Sulej | Persönliche Dinge | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

Sulej Persönliche Dinge

Was Kleidung aus NS-Lagern uns heute erzählen kann
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8412-3787-3
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Was Kleidung aus NS-Lagern uns heute erzählen kann

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

ISBN: 978-3-8412-3787-3
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



DIE GESCHICHTE EINES DINGS IST DIE GESCHICHTE DES MENSCHEN, DEM ES GEHÖRT

Kleidung ist mehr als eine äußere Hülle. Die Art und Weise, wie wir uns kleiden, unseren Körper schützen oder ihn schmücken, ist Ausdruck des menschlichen Willens, wir selbst zu sein. Welchen Stellenwert erhält Kleidung in einem System, das die Vernichtung des menschlichen Selbst zum Ziel hatte? Dieser Frage geht Karolina Sulej in ihrem Buch nach. Einfühlsam und eindringlich, perspektivenreich und vielschichtig widmet sich die polnische Historikerin damit einem Thema, das bislang selten im Fokus der Holocaust-Literatur stand und doch so viel erzählt über Identität, Kultur und Überlebenswillen. Gestützt auf Archivfunde, Forschungsarbeiten, Literatur und eine Vielzahl persönlicher Begegnungen zeigt sie, wie persönliche Dinge zum Erhalt der Menschenwürde beitrugen.

Zum 80. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1945.



Karolina Sulej, geboren 1985, ist Autorin, Journalistin und Historikerin. Sie promoviert am Institut für Polnische Kultur an der Universität Warschau, wo sie zur Holocaust-Erinnerungskultur forscht, und publiziert zur Geschichte der Kleidung in Polen und zu aktuellen Phänomen der Mode. Ihr Podcast Ubrani ('Gekleidet') erhält regelmäßig Tausende Aufrufe. 2021 stand sie auf der Shortlist für den Ryszard-Kapu?ci?ski-Preis für literarische Reportagen. Bernhard Hartmann, geb. 1972 in Gerolstein/Eifel, studierte Polonistik und Germanistik und ist Übersetzer aus dem Polnischen. 2013 wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis ausgezeichnet. 2023 erhielt er für seine Übersetzung des Spiegel-Bestsellers 'In den Häusern der anderen' von Karolina Kuszyk den Sonderpreis des Riesengebirgspreises für Literatur und 2024 den Georg Dehio-Buchpreis. 2024 erschien das von ihm übersetzte und herausgegeben Kriegstagebuch von Aurelia Wyle?y?ska 'Über nichts schreiben, als was meine Augen sehen'.
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Vorwort


Mirjam Zadoff

Ein Kleid aus olivfarbenem Georgette, mit Perlen bestickt, Pailletten schmücken den tiefen Ausschnitt. Dazu ein Jäckchen, weiß mit roten Streifen und blauem Futter. Die junge Frau versucht, die viel zu kleine Kinderjacke über das Ballkleid zu ziehen. Dazu trägt sie Socken, eine länger und violett, die zweite kürzer und grün, und schwere Männerschuhe, die ihr viel zu groß sind. Ihr Name ist Zdenka Fantlová, sie ist Jüdin und stammt aus der Tschechoslowakei. Jetzt lebt sie im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, oder besser, sie versucht am Leben zu bleiben. Zdenka schätzt sich glücklich, dass sie nicht wie andere barfuß durch den Schlamm des Lagers laufen muss, oder in Holzpantinen, die ihr die Füße wundscheuern und bei jedem zweiten Schritt vom Fuß rutschen.

In Dutzenden Baracken werden im Effektenlager von Birkenau Kleider, Koffer, Schuhe, Bettwäsche und vieles mehr gesammelt und gehortet. Das Effektenlager erhält euphemistisch den Beinamen »Kanada« – das Land des Überflusses, und 1500 bis 2000 Häftlinge arbeiten hier. Sie sortieren und verwalten die Besitztümer der vergasten jüdischen Frauen, Männer und Kinder. Sie suchen für die SS nach Schmuck und Wertgegenständen, und sortieren Zigtausende Bekleidungsstücke und Schuhe aus, die ins Reich geschickt werden, um deutsche Familien auszustatten. Die Gier der Machthaber ist schier unstillbar. Aber die Häftlinge müssen auch die Neuzugänge im Lager ausstatten, nachdem die Menschen desinfiziert, am ganzen Körper rasiert und ihrer Identität beraubt wurden.

