Swarup | Breiten des Verlangens | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

Swarup Breiten des Verlangens


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-905574-99-9
Verlag: Kommode
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

ISBN: 978-3-905574-99-9
Verlag: Kommode
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Breiten des Verlangens folgt den miteinander verbundenen Leben von verschiedenen Protagonist:innen, die auf der Suche nach wahrer Intimität und Nähe sind, während sie sich quer über den indischen Subkontinent wagen, um eine epische Liebesgeschichte zu erzählen. Wir folgen einem Wissenschaftler, der Bäume studiert, und einer Hellseherin, die mit ihnen spricht; einem Geologen, der sinnlose Kriege um einen Gletscher beenden will; einem achtzigjährigen Liebespaar; einer Mutter, die darum kämpft, ihren revolutionären Sohn zu befreien; einem Yeti, der menschliche Gesellschaft sucht; einer Schildkröte, die wundersame Verwandlungen erlebt; und dem Geist eines verdunsteten Ozeans, der so ruhelos ist wie die Kontinente. Sie alle verbindet eine Vision des Lebens, die so groß ist wie das Universum selbst.

Shubhangi Swarup ist Autorin, Journalistin und Pädagogin. »Breiten des Verlangens« (»Latitudes of Longing«), ihr erster Roman, ist ein internationaler Bestseller und wurde bereits in 15 Sprachen übersetzt. Für dieses Werk wurde die Autorin mit dem Sushila Devi Award und dem Tata Literature Live! Award für Debütromane ausgezeichnet und wurde in die engere Wahl für den JCB Prize for Indian Literature aufgenommen und erhielt das Charles-Pick-Stipendium für kreatives Schreiben an der University of East Anglia. Sie lebt in Goa, wo sie von ihrem Schreibtisch aus eine sich schnell verändernde Meereslandschaft überblickt.
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INSELN


Stille ist auf einer Tropeninsel das unablässige Rauschen des Wassers. Die Wellen sind, wie der eigene Atem, immer da. Seit zwei Wochen schon werden die Wellen übertönt vom Gluckern und Grollen der Wolken. Regen trommelt aufs Dach, strömt über die Kante, klatscht in die Tiefe. Prasselt, peitscht, tropft und klatscht. Die Sonne ist tot, heißt es.

In dem Rauschen ruht die Saat einer elementaren Stille. Lautlos wie Nebel, starr wie Eis.

Girija Prasad und Chanda Devi sind frisch vermählt und haben sich in ihr Schicksal gefügt – als Fremde in einem Schlafzimmer, das schwül ist vom Begehren und überflutet von Träumen. Denn in diesen Tagen träumt Girija Prasad mit aller Heftigkeit. Regen beflügelt die Fantasie, das ist Tatsache, wenn auch unbewiesen. Als der Regen eines Nachts plötzlich abreißt, wird er wach. Seine Ohren hatten sich an die tropische Geräuschkulisse gewöhnt wie Eheleute an das Schnarchen von der anderen Bettseite. Er schreckt aus einem feuchten Traum hoch und fragt sich, was passiert ist. Wer ist aus dem Zimmer gegangen?

Von seinem Doppelbett schielt er zu Chanda Devis einfacher Matratze auf dem Boden, wo sie nicht ihm, sondern dem offenen Fenster zugewandt liegt. In der Dunkelheit lässt er erregt den Blick über ihre Kurven wandern. Bei der Hochzeitszeremonie hatten sie sieben Mal das heilige Feuer umrundet, waren mehrere Leben lang vereint gewesen, und sie war seinen Schritten bereitwillig gefolgt, fest davon überzeugt, dass beide ein weiteres Mal in wiedergeborener Gestalt, in einem neuen Avatar zusammengeführt würden. Doch in diesem Leben würde er den Weg zu ihrem Herzen erst noch finden müssen. »Bis dahin«, hatte sie ihm in der ersten Nacht eröffnet, »richte ich mich auf dem Boden ein.«

Sie ist hellwach, verstört von den jenseitigen Schreien. Es ist der Geist einer Ziege. Der Geist hat zahllose Sphären hinter sich gelassen und wandert nun auf ihrem Dach umher. Jetzt haben die rastlosen Hufen ihn bis unter das geöffnete Fenster getragen, und Schuldgefühle strömen ins Zimmer und in ihr Gewissen.

