E-Book, Deutsch, Band 2, 416 Seiten
Reihe: Ein Fall für Tommy Bergmann
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 2, 416 Seiten
Reihe: Ein Fall für Tommy Bergmann
ISBN: 978-3-8437-1505-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
1
Ein Erlöser ist uns geboren, dachte Tommy Bergmann. Er warf einen Blick durch die Scheiben des dicht an der Straße stehenden Hauses. Hinter dem mittleren Fenster brannte Licht, ein einzelner Weihnachtsstern aus goldenem Messing strahlte in das Winterdunkel. Ein paar Meter oberhalb des Hauses stand ein Mann. Dunkel gekleidet, den Körper etwas gebeugt, sah er aus, als würde er das Auto kaum bemerken. Tommy Bergmanns Partner, der alte Kåre Gjervan, hielt den Wagen an und legte den Leerlauf ein. Der Mann am Straßenrand bewegte nun langsam den Kopf und sah in Richtung des Streifenwagens. Auf der Windschutzscheibe klebte matschiger Schnee. Gjervan stellte den Scheibenwischer schneller. Der Mann blieb regungslos stehen und starrte vor sich hin, auch der Hund neben ihm stand wie versteinert da, den Blick fest auf das Licht der Scheinwerfer gerichtet, das sich durch den dicht fallenden Schnee bohrte, als wäre die Welt nicht mehr als eine Schneekugel, frei von jeder Bosheit. Noch Jahre später phantasierte Tommy davon, was gewesen wäre, wenn er in diesem Augenblick einfach aus dem Auto gestiegen und davongelaufen wäre, in die andere Richtung, zurück in die Stadt, so weit seine Beine ihn tragen konnten. Kåre Gjervan fluchte leise vor sich hin, wie er es schon an der Tankstelle in Mortensrud getan hatte, als Tommy den Funkspruch der Zentrale entgegengenommen hatte. Ihre Schicht war fast um, sie hatten nur noch eine Stunde, aber Tommy war langweilig, so dass er nicht gewartet hatte, bis ein anderer Wagen sich meldete. Er war nicht wie der alte Gjervan, der nur Däumchen drehte und es nicht erwarten konnte, wieder zurück zu Frau und Kindern zu kommen, Tommy war dreiundzwanzig und wollte etwas erleben. Gjervan klopfte mit der Hand ein paarmal auf den Schaltknüppel, so dass das Klicken seines Eherings metallisch durch den Wagen hallte. »Los, sieh zu, dass du die beiden da ins Auto kriegst«, sagte er. Als Tommy die Tür öffnete, kam Leben in den Mann am Straßenrand. Er stieg ein, und sie fuhren noch ein paar Minuten durch die Dunkelheit, bis auch die letzten Häuser hinter ihnen lagen. Um sie herum war jetzt nur noch dichter, schwarzer Wald. Irgendwann löste sich auch der Weg im Nichts auf, als wären sie am Ende der Welt angekommen. Nur das Licht der Scheinwerfer, das auf die Nadelbäume fiel, verriet, dass es da draußen noch weiterging. Der nasse Hund, ein Labrador, legte den Kopf zur Seite, als Tommy sich umdrehte. Die Schnauze war noch immer schwarz vom Blut. Der Mann auf dem Rücksitz starrte durch die Windschutzscheibe. »Was haben Sie da im Wald eigentlich gemacht?«, fragte Tommy leise. Er erhielt keine Antwort. Kåre Gjervan justierte den Rückspiegel und betrachtete den Mann, der aus einem der Häuser an der Straße in der Zentrale angerufen hatte. »Das ist wirklich …«, sagte der Mann auf dem Rücksitz. Er machte eine Pause, schloss die Augen. »Ich sage Ihnen, das ist wirklich … ein Werk des Teufels.« 2
Trotz des kräftigen Lichtscheins der Maglite wirkte alles um sie herum schwarz. Tommy Bergmann dachte für einen Moment, dass es tief im Wald keine Farben gab und die Sonne nicht einmal im Sommer bis hierher vordringen würde, so dicht wie die Nadelbäume standen. Kåre Gjervan setzte umständlich einen Fuß vor den anderen, hielt aber ein gleichmäßiges Tempo. Der Mann, der die Meldung gemacht hatte, war ein Stück weit vor ihnen, der Hund zog ihn unerbittlich vorwärts. Tommy fiel ein paar Meter zurück und umklammerte seine Maglite noch fester. Es gurgelte unter seinen Füßen, eiskaltes Wasser drang in seine Marschstiefel, und ein moderiger Geruch stieg vom Boden auf. Er ging, so schnell er konnte, um zu Gjervan aufzuschließen. Als er dicht hinter ihm war, hörte er irgendwo weiter vorn den Mann rufen. »Hier rüber!« Er konnte den Hund jetzt kaum mehr zurückhalten. Tommy versuchte, möglichst wenig zu denken. »Oh mein Gott«, flüsterte er nur eine Minute später leise vor sich hin. »Hilf mir.