Sullivan Der Turm von Avempartha
2. Auflage 2016
ISBN: 978-3-608-10733-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Riyria 2
E-Book, Deutsch, Band 2, 394 Seiten
Reihe: Riyria-Chroniken
ISBN: 978-3-608-10733-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael J. Sullivan, geboren 1961 in Detroit, begann zunächst eine Laufbahn als Illustrator und Künstler und gründete eine eigene Anzeigenagentur. 2005 beschloss er, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Mit den Fantasyepen um die Diebesbande Riyria wurde er weltweit berühmt. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Fairfax in der Nähe von Washington, D. C.
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1
Colnora
Als der Mann aus dem Schatten trat, wusste Wyatt Deminthal, dass dies der schlimmste und womöglich letzte Tag seines Lebens sein würde. In grobe Wolle und derbes Leder gekleidet, kam der Mann ihm auf Anhieb bekannt vor, ein Gesicht, das er vor über zwei Jahren einmal kurz bei Kerzenlicht gesehen hatte. Damals hatte er gehofft, ihm nie wieder zu begegnen. Der Mann trug drei Schwerter, alle gleichermaßen abgenutzt und verschrammt und mit zerschlissenen, vom Schweiß fleckigen Griffen. Er überragte Wyatt um fast einen Zoll und hatte breite Schultern und starke Hände. Auf den Fußballen balancierend blieb er vor Wyatt stehen und starrte ihn unverwandt an, wie eine Katze eine Maus.
»Baron Delano DeWitt von Dagastan?« Es war keine Frage, sondern eine Anklage.
Wyatt schlug das Herz bis zum Hals. Zwar hatte er das Gesicht erkannt, doch hatte der Optimist in ihm, der all die schrecklichen Jahre irgendwie überlebt hatte, weiterhin gehofft, der Mann sei nur hinter seinem Geld her. Die ersten Worte des Mannes machten diese Hoffnung zunichte.
»Tut mir leid, Ihr müsst mich verwechselt haben«, sagte er. Es sollte freundlich klingen, sorglos – unschuldig. Sogar seinen kalischen Akzent unterdrückte er, um seine Rolle noch überzeugender zu spielen.
»Keineswegs«, erwiderte der Mann, trat in die Mitte der Gasse und kam näher. Der Abstand zwischen ihnen schmolz bedrohlich. Der Mann trug die Hände locker vor dem Körper. Es wäre Wyatt lieber gewesen, sie hätten an den Schwertgriffen gelegen. Zwar war er selbst mit einem langen Entermesser bewaffnet, der Mann schien jedoch keine Angst vor ihm zu haben.
»Aber ich heiße nun mal Wyatt Deminthal, deshalb müsst Ihr Euch irren.«
Er hatte den Satz ohne Stottern herausgebracht, Gott sei Dank. Krampfhaft versuchte er sich zu entspannen, ließ die Schultern fallen und verlagerte das Gewicht auf ein Bein. Sogar ein freundliches Lächeln gelang ihm und er sah sich gelangweilt um, als gehe ihn das alles nichts an.
So standen sie einander in der engen, unaufgeräumten Gasse gegenüber, nur wenige Fuß von der Absteige entfernt, in der Wyatt sich eingemietet hatte. Es war Nacht. Unmittelbar hinter Wyatt hing an der Mauer eines Ladens eine Laterne. Ihr flackernder Schein spiegelte sich in den Pfützen, die der Regen auf den Pflastersteinen hinterlassen hatte. Hinter sich hörte er gedämpft und blechern die Musik des Wirtshauses ZUR GRAUEN MAUS. Von weiter weg kamen Stimmen, Gelächter und wütendes Gebrüll. Auf den Schrei einer unsichtbaren Katze folgte das Scheppern eines Topfes, den jemand hatte fallen lassen. Irgendwo ratterten die Räder einer Kutsche über das nasse Pflaster. Es war spät. Auf den Straßen waren nur noch Betrunkene, Huren und dunkle Gestalten unterwegs, allesamt lichtscheues Gesindel.
