Sutton | Eine Aussicht zum Sterben | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2, 320 Seiten

Reihe: Der Hotelinspektor

Sutton Eine Aussicht zum Sterben

Der Hotelinspektor in New York
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-311-70349-5
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Der Hotelinspektor in New York

E-Book, Deutsch, Band 2, 320 Seiten

Reihe: Der Hotelinspektor

ISBN: 978-3-311-70349-5
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ben Martin hätte es besser wissen müssen! Und doch ist ausgerechnet er, der Privates und Berufliches strikt zu trennen versucht, mit zwei Teenagern nach New York gereist. Martin ist Hotelinspektor der exklusiven Hideaway Group. In New York soll er das Maverick auf Herz und Nieren prüfen, das neueste und angesagteste Haus der Gruppe. Morgens misst er, wie lange es dauert, bis die Pancakes serviert werden, zurück im Zimmer sucht er Falten im Bettlaken. Den Rest der Zeit will er eigentlich mit Sightseeing verbringen, seiner Tochter Nathalie und ihrer Freundin Hannah das Empire State Building und das MoMA zeigen. Doch schon in der ersten Nacht beobachten die Mädchen vom zwölften Stock des Maverick aus, wie gegenüber eine Frau vom Dach gestoßen wird. Oder war es ein Unfall? Vielleicht nur ein spektakulärer Stunt von Studierenden der benachbarten Filmhochschule? Plötzlich ist weder an Arbeit noch an Urlaub zu denken: Martin ermittelt in der gesamten Lower East Side - und gerät dabei selbst in Gefahr.

Henry Sutton, geboren 1963 in Gorleston-on-Sea, Norfolk, ist Autor, Literaturkritiker und war viele Jahre lang als Reisejournalist tätig. Er lehrt Creative Writing an der University of East Anglia in Norwich, leitet dort den Master-Studiengang Crime Fiction und ist Gründer des Noirwich Crime Writing Festivals. Sutton ist verheiratet und hat drei Kinder.
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1


Es war eine typische Straße in der Lower East Side, und das allein machte sie schon spannend. Schaufenster säumten die Straße, und Feuerleitern krochen mehr oder weniger dekorativ die Fassaden empor. Wohnen und Arbeiten ganz althergebracht in einem, dachte Ben. Er schätzte die Gebäude auf die Jahrhundertwende – freilich jene vom neunzehnten zum zwanzigsten. Alle verfügten sie über fünf oder sechs Geschosse. Dem Anschein nach.

Erst als Ben regelrecht aus dem Suburban auf den Gehsteig geplumpst war und freie Sicht nach oben hatte, erkannte er, dass einige der ursprünglichen Gebäude nachträglich aufgestockt worden waren. Über manchen ragten bestimmt zwanzig oder dreißig weitere Etagen auf. Ein solch zusammengeschustertes Bauwerk aus alt und neu war das Ziel der kleinen Reisegruppe.

Das Hotel The Maverick sah wie der unaufdringlich schicke Laden aus, den es auf Straßenniveau abgeben sollte mit seiner Brasserie hinter Fenstern vom Boden bis zur Decke, die sich offenbar von der Lobby her den ganzen Häuserblock entlang erstreckten. Dabei ragte das Hotel – wie eine Art Hochzeitstorte – immer schmaler in den Himmel. Weiter oben wichen die alten Jahrhundertwende-Ziegel verputzten Platten und jeder Menge Stahl und Glas. Ben verspürte eine frische Welle von etwas, das auch Höhenangst sein könnte, wie ihm nun schien.

»Ich stell Ihre Taschen hierher?« Auf einmal stand der Fahrer vor Ben.

»O ja, danke.« Ben schüttelte den Kopf und versuchte, das Gefühl von festem Boden unter den Füßen zurückzugewinnen. Außerhalb des klimatisierten Wageninneren war es zugleich kochend heiß und feucht. Er hatte die Luftfeuchte ganz vergessen. Und den Lärm. Der Krach von Sirenen und dröhnenden Hupen musste doch jedem auf den Magen schlagen. Er sah auf die Taschen, die der Fahrer auf dem Gehsteig deponiert hatte, und fragte sich, wo ein Hotelpage sein mochte. Fragte sich, warum es so viele Taschen waren. Er reiste stets mit leichtem Gepäck, selbst auf Langstrecken.

