Sundermeier | Heimatkunde Ostwestfalen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 128 Seiten

Sundermeier Heimatkunde Ostwestfalen


1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-455-30726-9
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 128 Seiten

ISBN: 978-3-455-30726-9
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Wo kommst du wech?" Nicht zu viel Gerede - ein Buch über klare Verhältnisse. Das ist der Beweis: Ein Ostwestfale bleibt immer einer, egal wo er ist.

Im Wegsein erhält sich, wo man herkommt. Jörg Sundermeier besucht die Orte seiner Kindheit und erzählt über den Menschenschlag, die Geschichte und Kultur: Wie sich seine Heimat vom ärmsten Landstrich Preußens zu einem reichen Unternehmensstandort mauserte. Warum Gott im Zorn die Senne erschaffen hat. Warum man höchstens nicht meckern kann. Er probiert, wie die Kartoffel schmeckt und wie der Wurstebrei. Eine so sentimentale wie kritische, aber vor allem heitere Reise wie eine Fahrt mit Papas Auto durch eine wunderbare Landschaft ohne Landschaft.

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    — 2 —   Ostwestfalen     Die Region Ostwestfalen ist, wie jede Verwaltungseinheit, eine Erfindung. Sie wurde nach Belieben festgelegt. Allerdings hat Ostwestfalen, anders als andere Regionen, tatsächlich nicht einmal eine irgendwie herbeikonstruierbare historische Herkunft, es ist einfach nur da. Ostwestfalen ist nichts als eine Verwaltungseinheit innerhalb eines Regierungsbezirkes. Was aber macht diese Verwaltungseinheit aus? In einer Anthologie schrieb die Autorin Judith Berges vor einigen Jahren: Der Name der Region spricht für sich: Ostwestfalen-Lippe. Nichts an diesem Namen scheint für sich selbst stehen zu können. Nicht Falen, sondern Westfalen, nicht Westfalen, sondern, schönes Paradox, Ostwestfalen. Und nicht einmal das ist Festlegung genug. Das alles zusammen klingt nach Süd-Nord-Wind und einer kaum kaschierten Ortlosigkeit. Der Name der Region ist jedoch kein Paradox, denn er bezeichnet ganz sachlich den Osten Westfalens, dem die Region zuletzt zugeschlagen wurde. Doch es klingt paradox, in Ostwest zu leben. Und es ist typisch für den hier lebenden Menschenschlag. Der Versuch, sich anders zu definieren als nur über seinen Hof, seinen Flecken, sein Dorf, seinen Stadtteil oder sein Einsiedlerhäuschen mitten im Wald, scheitert. So entstand bei der Gebietsdefinition nichts als ein unauflösbarer Widerspruch, ein Paradoxon eben. Die Region, die heute Ostwestfalen heißt, entspricht dem früheren Regierungsbezirk Minden, bevor dieser 1947 auf Betreiben der britischen Besatzungsmacht die Region Lippe schluckte – oder bevor Lippe den Regierungsbezirk Minden schluckte. Über den genauen historischen Verlauf streiten die Lokalpatrioten noch. Ostwestfalen ist genau genommen der Nordosten Westfalens und mindestens so nördlich wie östlich. Die, die den Namen schließlich aufbrachten, müssen restlos amusische Bürokraten gewesen sein. Sonst wäre ihnen der Unfug, den die beiden Silben »Ostwest« in Kombination darstellen, aufgefallen. Und nicht einmal der Bezug auf Westfalen ist ein wirklich aus der Historie belegbarer, erst in den letzten zweihundert Jahren schlug man die heutige Region Ostwestfalen eindeutig Westfalen zu, vorher war das Westfalentum dieses Landstriches mehr als strittig. Zu Recht – denn schaut man sich heute in Münster oder Dortmund um, oder meinethalben in Beckum und Warendorf, so sieht man deutliche Unterschiede. Westfalen, also wirkliche Westfalen, sind sich ihres Westfalentums sicher. Über Ostwestfalen kann man das nicht sagen. Die Sprache, also ihr Name, hat offensichtlich ihr Sein geprägt – ein sehr gespaltenes Sein. Ostwestfalen hat immerhin