« Die beiden vor ihm hatten vor einer Gruppe sehr dicht stehender Fichten angehalten. Kåre Gjervan bewegte langsam seine Taschenlampe und wartete dann ein paar Sekunden, als wollte er sich sammeln. Tommy blieb auf dem schmalen Pfad hinter ihm stehen. Der Mann musste seinen Hund mit aller Macht zurückhalten. Gjervan beugte sich vor und entfernte ein paar Äste und Zweige. Dann richtete er sich abrupt auf und taumelte ein paar Schritte zurück. Seine Taschenlampe fiel zu Boden. Tommy legte die Finger noch fester um seine Lampe und schloss zu den beiden Männern auf. Obwohl sie schon Tage dort liegen musste, war Kristiane Thorstensen anhand der Fahndungsfotos leicht zu erkennen. Sie lag in zwei zusammengeklebten Müllsäcken unter ein paar Ästen und Zweigen. Der Hund hatte den obersten Teil des einen Sacks aufgerissen, so dass der Kopf sichtbar war. Auch an anderen Stellen war das Plastik zerrissen, vermutlich hatten sich irgendwelche Vögel über sie hergemacht. Der Kopf war unversehrt, sie hatte blaue Flecken, sah aber besser aus, als Tommy es befürchtet hatte. Gjervan ging in die Knie und berührte den Anhänger, den sie um den Hals trug. Ein Taufschmuck. Tommy schloss die Augen und versuchte, sich einzureden, dass der Tod sicher schnell eingetreten war. Als die Spurensicherung kam und die Kriminaltechniker die Müllsäcke entfernten, schwand diese Hoffnung. Ihr Körper war dermaßen malträtiert worden, dass Tommy nur noch an das Böse in der Welt glaubte. Er konnte seinen Blick nicht von der linken Hälfte ihres Brustkorbs abwenden. Einer der Techniker ließ das Wort »Trophäenjäger« fallen und sagte, dass man solche wie den zum Tode verurteilen müsse, danach spürte Tommy nur noch Kåre Gjervans Arm um seine Schultern, bevor alles schwarz wurde. 3
Sie fuhren schweigend über den Enebakkveien zurück in Richtung Stadt. Kåre Gjervan hielt an der Shell-Tankstelle in Mortensrud und parkte den Wagen im Dunkel hinter der Schmalseite des Gebäudes, exakt die Stelle, an der er zuvor schon gestanden hatte. Er nahm das Funkgerät und rief die Zentrale. Mit ruhiger Stimme sagte er nur »Adresse« und wartete darauf, dass der Mann in der Zentrale verstand, was er meinte. Wie an jedem anderen Abend hörten genug Journalisten den Polizeifunk ab, und denen wollte der alte Gjervan nicht in die Karten spielen. Dann fragte er nach dem Namen des Pastors der Gemeinde in Oppsal und bat die Zentrale, ihn anzurufen. Warum?, fragte Tommy sich und dachte, dass die erste Welle der Hyänen jetzt sicher bereits auf dem Weg in den gutsituierten Vorort Godlia war. Er beobachtete Gjervans Hände, als dieser sich etwas notierte. Sie waren vollkommen ruhig, als schriebe er zu Hause am Esstisch Weihnachtskarten. Tommys Brustkorb krampfte sich zusammen. Er war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte nie zuvor einen Toten gesehen, geschweige denn ein Mordopfer. Und jetzt?, dachte Tommy. Jetzt musste er auch noch den Eltern gegenübertreten, die ihr Kind verloren hatten. »Willst du was essen?«, fragte Gjervan und öffnete die Wagentür. Tommy schüttelte den Kopf. »Du musst was essen.« Tommy schüttelte noch einmal den Kopf, blieb im Auto sitzen, schloss die Augen und versuchte, seinen Atem zu kontrollieren. Kurz darauf stellte sich heraus, dass sie sich an diesem ersten Adventssonntag mit dem Aushilfspastor der Oppsaler Gemeinde begnügen mussten. Der Mann, den sie abholten, war kaum älter als Tommy. Auf dem Weg in Richtung Godlia versuchte er, das Gespräch auf Kristiane zu lenken, als wäre sie noch am Leben. »Sie geht doch auf die Schule in Vetlandsåsen und spielt Handball, oder?« Dann sagte er leise: »Es ist nicht immer leicht, an Gott zu glauben. Wenn so etwas …«, er verstummte abrupt. Tommy wünschte sich, niemals anzukommen, als der Wagen in die Straße Skøyenbrynet einbog und Gjervan vor dem rot gestrichenen Haus der Familie Thorstensen anhielt. Was hatten sie der Familie zu bieten, fragte Tommy sich verzweifelt. Sie waren doch nur drei Menschen in einem Streifenwagen. Ein junger Hüpfer, frisch von der Polizeischule, ein leichenblasser Aushilfspastor, der seinen Glauben an Gott verloren zu haben schien, und der alte Kåre Gjervan. Wenn überhaupt, dann konnte nur er Halt bieten. Tommy glaubte ein Gesicht am Küchenfenster gesehen zu haben, als sie an der kahlen Hecke entlanggingen. Das Haus sah beinahe verlassen aus, nur die Lampe über der Tür brannte. Einen Moment lang dachte er daran, dass die Hochhaussiedlung, wo er selbst aufgewachsen war, nicht einmal einen Kilometer entfernt lag. Trotzdem war das hier eine ganz andere Welt, geprägt von Wohlstand, wie er ihn vermutlich nie erleben würde. Eine Welt, die sich in wenigen Sekunden in einen Scherbenhaufen verwandeln würde. Als sie auf der Treppe standen, konnte er seinen Blick nicht von der Keramiktafel losreißen, die vermutlich eines der Kinder, vielleicht Kristiane, in der Grundschule gemacht hatte. Große, glasierte, blaue Buchstaben: Hier wohnen Alexander und Kristiane, Per-Erik und Elisabeth Thorstensen. Dieses Schild mussten sie jetzt abnehmen. Kristiane würde nie wieder nach Hause zurückkehren, nie mehr hier auf der Treppe stehen. Durch das Küchenfenster sah er einen Adventsleuchter auf dem Tisch stehen. Eine Kerze brannte. Erst dachte Tommy, wie absurd es doch war, eine Kerze anzuzünden, wenn ein Kind vermisst wurde. Eine Tochter. Aber was wusste er schon? Vielleicht war das ihre Art, sich an die Normalität zu klammern und darauf zu...