E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Swat Die Schneeleiche von Lübbenau
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95958-725-9
Verlag: Bild und Heimat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
und zwölf weitere authentische Kriminalfälle aus der DDR
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-95958-725-9
Verlag: Bild und Heimat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wolfgang Swat, geboren 1948 in Hoyerswerda, war Journalist bei der Lausitzer Rundschau und berichtete auch über Mordfälle in der Gegend. Bereits sein erstes Buch Der Tote in der Wäschetruhe (2010) war sehr erfolgreich, es folgten Mord ohne Mörder (2012), Die gepfählte Frau (2013) und zuletzt Die Tote an der Wendeschleife (2014).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der Frauenschwarm
Es ist Freitag, der 1. Juni 1990. Der Tag verspricht für Brandenburg an der Havel herrliches vorsommerliches Wetter. Die Sonne scheint schon morgens, ihre Strahlen wärmen und locken hinaus ins Freie. Am Himmel ist kaum ein Wölkchen, hinter dem sie sich verstecken könnte. Jürgen Kort hat zwar wenig geschlafen, doch im Bett hält es ihn trotzdem nicht mehr. Der Kopf brummt, denn in der Disco letzte Nacht haben er und seine Freunde doch einige Büchsen Bier »ausgetrocknet«. Die Pyramide, die aus den geleerten Büchsen auf dem Kneipentisch entstanden war, hatte jedenfalls eine ansehnliche Höhe.
Kort, der in diesem Monat seinen dreiundzwanzigsten Geburtstag feiern wird, treibt es zum »Kopfauslüften« aus Bett und Haus. Er ist mit einem T-Shirt und einer blauen Jeanshose bekleidet, deren Hosenbeine er eigenhändig abgeschnitten hatte. Das Aufstehen musste sein, trotz des »Katers«. Er will unter Leute, muss gesehen werden.
Der junge Mann nimmt Kurs auf das Marienbad, trifft dort Kumpel Steven. Der Kaffee, den sie trinken, soll die Geister in den Köpfen vertreiben. Bei Steven wirkt er allerdings nicht belebend. Ihn zieht es wieder nach Hause. Allein gelassen, hat Kort keinen »Bock« mehr auf das Bad. An der Regattastrecke auf dem Beetzsee kennt er lauschige Plätzchen, auf denen man abhängen und den Gedanken freien Lauf lassen kann. Auf dem Weg dorthin kauft er sich eine Schachtel Zigaretten, eine Flasche Bier und ein Päckchen Rasierklingen. An der Regattastrecke in Höhe der Tausend-Meter-Marke ist eine der kleinen Badebuchten. Baden ist hier zwar verboten, doch wen stört das schon. Jetzt, um die Mittagszeit herum ist nur vereinzelt mal ein Boot zu sehen. Später wird das anders sein. Die Regattastrecke hat unter Wassersportlern einen guten Ruf. Zahlreiche nationale Meister, Weltmeister und Olympiasieger der DDR haben sich auf dem Beetzsee Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit für ihre sportlichen Erfolge erarbeitet. Zwar wurde schon seit den 1880er Jahren in Brandenburg an der Havel gerudert, doch der legendäre Ruf verbreitete sich erst ab 1967 in der Wassersportwelt, als der Bau einer modernen Rennstrecke am Westufer des Sees beschlossen wurde.