einige Städte aufzuweisen, die geschichtlich sehr bedeutsam sind. Allen voran ist die erzkatholische Großstadt Paderborn zu nennen. Die Domstadt wurde früh einflussreich, im Jahr 776 richtete sich hier Karl der Große ein, ein Jahr später fanden der erste Reichstag und eine Missionssynode in Paderborn statt. Auf diese Weise kam die Stadt mit den nahezu unbegrenzt vielen Quellen des dann letztendlich nur wenige Kilometer langen Flüsschens Pader zu ihrer ersten namentlichen Erwähnung in den Annalen der Weltgeschichte. Nicht wenige Paderborner übrigens glauben, Paderborn sei die zweitliebste Stadt des großen Karls gewesen. Ob das stimmt, weiß ich nicht, doch vor gut anderthalb Jahrtausenden war das frischgegründete Paderborn auf dem Höhepunkt seiner Macht. Von dieser Feste aus trieb Karl der Große die Christianisierung im damaligen Sachsenreich voran. Doch allem bewaffneten Christentum zum Trotz ist das ehemalige Fürstbistum Paderborn nie wieder derart mächtig geworden. Zu Füßen des nach dem Zweiten Weltkrieg erst langsam wieder aufgebauten Doms findet sich, von einem Treppenabsatz aus grauem Beton unschön eingefasst, ein sehr alter steinerner Thronfuß. Stand hier einst der Thron des Frankenfürsten? Das wurde den historisch Interessierten zumindest eine Zeitlang suggeriert. Man lugt dort durch Scheiben auf diese Hinterlassenschaft, mithin auf die Geschichte. Doch die Geschichte antwortet nicht. Psst, Karl schläft, hatte ein kluger Witzbold vor vielen Jahren auf die Scheiben gesprüht. Der Spruch war sehr lange zu lesen. Meine Eltern fuhren am Sonntag gern nach Paderborn, mein Vater liebte es. In der Stadt musste man aber sowieso zu Libori gewesen sein – zumindest als katholischer Ostwestfale. Libori ist eine Kirmes mit langer Tradition. Den Anlass für das Volksfest bietet die Überführung der Gebeine des heiligen Liborius aus dem fränkischen Lothringen nach Paderborn, die im neunten Jahrhundert erfolgte und einen Liborius-Kult im jungen sächsischen Bistum entstehen ließ. Um den 23. Juli, den Festtag des Heiligen, beginnt das Fest. Würdevoll tragen die Würdenträger der würdigen Kirche einen würdigen goldenen Reliquienschrein am ersten Libori-Samstag durch die Stadt, am darauffolgenden Sonntag bringt, nicht minder würdig, eine von Schützenbrüdern begleitete Prozession den Schrein wieder in den Dom. Die zugehörige Kirmes ist riesig, und in der Stadt, in der es, soweit ich mich erinnern kann, fast immer regnet, sind Tausende auf den Straßen und wirklich ausgelassen – zumindest so lange, bis sie es mit der Ausgelassenheit übertrieben haben. Nach den tollen Tagen stehen den vielfachen Sündern die unzähligen Kirchen der Stadt zur Beichte offen. Das Katholikenleben in der alten, noch immer sehr, sehr streng katholischen Stadt ist zwar um einiges weniger sinnlich als in vergleichbaren Katholenhochburgen im Süden Deutschlands, doch die Institution der Beichte kommt auch hier zu ihrer Berechtigung. In Paderborn finden sich rund um die Altstadt auffallend viele Reste der Stadtmauer. Paderborn hat sich über Jahrhunderte gut abgeschottet. Altes, dunkles Gemäuer ragt in den Himmel, bei Sonnenuntergang wirkt es in manchen ecken beinahe gruselig. So etwa auf dem Parkplatz neben der Paderhalle am Maspernplatz – einer Multifunktionshalle, die vergleichbaren Bauten, die in den siebziger und achtziger Jahren in deutschen Städten gebaut wurden, in puncto Einfallslosigkeit in nichts nachsteht. Meine Eltern parkten hier ihren Wagen. Am Rand des Parkplatzes stand einer der alten Wehrtürme nebst Stadtmauerrest. Als Kind glaubte ich, dass hinter den vergitterten Fenstern dieses merkwürdigen, trotz seiner Zerstörtheit noch immer martialischen Turms aus dem Mittelalter böse