»Hörst du das?«, fragt Chanda Devi. Sie spürt seinen Blick im Rücken.

»Was denn?«

»Die meckernde Ziege da draußen.«

Seine nutzlose Erektion verabschiedet sich. Nun ist er geistig ganz bei Chanda Devi und dem Dilemma, vor das sie ihn stellt.

»Hier ist keine Ziege«, erwidert er resigniert.

Sie richtet sich auf. Das Meckern ist lauter geworden, als wollte es dem unbedarften Ehemann ausrichten lassen: »Du hast mir mein Leben genommen, aber mein Nachleben nimmst du mir nicht, du Fleischfresser!«

»Sie steht direkt vorm Fenster«, sagt seine Frau zu ihm.

»Hast du Angst vor ihr?«

»Nein.«

»Bedroht dich die Ziege?«

»Nein.«

»Dann könntest du sie vielleicht ignorieren und weiterschlafen.« Er hatte »solltest« statt »könntest« sagen wollen, doch ihm fehlt der Mut zur Strenge. Seine Frau, so viel hat er begriffen, reagiert auf Argumente oder Zwang ungehalten. Eigentlich reagiert sie auf beinahe alles ungehalten. Wäre sie nur nicht so attraktiv, dann könnte er sie ignorieren und weiterschlafen.

»Wie kannst du nur schlafen?«, fragt sie. »Du hast diese unschuldige Kreatur massakriert, ihr Fleisch kleingehackt, mit Zwiebeln und Knoblauch gebraten und dann gegessen. Zurückgelassen hast du nur die rastlose Seele, die nun unser Haus heimsucht!«

Würde er tatsächlich von den Seelen aller von ihm verzehrten Tiere heimgesucht, dann wäre sein Haus eine Mischung aus Zoo und Stall, und man könnte darin weder treten, geschweige denn schlafen. Doch das kann der sanftmütige Girija Prasad nicht sagen. Zwei Monate ist er nun verheiratet und hat sich mit der blühenden Fantasie seiner Frau arrangiert. Stur hofft er, dass solches Verhalten auf ihre Vorstellungskraft und nicht auf eine psychische Erkrankung zurückgeht. Seiner ungeborenen Kinder und der zukünftigen gemeinsamen Jahrzehnte willen verkündet er: »Wenn du dann besser schlafen kannst, esse ich kein Fleisch mehr.«

So wird der Fleischesser Girija Prasad zum Vegetarier, was seine Frau und auch ihn selbst sehr überrascht. Für ein paar Stunden Nachtruhe verabschiedet er sich ein für alle Mal von Lamm-Biryani, Rindersteak und sogar Rührei.

Sobald es dämmert, steigt sie aus dem Bett. Sie geht in die Küche, um ein opulentes Frühstück zuzubereiten. In ihren Bewegungen liegt eine neue Lebhaftigkeit, unter ihrem Schweigen lauert ein Lächeln. Da nun das Töten ein Ende hat, ist es Zeit, mit Aloo Parathas die weiße Flagge zu hissen. Zwei Stunden später setzt sie ihm den Teller vor und fragt: »Wie sind sie?«

Mit einem Mal ist Girija Prasad verunsichert, obwohl es eigentlich keinen Grund gibt. Endlich scheint die Sonne. Seine Frau hat ihm zum ersten Mal Frühstück gemacht und war so kühn, ihm eine Serviette über den Schoß zu breiten. Sie streift seine Schultern, haucht warmen Atem auf seine Haut. Er giert nach dem Trost von in Fett gebratenem Fleisch, doch auf seinem Teller ist davon nichts zu finden.

»Und? Wie sind sie?«, fragt sie noch einmal.

»Wer?«, fragt er verwirrt.

»Die Parathas.«

»Wunderbar.«

Sie lächelt und schenkt ihm Tee nach.