Kort sucht sich ein Plätzchen, zieht Jeans und T-Shirt aus und legt sich, mit einer bunten Badehose bekleidet, in die Sonne. Die Arme sind hinter dem Kopf verschränkt. Auf der Insel gegenüber bemerkt er durch die halbgeschlossenen Augen ein paar Sonnen- und Badegäste. Der junge Mann döst vor sich hin, doch Ruhe findet er nicht. Er raucht hin und wieder eine Zigarette der Marke »Marlboro«. Die gibt es jetzt in der DDR, und die schmecken natürlich viel besser als die Tabakstrünke von »F6« oder »Juwel«. Alle möglichen Gedanken beschäftigen ihn. In letzter Zeit, das muss er sich eingestehen, ist eine Menge schiefgegangen. Das hat auch mit der Wende in der DDR zu tun. Seit ein paar Wochen ist er arbeitslos. Sein Chef in der Veranstaltungsagentur hat ihn rausgeschmissen. Angeblich, weil er nachts in den Räumen der Agentur, wo er als Ordner und wegen seines handwerklichen Geschicks – als gelernter Instandhaltungsmechaniker – angestellt war, eine Frau geschlagen und vergewaltigt haben soll. Kollegen hatten ihn morgens schlafend im Flur angetroffen und in unmittelbarer Nähe einen Blutfleck, einen Rock und zwei Kettchen bemerkt. Es war in der Nacht hoch hergegangen in der Disco, und das letzte Bier war bestimmt schlecht, dass ihm übel geworden war. Mit dem Mädchen, da ist er sich sicher, war aber nichts Ernstes, und das hatte er auch beteuert. Jedenfalls konnte er sich an nichts erinnern. Das Ermittlungsverfahren wurde ja auch eingestellt. Trotzdem wurde er gefeuert.
Dabei war die Agentur sein Ein und Alles gewesen. Schließlich hatte er lange im Jugendklub, mit dem sich der Chef nach der Wende selbständig gemacht hatte, mitgearbeitet, Tage und Nächte dort verbracht. Das sollte nun nichts mehr zählen?
Na gut, da war noch die Sache mit Trixi, seiner Verflossenen. Wenn er nur daran denkt, könnte er vor Wut platzen. Trixi hatte sich bei seinem Chef beschwert, weil er keinen Unterhalt für sein Kind bezahlt. Dabei hatte sie ihn mit dem Balg reingelegt, hatte gesagt, dass sie die Pille nehme, und ist dann trotzdem schwanger geworden. Und das bei lediglich zweimal Geschlechtsverkehr. Da war sie doch selbst schuld. Für die Verhütung sind nun einmal die Frauen zuständig, und wenn es schiefgeht, müssen sie sich eben das Kind wegmachen lassen. »Das ist meine Einstellung, und daran gibt es nichts zu rütteln. Das habe ich ja zu allen Mädchen gesagt, die ich gebumst habe. Und das waren nicht gerade wenig«, schmunzelt er in sich hinein. »Ich gehe mit ihnen ins Bett, und danach können sie gehen. Punkt. Aus. Feierabend.«
Er weiß, dass er gut aussieht, so rank und schlank und sportlich gebaut, mit 83 Kilogramm Muskelmasse verteilt auf 1,85 Meter Größe von Kopf bis Fuß und mit seinen schwarzen Haaren. Doch manchmal können einen die Weiber auch nerven mit ihren sentimentalen Phantasien. Erst vor ein paar Tagen war ihm die Moni auf die Ketten gegangen, hat nach dem zweiten Mal Sex gleich vom Zusammenbleiben, gemeinsamer Wohnung und einem Kind gefaselt. Das hätte ihm noch gefehlt. War schon genug, dass ihm die Trixi wochenlang hinterhergerannt und Mutti auf den »Kasten« gegangen ist, weil er sie verlassen hat. »Mich hat sie ja nicht erwischt, ich bin immer gleich abgehauen. Das Gequatsche von Kind, Vatergefühlen, Verantwortung, Liebe und fester Beziehung ist mir echt an die Nieren gegangen. Schule, Lehre und drei Jahre Armee liegen endlich hinter mir, und da wollte mich die Trixi mit ihrem Kind festnageln.«
Bei Isabell, das gibt Kort innerlich zu, hat sich das anders angefühlt. Vor ein paar Tagen hatte er die Rechtsanwältin kennengelernt. »Hübsch ist sie, und klug. Mit der hätte es was werden können«, gerät er ins Schwärmen. »Was soll’s«, wischt er die Erinnerung beiseite. »Ich werde jetzt erst mal das Leben genießen, und dann ist irgendwann Schluss.« In der Tasche der Jeans, die ihm als Kopfkissen dient, spürt er die kleine Packung Rasierklingen. Die Insel, das wäre der richtige Ort für sein Vorhaben. Dorthin könnte er schwimmen und … Wären bloß die Leute nicht!