Der Mann trat noch einen Schritt näher. Der Blick seiner Augen gefiel Wyatt nicht. Aus ihm sprach eine unversöhnliche Entschlossenheit, aber auch, was Wyatt noch viel mehr beunruhigte, ein Anflug von Bedauern.
»Ihr habt mich und meinen Freund beauftragt, ein Schwert aus Schloss Essendon zu stehlen.«
»Tut mir leid, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon Ihr sprecht. Ich weiß nicht einmal, wo dieses Essendon-Dingsbums sein soll. Bestimmt verwechselt Ihr mich mit jemandem. Wahrscheinlich liegt es an meinem Hut.« Wyatt nahm seinen breitkrempigen Filzhut ab und hielt ihn dem Mann hin. »Bitte sehr, ein ganz gewöhnlicher Hut, wie man ihn überall bekommt, zugleich aber ungewöhnlich, weil zur Zeit nur wenige ihn tragen. Ihr habt wahrscheinlich jemanden mit einem ähnlichen Hut gesehen und glaubt jetzt, ich sei der Betreffende. Ein verständlicher Irrtum, den ich Euch auch gewiss nicht übelnehme.«
Er setzte den Hut wieder auf und zog ihn so zurecht, dass er nach vorn etwas tiefer und zur Seite ein wenig schräg auf dem Kopf saß. Zu diesem Hut trug er ein kostbares Wams aus schwarz-rotem Brokat und einen kurzen, glitzernden Umhang. Der fehlende Samtbesatz und die abgewetzten Stiefel verrieten freilich, wie es in Wirklichkeit um ihn stand. Noch verräterischer war der goldene Ring in seinem linken Ohr, eine letzte Erinnerung an das Leben, das er hinter sich gelassen hatte.
»Als wir die Kapelle betraten, lag der König auf dem Boden. Tot.«
»Ich verstehe ja, dass so etwas unangenehm ist«, sagte Wyatt und zupfte an den Fingern seiner vornehmen roten Handschuhe, wie er es immer tat, wenn er nervös war.
»Die Wachen warteten bereits auf uns. Wir wurden in den Kerker geworfen und wären fast hingerichtet worden.«
»Tut mir aufrichtig leid, aber wie gesagt, ich bin nicht DeWitt. Ich habe nie von ihm gehört. Sollte ich ihm je begegnen, richte ich ihm selbstverständlich aus, dass Ihr ihn sucht. Wie war noch gleich der Name?«
»Riyria.«
Die Laterne des Ladens hinter Wyatt erlosch und an seinem Ohr flüsterte eine Stimme: »Das ist Elbisch und bedeutet zwei.«
Sein Puls hämmerte, doch bevor er sich umdrehen konnte, spürte er die scharfe Schneide eines Messers an seinem Hals. Er erstarrte und wagte kaum zu atmen.
»Ihr habt uns getäuscht«, fuhr die Stimme hinter ihm fort. »Ihr habt alles eingefädelt und uns in die Kapelle gelockt, damit man uns als Mörder verhaftet. Erlaubt, dass ich mich dafür revanchiere. Wenn Ihr noch letzte Worte sprechen wollt, dann jetzt, aber bitte leise.«
Wyatt war ein guter Kartenspieler und verstand etwas von Bluffen. Der Mann hinter ihm bluffte nicht. Er wollte ihn nicht einschüchtern, erpressen oder zu etwas zwingen. Er benötigte keine Informationen, denn er wusste schon alles, was er wissen wollte. Der Ton seiner Stimme, seine Worte und der Rhythmus seines Atems an Wyatts Ohr machten nur eines klar – er wollte ihn töten.
»Was ist los, Wyatt?«, rief eine kindliche Stimme.
In einiger Entfernung ging eine Tür auf und ein Lichtkegel fiel auf die Gasse. In ihm stand ein Mädchen. Sein Schatten fiel über das Pflaster und wuchs an der gegenüberliegenden Häuserwand hinauf. Das Mädchen war mager, hatte schulterlange Haare und trug ein Nachthemd, das ihm bis zu den Knöcheln reichte. Darunter waren nackte Füße zu sehen.
»Nichts, Allie – geh wieder rein!«, rief Wyatt. Sein Akzent war auf einmal deutlich zu hören.
