Süss | Die entschlossene Generation | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 247 Seiten

Süss Die entschlossene Generation

Kriegsenkel verändern Deutschland
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95890-148-3
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kriegsenkel verändern Deutschland

E-Book, Deutsch, 247 Seiten

ISBN: 978-3-95890-148-3
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Es ist die Generation der 40- bis 65-Jährigen, es sind die Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge, die an den Schalthebeln der Macht in Politik, Wirtschaft und Kultur sitzen. Jahrzehntelang standen sie im Schatten ihrer Vorgänger, der 68er, und im Gegensatz zu diesen gelang es ihnen nur schwer, ein Gefühl für ihre gesellschaftliche Rolle und ihre Aufgabe zu entwickeln. Das hat sich inzwischen gründlich geändert, denn es waren die Babyboomer, die der Vermutung nachgingen, die Erfahrungen ihrer Eltern während der NS-Zeit und im Krieg könnten etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. Ab der Jahrtausendwende begannen sie, diesen vergessenen Zusammenhang zu untersuchen. Als "Generation Kriegsenkel" drücken sie dem Deutschland von heute ihren unverwechselbaren Stempel auf. Doch was treibt sie an? Welche Ziele verfolgen sie? Wie prägen und verändern sie unser Land?

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DIE GESCHICHTE UNTER UNSEREN FÜSSEN
Auf der Insel Usedom, am nordöstlichsten Zipfel Deutschlands, erhebt sich ein Hügel, der Golm. Inmitten der ansonsten weitgehend flachen Küstenlandschaft der mecklenburg-vorpommerschen Ostseeküste ist der Golm schon eine Besonderheit. Mit seinen knapp 70 m Höhe stellt er die höchste Erhebung auf Usedom dar und bietet ein einzigartiges Panorama über diesen Abschnitt des Küstenlandes. Für Tausende Besucher, Anwohner wie Urlauber, ist er Jahr für Jahr ein beliebtes Ausflugsziel, aber der Golm ist kein gewöhnlicher Berg. Am 12. März 1945 wurde die nahe gelegene Hafenstadt Swinemünde von einem verheerenden Luftangriff getroffen. Swinemünde war Stützpunkt der Kriegsmarine und 1945 Auffanglager für etwa 100 000 Flüchtlinge, die aus Ostpreußen vor der Roten Armee geflohen waren und sich auf Schiffen im Hafen, in Notquartieren und im übrigen Stadtgebiet drängten. Etwa 20000 Menschen, überwiegend Flüchtlinge, aber auch Einwohner der Stadt Swinemünde kamen bei diesem Angriff ums Leben. Fast alle wurden in Massengräbern auf dem Golm bestattet, der schon zuvor als Soldatenfriedhof für Heer und Marine Verwendung gefunden hatte. Der Golm ist heute eine der größten Kriegsgräber- und Kriegsopferstätten in Deutschland. Bis 1945 gehörte er zur Hafenstadt Swinemünde und war schon damals ein gern besuchtes Naherholungsgebiet. Heute liegt er auf dem Gebiet der Gemeinde Garz, unmittelbar an der Grenze zu Polen. Die Toten aber, sie blicken weiterhin auf ihre alte Heimatstadt, die immer noch zu ihren Füßen, nun aber in einem anderen Land liegt und fern erscheint. Swinemünde gehört heute zu Polen und heißt Swinoujscie. Der Luftangriff auf diese Hafenstadt war jahrzehntelang aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Die Grenzverschiebungen nach 1945 und die politischen Verhältnisse im Osten Deutschlands ließen in Mittel- und Osteuropa keine adäquate Gedenkkultur entstehen. Dies änderte sich erst mit der Wende 1989/90. Mittlerweile findet am Jahrestag der Angriffe auf Swinemünde, am 12. März, regelmäßig eine Gedenkveranstaltung auf dem Golm statt. Nicht allen, vor allem wahrscheinlich vielen Urlaubern nicht, ist die besondere Geschichte dieses Ortes vertraut. Im Grunde befinden sie sich auf einem riesigen Grabhügel, an dessen Flanken Menschen bestattet sind, die früher in der angrenzenden, heute polnischen Stadt lebten. Sie stehen auf einem Boden voller