»Was ist mit den anderen? Den Mädchen?«, erkundigte sich der Fahrer und nickte zum Suburban. »Steigen die auch mal aus?«

»O ja, natürlich steigen sie aus«, sagte Ben, besann sich auf die allerkostbarste Fracht und eilte zur geöffneten hinteren Fahrgasttür, wo Natalie und Hannah auf dem mit Leder bespannten schwarzen Luxus eingeschlafen waren. Ben erwog, ob er den Fahrer dafür bezahlen könnte, sie ein, zwei Stunden lang weiterschlafen zu lassen. Doch bei all dem Krach ließ es sich sicherlich nicht gut ruhen. Außerdem hatte sich ein weiblicher Hotelpage eingefunden.

»Darf ich Ihnen mit Ihren Taschen behilflich sein, Sir?« Sie hatte den Wuchs eines Models, indes ihre alles andere als gewöhnliche Uniform aus einer engen schwarzen Hose, einem langen, cremeweißen Kittel, schwarzem Barett und schwarzen Birkenstock-Schuhen bestand. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie bei uns logieren?«

»Ja, tun wir, und ja, bitte.«

Es kostete ihn einige Minuten, die Mädchen aufzuwecken und der Blechbestie zu entwinden, diverse Trinkgelder auszuhändigen und dann seine Schutzbefohlenen in die Lobby und zum Empfangstresen zu geleiten. Er wischte sich die tropfende Stirn und fühlte, wie ihm sein dickes Old-Town-Hemd am Rücken klebte. Seine Füße waren noch immer vom Fliegen angeschwollen, und er rätselte, ob er sie je wieder aus den alten, hellbraunen Budapestern lösen könnte, in denen sie eingesperrt waren. Er hatte immer gedacht, Sandalen seien bestenfalls für einen Strandurlaub geeignet und niemals für die Stadt, doch was hätte er jetzt für ein Paar Birkenstock-Latschen gegeben.

Eine junge Frau, zierlich, dunkelhaarig und hübsch, beanspruchte alle Aufmerksamkeit am Empfang. Während das Gespräch oder vielmehr die Beschwerde ihren Lauf nahm, wurde offenbar, dass die beiden dienstbaren Geister hinter dem Tresen, zwei Männer, einander zur gegenseitigen Unterstützung nötig hatten. Ben wollte nicht dazwischenfunken. Davon abgesehen war es sein Job, ebenso darauf zu achten, was in einem Hideaway womöglich nicht so klappte und was sehr gut. Er wusste, dass er aufmerksam sein sollte, schließlich war er zum Arbeiten hier.

Das Maverick war das neueste und laut Anpreisung hippeste New Yorker Hotel der Hideaway-Gruppe. Die Lage in der Lower East Side allein setzte es von den übrigen Hideaways der Stadt ab, die allesamt in Midtown lagen.

Ben schaute hinter sich, wollte Natalie und Hannah versichern, dass die Formalitäten nicht allzu lange brauchen würden. Seit London hatte er Natalie auseinandergesetzt, Hideaway sei das letzte Wort in Sachen Luxus und befriedige jegliches Bedürfnis rasch und geräuschlos. Er war sich nie so recht im Klaren gewesen, wie viel seine Tochter eigentlich über seinen Job wusste.

Die Taschen waren alle da, aber nicht die Mädchen. Er stolperte rückwärts, als sich der Absatz seines linken Budapesters in einem Teppich verfing. »Scheiße«, murmelte er, »wo zum Henker sind sie?« Dann machte er sie auf der anderen Seite der Empfangshalle aus, in einem üppig möblierten Loungebereich. Die Mädchen rekelten sich auf einem gewaltigen modernistischen Sofa vor einem offenen Kamin, der tatsächlich in Betrieb war.

»Die Sache ist die«, teilte der junge weibliche Gast vor ihm den Angestellten am Tresen mit, die höflich nickten, »dass wir keinerlei Geräusch ertragen können, wenn wir meditieren. Sie müssen es abstellen.«

»Ich fürchte, Madam, dass wir die Aufzüge nicht einfach außer Betrieb nehmen können. Sie sind für das ganze Hotel da.«

»Was ist mit dem anderen Geräusch vom Lüftungsdings gleich neben der Dachterrasse? Wie sollen wir so den Whirlpool genießen?«

»Das könnte zur Klimaanlage gehören.« Nur einer der Angestellten am Tresen redete, ein junger, schlanker Mann, der gleichfalls eine Art Kittel oder Tunika trug. »Ich könnte die Haustechnik beauftragen, um zu kontrollieren, ob sie ordentlich arbeitet.«

»Klimaanlagen gehörten verboten«, sagte die Frau.