Über das Grübeln sind die Stunden vergangen. Es ist achtzehn Uhr. Die Sonne wärmt längst nicht mehr so kräftig. Er zieht sich die Sachen über, wirft die leere »Marlboro«-Schachtel in die Büsche, tritt die ausgetrunkene Flasche »Graf Arco«-Bier hinterher und macht sich auf den Heimweg. Eilig hat es Jürgen Kort nicht. Warum auch? Heute will er nicht mehr weg. Und daheim schimpft die Mutter sowieso.
Etwa zur gleichen Zeit, als Jürgen Kort am Strand des Beetzsees seine Sachen packt und aufbricht, geht Janine Maurer in der Marktstraße in Brandenburg an der Havel die vier Etagen hoch zur Wohnung von Liane Heuberg. Die beiden Frauen, Mitte zwanzig, sind seit vielen Jahren Freundinnen. Sie haben sich verabredet, wollen die Havelfestspiele besuchen. Das Wochenende steht bevor, da können Trubel und Unterhaltung ruhig etwas länger dauern. Oben angekommen, dreht Janine am Knauf der Wohnungstür. Die ist nicht verschlossen. »Da brauch ich wenigstens nicht nach dem Schlüssel in der Handtasche kramen«, freut sie sich. »Liane wartet bestimmt schon ausgehfertig auf mich.«
An der Garderobe hängen zwei Handtaschen der Freundin, von der aber nichts zu sehen oder zu hören ist. Janine geht den Korridor entlang, von dem aus links die Tür zum Wohnzimmer abgeht. Im Wohnzimmer ist niemand. Geradeaus befindet sich das Schlafzimmer. Sie kennt sich hier aus, hat schon oft bei Liane übernachtet. Manchmal waren auch noch Jungs dabei. »Na und«, denkt sie, »wir sind ja schließlich jung.« Als Janine die Tür zum Schlafzimmer aufklinkt und hineinsieht, fallen ihr Beutel und Tasche aus der rechten Hand. Geradeaus, auf dem Fußboden, zwischen Ofen, Schrank und Bett entdeckt sie ihre Freundin. Eine Bettdecke ist quer über sie gelegt, Kopf und Oberkörper sind darunter versteckt. Nur der linke Arm guckt heraus. Unterkörper und Beine sind unbekleidet, Hausschuhe sind nicht zu sehen.
»Auf den ersten Blick sind mir im Zimmer keine Veränderungen aufgefallen. Alles war in einem Zustand, wie ich ihn sonst auch kannte«, gibt sie später bei der Polizei zu Protokoll. »Als ich sie so liegen sah, habe ich ihr das Federbett vom Kopf weggerissen. Vom Kopf bis zur Brust war sie blau angelaufen. Ihre Hände waren weiß, auch das Gesicht war auffallend weiß. Sie war völlig unbekleidet. Der Kopf lag auf der linken Wange.«
Janine rennt eine Treppe tiefer zur Nachbarin, um Hilfe zu holen. Der herbeigerufene Arzt kann nur noch amtlich bestätigen, was auch für Janine augenscheinlich, aber nicht begreiflich ist: Liane, die gestern noch putzmunter war und mit der sie zu den Havelfestspielen wollte, ist tot. Und das, wie sich später herausstellt, schon seit vielen Stunden. Das Opfer ist in seinem Schlafzimmer getötet worden. Daran haben die Kriminalisten der herbeigerufenen Morduntersuchungskommission (MUK) nach der ersten Tatortbesichtigung kaum Zweifel. Unklar bleibt das Motiv, wobei ein sexueller Hintergrund anhand der Spurenlage auf der Hand zu liegen scheint. Die MUK firmiert wendebedingt inzwischen zwar offiziell als erstes Kommissariat im Bezirkskriminalamt Potsdam (früher Bezirksbehörde der Volkspolizei, BdVP), aber deswegen haben sich die Abläufe nach der Entdeckung einer Gewalttat nicht verändert, sind nicht anders als all die Jahre zuvor.
Die Kriminaltechniker, die zunächst das Kommando in der Wohnung von Liane Heuberg übernehmen, suchen Zentimeter für Zentimeter das Schlafzimmer ab und sichern mögliche Spuren. Am Ende listet das Untersuchungsprotokoll mehr als hundert...