Geschichte und Geschichten, auf einem gewaltigen Gräberfeld, dessen Tote nur zu einem kleineren Teil namentlich bekannt sind. So steht der Golm am nordöstlichsten Zipfel Deutschlands paradigmatisch für die Situation in diesem Land. Die Menschen in ihm bewegen sich, wo auch immer sie gehen oder stehen, über den Abgründen der Zeit. Nur ein klein wenig unter der Krume, die an der Oberfläche den Wechsel der Jahreszeiten und damit so etwas wie Beständigkeit, Verlässlichkeit, aber auch Normalität bedeutet. Dort ist die Vergangenheit weiter präsent. Dort lebt die Geschichte unseres Landes weiter. Dies ist nicht nur sinnbildlich gemeint, denn die Vergangenheit macht sich bemerkbar, führt uns ihre Gegenwärtigkeit in vielerlei Hinsicht beständig vor Augen, ganz materiell, aber auch in geistiger Hinsicht. In regelmäßigen Abständen müssen überall in Deutschland Innenstädte und Industrieanlagen geräumt werden, weil bei Bauarbeiten Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt worden sind und entschärft werden müssen. Auf den Schlachtfeldern dieses Krieges werden bis heute gefallene Soldaten exhumiert, manchmal Angehörige der Wehrmacht und der Roten Armee dicht nebeneinanderliegend wie auf den Seelower Höhen östlich von Berlin. Und wer wüsste nicht, wie lebendig die geistigen Hinterlassenschaften der nationalsozialistischen Ideologie noch immer sind, deren Gespenster uns ganz aktuell unter den Stichworten »NSU« und »Pegida«, aber auch in Gestalt grassierender Fremdenfeindlichkeit in einer nie da gewesenen Anschlagswelle auf Flüchtlingsunterkünfte begegnen. Besuchern, die den Golm erstiegen haben, eröffnet sich ein großartiges Panorama auf die Stadt Swinoujscie. Wie in einem Brennglas steht der weithin sichtbare Hügel für die Überlagerung historischer Räume in der Mitte Europas. Swinemünde und sein Aussichtsberg gehörten bis 1945 so selbstverständlich zum Deutschen Reich wie Breslau und Berlin. Wohl niemand hätte sich zu dieser Zeit ausmalen können, dass sich nicht nur die Stadtgrenzen dieser Hafenstadt weiter nach Osten, in Richtung Zentrum verschieben könnten, sondern dass einmal eine Staatsgrenze von Norden nach Süden durch die Stadt laufen würde, ähnlich wie in Berlin zur Zeit der Mauer. Die Westverschiebung Polens, von den Alliierten im Februar 1945 auf der Konferenz von Jalta endgültig beschlossen, führte dazu, dass die Grenze der Volksrepublik Polen plötzlich unmittelbar westlich der Stadt entlangführte. Nachdem das sogenannte Großdeutsche Reich seinen Untergang selbst herbeigeführt hatte, lag der Golm an der nordöstlichen Grenze der SBZ, der sowjetischen Besatzungszone, und ab 1949 in der DDR. Die Wende und die darauf folgende Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten machten diese Grenze wieder durchlässig. 2004 wurde Polen in die Europäische Union aufgenommen. Eine Staatengrenze zwischen der Stadt Swinoujscie und ihrem früheren Hausberg existiert zwar noch, aber sie ist für die Menschen in dieser Gegend und Besucher kaum noch wahrnehmbar. Heute sind beide Teile des alten Swinemünde im supranationalen Organismus der Europäischen Union wiedervereinigt. Die Toten im Boden unter unseren Füßen, nicht nur diejenigen, die auf den großen Kriegsgräberstätten ihre letzte Ruhe gefunden haben, sondern auch die unzählbaren, die noch ungeborgen in der Erde ruhen, sie alle stehen für die Abgründigkeit der deutschen Geschichte und für das damit verbundene Trauma der Weltkatastrophe in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Zahlen sprechen Bände: Im Jahr 2014 (!) wurden vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge 31 698 Gefallene des Zweiten Weltkriegs exhumiert, überwiegend in Weißrussland, Russland, der Ukraine und Polen. 