Chanda Devi, die Hellsichtige. Sie fühlt mit den Geistern und schätzt die wortkarge Gesellschaft der Bäume. Sie spürt seine unausgesprochenen Begierden durchaus. Doch sie weiß, dass er besser daran tut, dem Fleisch abzuschwören. Alles Fleisch ist so vergänglich wie unzuverlässig, insbesondere im Vergleich mit dem Pflanzenreich. Chanda Devi hat alles gesehen, sogar die Ströme von Blut, die eines Tages aus ihrem Körper fließen werden. Dieses Wissen macht sie standhaft. Es macht sie zu einer anspruchsvollen Ehefrau.

Vor seinem Aufbruch nach Oxford hatte Girija Prasad seine Heimat Allahabad noch nie allein verlassen. Während der viertägigen Reise mit Pferdekutschen, Fähren und einem Zug, bevor er endlich nach England einschiffte, hatte er sich von vielem getrennt: Gläsern voll mit Eingemachtem und Ghee Parathas, die wohl ein Menschenleben überdauert hätten, Bildern ausgewählter Gottheiten sowie seiner Familie, darunter ein Porträt seiner Mutter, das er selbst gemalt hatte.

Zwar hatte er es als Erleichterung empfunden, die Götter hinter sich zu lassen – insbesondere Rama, den pflichtbewussten Sohn, der ohne guten Grund seine Frau verlassen hatte, und den Baba vom Flussufer, der gar kein Gott war, sondern bloß ein seniler, ausgemergelter Mann –, doch sich des Porträts seiner Mutter zu entledigen, ohne einen Zusammenbruch zu erleiden, war ihm unmöglich erschienen. Doch dieser würde ihn ebenso ereilen, wenn er, Ozeane entfernt, ständig auf ihr Gesicht starren würde. Um die Trennung zu bewältigen, musste er ein neues Leben beginnen. Und zwar ein radikal anderes – beim bloßen Gedanken daran bekam er schon Hämorriden. Übers endlose Meer treibend, geriet er in eine Muschelspirale der Stille. Totgeborene Tränen manifestierten sich als hartnäckige Verstopfung. Als versierter Pflanzenarchivar hatte Girija Prasad kiloweise Flohsamenschalen für genau diesen Anwendungszweck dabei. Zudem befanden sich in seinem Gepäck getrocknetes Königsbasilikum, Neemblätter, Ingwer, Kurkumapulver, Zimtrinde und zerstoßener Pfeffer zur Behandlung weiterer körperlicher Leiden. Bei seiner Ankunft in Dover hielten ihn die Zollbeamten für einen Gewürzschmuggler.

Gleich an seinem ersten Tag am Blimey College in Oxford wurde Girija Prasad Varma von den mit Hindi-Namen unvertrauten Dozenten »Vama« getauft. Noch am Abend seiner Ankunft trank er zum ersten Mal Alkohol und brach auch das Generationen alte Tabu, etwas zu sich zu nehmen, das jhoota war, »verunreinigt durch den Mund eines anderen«. Als der gewaltige Bierhumpen unter den Erstsemestern herumgereicht wurde, stand er vor der Wahl, offenen Herzens auf die neue Kultur zuzugehen, oder ewig an der Schwelle zu versauern. Auf seinem Schreibtisch standen keine Porträts oder Gottheiten, die ihn hätten tadeln können. Am nächsten Morgen probierte er zum ersten Mal ein Ei, stieß das salzige gelbe Rund mit der Gabel an und beobachtete, wie es bebte. Bald würde er Geschmack daran finden, wie vielschichtig und unvorhersehbar das Leben war.

Fünf Jahre später kehrte Girija Prasad Varma, der erste indischstämmige Commonwealth-Stipendiat, mit einer Doktorarbeit nach Indien zurück, die mit zwei Worten in seiner Muttersprache schloss: Jai Hind. Seinem Doktorvater erklärte er die Bedeutung mit »es lebe die indische Nation«. Auf Geheiß des jungen indischen Premierministers wurde er 1948, im Jahr der Unabhängigkeit, mit dem Aufbau...



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