Warum nun wird Zdenka ein Abendkleid zugeteilt? Wie soll sie mit dem langen gefransten Saum des Kleides Schwerstarbeit verrichten? Egal, sie wird. Und wie ihr geht es vielen anderen, die froh sind, ein Kleidungsstück – irgendeines – ergattert zu haben. Nur nicht nackt oder halbnackt im Gras liegen, wie die ungarischen Jüdinnen, die zwei Monate ohne Unterkunft mitten auf einer Wiese im Lager ausharren müssen.

Dieses Buch richtet unseren Blick auf die äußere Hülle, auf das, was die Menschen in den Lagern von ihrer Umwelt trennt, ihren Körper schützt, wenn auch schlecht. Und es zeigt, wie viel diese spärlichen Hüllen mit der Identität der Geschundenen und mit ihrem Überleben zu tun haben. Raul Hilberg, der vor den Nazis aus Wien in die USA geflohene Doyen der Holocaustgeschichte bemerkte 2006 in einem Interview, dass seiner Meinung nach bis dato nur 20 Prozent der NS-Geschichte erforscht wären – und das obwohl Zehntausende Bücher und Studien darüber Bibliotheken füllen. In den vergangenen 20 Jahren, seit diesem Interview, wurden so manche Lücken geschlossen. Karolina Sulejs Buch Persönliche Dinge trägt dazu in besonderer Weise bei, weil sie eine Perspektive einnimmt, die so ganz anders ist und die einem nahegeht. Die Lektüre dieses Buches ändert mein Bild der Lager wie wenige andere. Karolina Sulej hat unzählige Berichte von Überlebenden gelesen, Interviews geführt, Museen und Sammlungen besucht.

Denkt man an Konzentrations- und Vernichtungslager, entsteht vor dem inneren Auge ein Bild von Menschen in gestreifter Lagerkleidung. Doch in Wirklichkeit hat nur ein Teil derer, die die Selektionen überlebten, jemals eine solche Uniform getragen. Die ersten Häftlinge in Dachau tragen noch die monochromen Anzüge, die der damaligen Gefängnistracht entsprachen. Aber bereits 1934 werden die gestreiften Anzüge eingeführt, aus rauem, kratzigem Stoff – oft aus billiger Zellulose hergestellt. Die Streifen sollen die Menschen erniedrigen und eine Flucht verunmöglichen, deshalb ist der Stoff durchgefärbt: Streifen innen wie außen. Von den Gefangenen Pasiak genannt, bieten die Uniformen weder die Wärme noch den Schutz, den die Menschen brauchten. Dinge wie Unterwäsche und Gürtel fehlen meist zur Gänze. Und trotzdem beschreiben Überlebende, dass ihnen dieses Kleidungsstück auch eine gewisse Würde gab und die Ernsthaftigkeit der Situation betonte.

Doch je länger der Krieg dauert, desto weniger gestreifte Uniformen gibt es. Immer mehr Menschen werden in wild zusammengewürfelten Zivilkleidern, die den Vergasten gehörten, durch das Lager getrieben. Kleider, die weder in ihrer Funktion noch Größe zueinander oder zu ihrem Träger, ihrer Trägerin passen, nicht zur Jahreszeit oder zu der Arbeit, die geleistet werden muss. Da tragen junge Frauen viel zu große Uniformen sowjetischer Kriegsgefangener und Männer tauchen auf in Frauenmänteln. Viele Kleider sind schmutzverkrustet, kaputt, zerschlissen und manchmal nicht mehr als Lumpen. Damit keiner auf die Idee kommt zu fliehen, werden mit gelber Farbe leuchtende Flecken auf die Knie gemalt, und rote, grüne oder blaue Streifen auf Jacken und Mäntel. Wie lachhafte Figuren fühlen sich die so gekleideten Menschen auf dem Appellplatz, ihre Demütigung und Erniedrigung sind nun perfekt.