»Sie könnten versuchen, Ihre Klimaanlage auszustellen. Jedes Zimmer wird für sich geregelt. Das könnte sich auf das Geräusch auswirken.«

»Bei dieser Hitze?«

Beide Angestellten am Tresen lächelten dazu sehr höflich. Ben verkniff sich ein Lachen und rätselte, wie in aller Welt die Frau mit den Sirenen und Hupen in der New Yorker Kakophonie zurechtkam.

»Würden Sie gern die Zimmer tauschen?«

»Das Penthouse, wie, gegen eine Gummizelle im Keller? Wohl kaum. Das Hotel tauschen. Das käme für uns in Betracht, sollten diese Unzulänglichkeiten nicht behoben werden. Ich brauche Ihnen wohl nicht die Rufschädigung zu erläutern, die das nach sich zöge. Sie wissen, wer mein Partner ist. Wir tun Ihnen einen Gefallen damit, überhaupt hier zu sein.«

»Es ehrt uns sehr, dass Sie das Maverick gewählt haben«, sagte der andere Bedienstete hinterm Empfangstresen. Auch er trug einen Kittel, wobei ihn sein wilder Afro eher wie ein Hippie denn gehobener Hotelangestellter aussehen ließ.

»Mein Partner wird bald zurück sein, und ich erwarte, dass diese Probleme gelöst sind. Ich muss Ihnen nicht sagen, wie beschäftigt er ist und wie wichtig.« Damit wandte sie sich um, hob zwei elegante Einkaufstüten an und ging auf eine Reihe Aufzugstüren zu.

»Wenn sie es ganz leise haben will, könnte man ja immer noch New York abstellen«, sagte Ben schmunzelnd und nahm ihren Platz ein. »Ist nicht gerade die leiseste Stadt auf der Welt.«

»Ulkig, dass Sie das sagen«, meinte der Typ mit dem phantastischen Haar, »letzte Woche hatten wir einen massiven Stromausfall. Waren Sie da schon in der Stadt?«

Ben schüttelte den Kopf.

»Das reinste Chaos. Leute steckten in der U-Bahn fest. Kreuzungen waren verstopft. Die Netze brachen zusammen. Keiner konnte irgendwen erreichen. Die Stadt kam zum Stillstand.«

»Klingt gar nicht so übel«, sagte Ben und ihm wurde klar, wie deutlich er sein Alter spürte, seit die Maschine aufgesetzt hatte. »Ich habe eine Reservierung und möchte einchecken.«

»Wunderbar«, meinte der andere.

Einen Augenblick lang fragte sich Ben, in was er eigentlich eincheckte. Hideaway umwarb gerade einen jüngeren Kundenstamm und versuchte deshalb, in die Designerhotel-Szene vorzudringen. Mit einem Blick über seine Schulter stellte Ben fest, dass Natalie und Hannah weiterhin auf einem Kunstwerk abhingen. Wohl mochte Hideaway keine gar so junge Zielgruppe im Sinn haben, doch immerhin war es Wendy Spurling gelungen, zwei Zimmer im neuesten und angesagtesten Hotel des Verbunds zu besorgen.

Dass es Mitte August war und die Zeit für einen Kurzurlaub in New York, die am wenigsten gefragt war, könnte etwas damit zu tun gehabt haben. Nebst dem Umstand, dass er mächtig was gut hatte bei Hideaway für all das, was sich im Juni auf Mallorca ereignet hatte.

»Und Ihr Name, Sir?«, fragte der gutaussehende Mann mit dem Afro.

»David Slavitt«, sagte Ben automatisch und nestelte darauf in seiner Umhängetasche nach seinem getürkten Firmenausweis.

»Zu meinem Bedauern scheint bei uns keine Reservierung unter diesem Namen vorzuliegen«, sagte der Mann.

Nun fiel Ben auf, dass keiner der beiden Angestellten ein Namensschild trug. Auch das war unüblich. Er behielt es im Kopf, aber so ein Schild hätte auf einer Tunika auch lächerlich ausgesehen. Dann besann er sich darauf, nicht unter falschem, sondern dem richtigen Namen zu reisen – gemäß neuer Vorschrift eines geläuterten Sicherheitschefs, Marc Hoffman. ,...


Sutton, Henry
Henry Sutton, geboren 1963 in Gorleston-on-Sea, Norfolk, ist Autor, Literaturkritiker und war viele Jahre lang als Reisejournalist tätig. Er lehrt Creative Writing an der University of East Anglia in Norwich, leitet dort den Master-Studiengang Crime Fiction und ist Gründer des Noirwich Crime Writing Festivals. Sutton ist verheiratet und hat drei Kinder.



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