischen tätig. Zu den von ihr übertragenen Autoren gehören u. a. Stefan Chwin, Slawomir Mrozek, Maria Nurowska, Dominik W. Rettinger und Seweryna Szmaglewska.



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