2015 sollten ca. 29 000 Kriegstote umgebettet, das heißt exhumiert und neu bestattet werden. Am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 2016 wurden in Augsburg 54 000 Menschen aus ihren Häusern und Wohnungen evakuiert, damit eine britische Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg geborgen und entschärft werden konnte. Die große Zahl der Evakuierten war notwendig geworden, weil die Bombe des Typs HC 4000 LB mit einem Gewicht von 1,8 t zu den Luftminen mit der größten Zerstörungskraft der Royal Air Force gehörte. Für die Stadt Augsburg bedeutete dies die größte Evakuierungsaktion seit dem Ende des Krieges. Die Süddeutsche Zeitung vom 20. Dezember 2016 listete einige der Entschärfungsaktionen auf, die es zuvor gegeben hatte: Am 27. November 2016 mussten 8000 Menschen in Osnabrück in Sicherheit gebracht werden, um eine 250-kg-Fliegerbombe entschärfen zu können. Am 6. Dezember wurden in Berlin 2600 Personen wegen einer 50-kg-Bombe evakuiert; am 7. Dezember mehr als 1000 Menschen in München wegen einer 250-kg-Fliegerbombe und am 12. Dezember 1100 Menschen in Köln wegen einer 500-kg-Bombe. Experten schätzen, dass zwischen 5 und 15 Prozent der über deutschen Großstädten abgeworfenen Bomben nicht explodierten. Etwa 100 000 Blindgänger liegen immer noch im Erdreich der Städte, unmittelbar unter der Oberfläche, unter Gebäuden, Straßen und Plätzen. Eine systematische Suche nach ihnen gibt es nicht. Wenn solche Blindgänger entdeckt werden, dann meist zufällig bei Bauarbeiten. Die Kosten gehen jährlich in die Millionen, die Fachleute der Kampfmittelräumdienste schätzen, dass diese Art der Vergangenheitsbewältigung noch Jahrzehnte weitergehen wird. Der Boden Europas ist von der katastrophalen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts buchstäblich durchtränkt, nicht nur in Deutschland ist das so. Man muss nur genau hinschauen, dann zeigt sich eine andere Geschichte als die, die uns die Oberfläche unserer Gegenwart präsentiert. Der Direktor des Humboldtforums im neu aufgebauten Berliner Stadtschloss, der Brite Neil MacGregor, organisierte in seiner früheren Funktion als Direktor des British Museum in London eine furiose Ausstellung unter dem Titel »Deutschland – Erinnerungen einer Nation«. In seinem gleichnamigen Buch findet sich das Bild eines Kanaldeckels aus Kaliningrad. Nun möchte man meinen, dass Kanaldeckel vielleicht nicht unbedingt zu den bevorzugten Objekten eines derart renommierten Hauses wie des British Museum gehören sollten. Doch dieser Kanaldeckel trägt – mitten in der lange unzugänglichen russischen Enklave und nach der gründlichen stalinistischen Auslöschung der preußischen Vergangenheit – die Aufschrift: »1937 – Königsberg«. Er ist ein stummer Zeuge der deutschen Geschichte von Kaliningrad, die 1945 ihr Ende gefunden hatte. In der Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft Niederschlesien, Wroclaw, wurde kürzlich mit der Restaurierung eines alten Straßenbahnwagens Baujahr 1915 begonnen. Der ramponierte Wagenkasten hatte die Zeitläufte bis heute wundersamerweise überdauert. Vor dem gotischen Rathaus der Stadt wurde auf großen Tafeln auf das Restaurierungsprojekt des dortigen Verkehrsbetriebes hingewiesen. Eine Zeichnung zeigte das demnächst wieder in den historischen Originalzustand zurückversetzte Fahrzeug mit der Nummer 325 und der Eigentümerkennung der...


Joachim Süss, Jahrgang 1961, Studium der Theologie und Religionsgeschichte, 1994 Promotion. Er unterrichtete viele Jahre Religionsgeschichte an den Universitäten Marburg und Jena, arbeitete bis 2007 als Referent im Thüringer Kultusministerium und ist heute als Autor, Herausgeber und Seminarleiter tätig. Er hat zahlreiche Bücher und Beiträge veröffentlicht, u.a. den Erfolgstitel Nebelkinder – Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte.



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