Menschen oder Gespenster versteckt seien – offensichtlich eine negative Auswirkung der vielen Märchenfilme, die ich damals im Fernsehen sah. Auch sonst haben alte Mauern große Bedeutung in Paderborn, und das, obwohl dieser Ort im März des Jahres 1945 mehrfach schwer bombardiert worden ist – die alliierten Truppen wollten den Krieg endlich beenden und alle denkbaren Nachschubwege zerstören – und Paderborn war auch eine Garnisonsstadt. Das Bombardement ließ die Stadt in Schutt und Asche fallen, doch zugleich legte es altes Gemäuer wieder frei. Auch daher verzögerte sich der endgültige Wiederaufbau des Doms so lange. Paderborn ist voll von Geschichte, unter jedem Haus in der Altstadt darf man archäologische Schätze vermuten. Und die Geschichte dieser Stadt ist vor allem eine der Abwehr. Eine Abwehr, die bis heute vorherrscht. Noch immer wird in Teilen Paderborns erbittert gegen die Reformation und gegen die Aufklärung gekämpft. Trotz der schweren Bombenangriffe haben sich rings um die Innenstadt die meisten alten Kasernen erhalten – und Kasernen gab und gibt es im Umfeld Paderborns massenhaft. Nicht nur solche der Bundeswehr. Wenn es in Nordirland zu größeren Auseinandersetzungen zwischen der IRA und der britischen Armee kam, wurden die Tore rund um den militärisch genutzten Teil des Sennegebietes für alle geschlossen. Die British Army, so munkelte man, übe in der Senne den Häuserkampf, dem sie sich dann in Belfast und Umgebung stellen musste. Heutzutage scheint es um Afghanistan und den Irak zu gehen. Auf diese Weise nimmt ein beachtliches Stückchen Ostwestfalens immer wieder an der Weltgeschichte teil. Dieses Stückchen Senne – der Name bedeutet übersetzt »altes Heideland« – ist übrigens gerade dadurch, dass es so lange ausschließlich militärisch genutzt wurde, heute ein ziemlich malerischer Ort geworden. Den hier seit vielen Jahrzehnten üblichen Kriegsvorbereitungen verdankt die Region eine landschaftliche Idylle, die hoffentlich bald in Gänze zum Naturschutzgebiet erklärt wird. Die beliebten, halbwilden Senner Pferde etwa, die als Deutschlands älteste Pferderasse gelten, gibt es wohl nur noch, weil noch immer Krieg geübt wird und sich eine privatwirtschaftliche Ausbeutung dieses Teils der Senne daher erübrigte. Durch die Anwesenheit der Briten lernten viele Wirte rund um den Truppenübungsplatz in Sennelager, einem Ortsteil von Paderborn, zumindest drei Worte englisch. Out of bounds las man an vielen Gaststättentüren – britischen Armeeangehörigen wurde mit diesem Hinweis der Zutritt verwehrt. Wirte, die diesen Verweis nicht aussprachen, erfreuten sich an enormen Umsätzen. Und sie konnten nach jedem dritten Wochenende neues Mobiliar ordern. Dabei waren nicht nur die prügelnden einfachen Soldaten das Problem – auch die Military Police Ihrer Majestät der Queen half den Randalierern nach Kräften mit ihren Knüppeln beim Zerstörungswerk. Diese Officer, die die Schirme ihrer Schirmmützen so dicht an ihr Nasenbein heranzogen, dass sie nur noch mit einem in den Nacken gelegten Kopf sehen konnten, waren nicht nur bei Raufbolden gefürchtet. Ihr herrisches Auftreten faszinierte uns als Jugendliche ebenso sehr, wie es uns abstieß. Die British Army war bei uns Kindern beliebt, weil sie in...


Sundermeier, Jörg
Jörg Sundermeier ist Programmleiter des Berliner Verbrecherverlags. Als Kolumnist schreibt er für die taz und die Berliner Zeitung; in dem Buch "Der letzte linke Student" sind einige seiner schönsten Kolumnen aus der Jungle World versammelt. 2003 erschien das von ihm mit Werner Labisch herausgegebene "Bielefeldbuch". Der in Güterlsoh geborene Autor empfindet sich auch im Ausland immer als Ostwestfale.



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