»Wer sind die Männer, mit denen du sprichst?« Allie kam einen Schritt näher. Sie trat mit dem Fuß in eine Pfütze und das Wasser kräuselte sich. »Sie sehen wütend aus.«
»Ich will keine Zeugen«, zischte die Stimme hinter Wyatt.
»Tut ihr nichts«, flehte Wyatt. »Sie hat nichts damit zu tun, ich schwöre es.«
»Womit zu tun?«, fragte Allie. »Was wollen die von dir?« Sie kam noch einen Schritt näher.
»Bleib, wo du bist, Allie! Komm nicht näher. Tu bitte, was ich sage.« Das Mädchen blieb stehen. »Ich habe einmal etwas Schlimmes getan, Allie. Du musst das bitte verstehen. Ich habe es für uns getan, für dich, Elden und mich. Weißt du noch, wie ich vor ein paar Wintern einen Auftrag übernommen habe? Wie ich für einige Tage nach Norden verreisen musste? Also damals … da habe ich etwas getan, eine schlimme Sache. Ich habe mich für jemanden ausgegeben, der ich nicht bin, und das hätte einige Leute um ein Haar das Leben gekostet. Damit habe ich das Geld für den Winter verdient. Du darfst mich deshalb nicht verurteilen, Allie. Ich liebe dich, Schatz. Und jetzt geh bitte wieder nach drinnen.«
»Nein!«, rief das Mädchen. »Ich sehe das Messer. Die wollen dir wehtun.«
»Wenn du nicht sofort reingehst, töten sie uns beide!«, brüllte Wyatt. Er hatte nicht laut werden wollen, aber irgendwie musste er Allie doch überzeugen.
Allie begann zu weinen. Mit bebenden Schultern stand sie in dem Lichtkegel, der auf die Gasse fiel.
»Geh rein, Schatz«, wiederholte Wyatt mühsam beherrscht. »Alles wird gut. Du darfst nicht weinen. Elden wird für dich sorgen. Erzähl ihm, was passiert ist. Alles wird gut.«
Das Mädchen schluchzte weiter.
»Bitte, Schatz, du musst jetzt reingehen«, bettelte Wyatt. »Mehr kannst du nicht tun. Tu’s für mich, bitte.«
»Ich … liebe … dich, Pa … pa.«
»Das weiß ich doch, Schatz, das weiß ich doch. Ich liebe dich auch und es tut mir schrecklich leid.«
Allie ging langsam ins Haus zurück. Der Spalt, durch den das Licht fiel, schrumpfte, dann fiel die Tür ins Schloss und draußen wurde es wieder dunkel. Nur der schwache bläuliche Schein des wolkenverhangenen Mondes drang in die enge Gasse, in der die drei Männer standen.
»Wie alt ist das Mädchen?«, fragte die Stimme hinter Wyatt.
»Lasst sie aus dem Spiel. Und jetzt macht wenigstens schnell, bitte!« Schicksalsergeben senkte Wyatt den Kopf. Der Anblick des Kindes hatte ihn gebrochen. Er zitterte am ganzen Leib und hatte die behandschuhten Hände zu Fäusten geballt. Seine Kehle war wie zugeschnürt, er konnte kaum schlucken und bekam keine Luft. Er spürte die stählerne Klinge an seiner Kehle und wartete darauf, dass sie sich bewegte und in seinen Hals schnitt.
»Wusstet Ihr, dass es sich um eine Falle handelte, als Ihr den Auftrag angenommen habt?«, fragte der Mann mit den drei Schwertern.
»Was? Nein!«
»Hättet Ihr ihn angenommen, wenn Ihr es gewusst hättet?«
»Keine Ahnung – wahrscheinlich – doch. Wir brauchten das Geld.«
»Ihr seid also kein Baron?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Ich war Kapitän.«
»Wart? Warum nicht mehr?«
»Ihr wolltet mich doch töten. Wozu die ganzen Fragen?«
»Solange Ihr Fragen beantwortet, lebt Ihr noch«, sagte die Stimme hinter ihm, die Stimme des Todes, bar jeden Gefühls. In Wyatt krampfte sich alles zusammen, als...