Es ist viel die Rede vom Schlamm und vom Schmutz, der in den Kleidern klebt, die nicht trocknen wollen, von den Läusen und Flöhen im Gewebe des Stoffes, auf der Haut, in den Fetzen der Bettlager. Karolina Sulej schreibt über den Schmerz, dem eigenen Körper zuzuschauen, wie er immer hässlicher, kränker und versehrter wird, weil er nicht gewaschen und gepflegt werden kann und auf das schmutzige Wasser und die Unterernährung mit Durchfällen reagiert. Die geschorenen Köpfe, die ebenfalls eine Flucht unmöglich machen sollen, nehmen besonders den Frauen ihre Identität.

Es ist von der Hierarchie in den Baracken die Rede, wer ganz oben und wer ganz unten ist, und wie sich diese Position in den Kleidern widerspiegelt. Ganz oben stehen die Funktionshäftlinge, von denen sich manche richtig ausstaffieren und ihren Modegeschmack protzig zur Schau stellen, während ihre Brutalität im Gegensatz steht zu den feinen Stoffen. So gut sind sonst nur die jungen Frauen angezogen, die in die Lagerbordelle gezwungen werden. Und dann natürlich die Deutschen, Männer wie Frauen, deren Uniformen sie stolz, sauber und entrückt, jenseits des Lagerelends erscheinen lassen.

Während ich in Persönliche Dinge lese, klappe ich immer wieder meinen Laptop auf und suche nach Fotos – das Auschwitzalbum, Häftlingskarteien, Fotos von der Befreiung Bergen-Belsens, von den Menschen vor und nach den Lagern. Mein Blick gleitet suchend über die Mäntel, Kopftücher, Kragen und Schuhe. Sind sie zu groß? Wärmen sie ausreichend? Sind sie voller Flöhe? Und wie ungewöhnlich es ist, wenn einer Frau das Haar nicht abrasiert wurde, oder jenes Bild einer Romni in der Häftlingskartei, in Kleid, Perlenkette und mit üppigem Haar.

Aber es wird nicht nur vom Elend erzählt, sondern auch von Kreativität und Selbstbehauptung. Da wird das Innere eines Mantels umgenäht zum einzigen Büstenhalter weitum, da verrät die Art und Weise, wie ein Kopftuch gebunden wird, woher man kommt, da werden die wenigen Schätze, wie ein Löffel oder ein selbstgebastelter Kamm in Beuteln verborgen und nah am Körper getragen. Mode ist Teil der Freiheit, die einem genommen wurde, und das Schöne wird zu einem Akt des Widerstands gegen das Übel, sei es noch so schlimm: ein Stück Stoff vielleicht oder ein buntes Kleid oder ein Kamm aus einem Stück Draht. Denn je besser man aussah, desto besser wurde man behandelt.

Nach dem Krieg müssen die Menschen lernen, wieder mit Dingen zu leben, sich anzuziehen und – das größte Glück von allen – sich zu waschen. Der Mangel ist groß in den DP-Lagern, bis von den Deutschen eine Kleidersteuer eingefordert wird, jeder muss etwas abgeben. Im DP-Camp Bergen-Belsen wird eine Baracke eingerichtet, wo die Überlebenden sich selbst ihre Kleider auswählen dürfen, Kleider die passen und sauber sind. Das schiere Glück, seiner Identität wieder Ausdruck zu verleihen, spiegelt sich im Namen, den sie der Baracke geben: »Harrods«. Irgendwann erhält das befreite Lager eine Lieferung Lippenstifte, keiner weiß weshalb oder woher, es gäbe so viel anderes, das dringender gebraucht würde. Aber dann überrascht alle die Kraft dieser unsinnigen Lippenstifte, die Frauen, aber auch Männer scheinbar wieder zum Leben zu erwecken.

München im Februar 2025

Ungarische Jüdinnen mit kahlgeschorenen Köpfen beim Appell, nach der Einweisung ins Lager Birkenau, 1944. Das Bild stammt aus dem sogenannten Auschwitz-Album, einem von der Überlebenden Lili Jacob auf dem Gelände des ehemaligen Lagers...



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