Sünner | Wildes Denken | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Sünner Wildes Denken

Europa im Dialog mit spirituellen Kulturen der Welt
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95890-314-2
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Europa im Dialog mit spirituellen Kulturen der Welt

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-95890-314-2
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In seinem berühmten Buch "Das wilde Denken" beschrieb der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss die ganzheitliche, bildhafte und mit der Natur verbundene Weltsicht indigener Kulturen. Dieses "wilde Denken" sieht – anders als das dualistische Weltbild westlicher Tradition – eher fließende Übergänge zwischen Mensch und Natur, Realität und Geisterwelt, Leben und Tod, was Rüdiger Sünner an ausgewählten Beispielen aus Amerika, Afrika, Asien und Ozeanien eindrucksvoll veranschaulicht. Indigene Kulturen halten die Natur für durchgängig beseelt und glauben an ein Fortleben der Seele nach dem Tode, egal ob in Form von Wiedergeburt, Seelenwanderung oder Ahnenkult. Solche Auffassungen werden in unserem wissenschaftlich bestimmten Weltbild schnell als "esoterisch" abgetan, obwohl Europa über Jahrtausende selbst Ausprägungen eines "wilden Denkens" kannte.
Rüdiger Sünner, seit Jahrzehnten auf der Suche nach spirituellen Traditionen, zeigt anschaulich, welche Formen dieses Denken in verschiedenen Kulturen angenommen hat und welche Inspirationen wir gerade im Zeitalter von Naturzerstörung, Klimawandel und ökonomischem "Steigerungszwang" daraus ziehen können. "Wildes Denken" kann zu einer neuen Identität Europas beitragen, zu der auch die Mythen, spirituelle Traditionen und Weisheitslehren gehören.

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IM PALAST DER MYTHEN
Vor ein paar Jahren besuchte ich ein letztes Mal das Ethnologische Museum in Berlin-Dahlem, bevor es für immer seine Pforten schloss, um ins Humboldt Forum in die Mitte der Stadt umzuziehen, wo seine Sammlungen ab Mitte 2021 gezeigt werden sollen. Viele Male schon hatte ich dieses riesige Ausstellungsgebäude aufgesucht, in dessen Depots über 500 000 ethnographische und kulturhistorische Sammlerstücke aus aller Welt lagern. Während meiner Studienzeit an der Freien Universität Berlin in den 1980er-Jahren war es zu einer zweiten geistigen Heimat für mich geworden. Ich besuchte damals häufig Seminare und Vorlesungen in der »Rostlaube«, einer Zweigstelle der Freien Universität. In längeren Pausen zwischen Lehrveranstaltungen ging ich manchmal hinüber zum Museum, das nur fünf Minuten Fußweg entfernt lag. Das ehemalige Ethnologische Museum in Berlin Dahlem Dort empfing mich eine andere Welt. Während in den kahlen Seminarräumen der FU die auf Logik und Empirie beruhende wissenschaftliche Methodik gelehrt wurde, öffnete sich im Dämmerlicht des Ethnologischen Museums ein Reich der Bilder und Träume. Rätselhafte Masken von indianischen und afrikanischen Kulturen waren dort zu bewundern, Ahnenpfähle aus der Südsee und religiöse Skulpturen aus Indien, Tibet und China. Es wimmelte von Göttern, Geistern und Dämonen aus allen Teilen der Welt, die in mir zunächst nur grenzenloses Staunen hervorriefen. Bei meinem letzten Besuch las ich in einer Vitrine den Hinweis, dass für bestimmte Völker Asiens selbst in einem Reiskorn eine Seele wohnt, und ein doppelköpfiges afrikanisches »Krafttier« wurde so gedeutet, dass das eine Antlitz zum Dorf und das andere zur Welt der Toten schaut. Alles war in diesen mythologischen Kulturen beseelt, und das Leben der Seele endete auch nicht mit dem physiologischen Sterben des Körpers. Gesichtsmaske aus der Republik Kongo, mit deren Hilfe der Träger in die Geisterwelt schauen kann Einem ganz anderen Geist begegnete ich, wenn ich nach solchen Erlebnissen wieder zur Universität zurückkehrte, um an Vorlesungen oder Seminaren teilzunehmen. An der FU war kein Platz für mythologische oder gar spirituelle Vorstellungen, hier herrschte der kühle Geist der wissenschaftlichen Vernunft. Es ging nicht um Götter oder Geister, sondern alles musste mithilfe von Fakten und logischen Verknüpfungen erklärt werden. Hier dominierte die Wissenschaft als Erbe der Aufklärung, die vor knapp 400 Jahren in Europa begonnen hatte, sich von allen metaphysischen Gedanken zu befreien, damit der Mensch sich seines »eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen« (Immanuel Kant) bediente. Es gab durchaus spannende Veranstaltungen für mich an der Universität, etwa über Theodor W. Adorno, Martin Heidegger, Paul Celan oder die deutsche Romantik. Aber als spirituell Suchender fand ich an der FU keine Antworten. Das Wort »Spiritualität« tauchte während meines gesamten Studiums nicht ein einziges Mal auf, und der Begriff »Mythos« war an der Universität in der Regel mit einem negativen Beigeschmack versehen. Meistens wurde er synonym für Schein, Lüge, Verschleierung und Illusion eingesetzt, bedeutete also das genaue Gegenteil der auf »Wahrheit« hin orientierten Wissenschaft. Im benachbarten Ethnologischen Museum dagegen regierte die Welt der Mythen in unumschränkter und nicht infrage gestellter Pracht. In diesen Hallen wurden meine künstlerischen Seiten aktiviert, die an der Universität meistens brachlagen: Fähigkeiten des intuitiven, imaginativen und assoziativen Denkens, die in den Seminarräumen eher störten. Oft hatte ich den Eindruck gehabt, dass ich diese für mich so wertvollen Eigenschaften mit meinem Mantel an der Garderobe abgeben musste, um sie nicht in die Hörsäle zu tragen, wo nur »klares« und »logisches« Denken gefragt war. Meine subjektiven Gedanken und Assoziationen interessierten dort nicht, aber in der Mythenwelt des benachbarten Museums wurden sie stimuliert und halfen mir, mich besser in die verschiedenen Objekte einzufühlen. Ich war oft erstaunt darüber, welch hohes ästhetisches Niveau diese Sammlerstücke besaßen, egal ob sie aus Indien, Japan oder Papua-Neuguinea stammten. Alle Objekte hatten eine enorme Kraft, die nichts mit ornamentaler Ästhetik zu tun hatte, sondern in tiefste Schichten der menschlichen Existenz reichte, was mich im Innersten berührte. Auch abgründige Bereiche des Todes, der Sexualität und des Dämonischen wurden dabei gestreift. Ich erlebte Momente der Verzauberung, aber auch des Schreckens, und manche Objekte lösten Empfindungen aus, für die sich gar keine Worte fanden. Ich war hier mit Kulturen konfrontiert, die meinen europäischen Horizont weit überstiegen und mir zeigten, wie unterschiedlich man über Tiere und Pflanzen, Bäume und Flüsse, Gut und Böse sowie das Sterben denken konnte. Mir wurde klar, wie viele Formen der »Gottesverehrung« es gab und wie viele verschiedene Ansichten über Krankheit und Medizin. All das geschah aber nicht in abstrakten Begriffen wie nebenan an der Universität, sondern in großen Bildern, Symbolen und Metaphern, die niemals auf eine abschließende Bedeutung gebracht werden konnten. Lange existierten diese beiden Welten in mir wie unversöhnt nebeneinander her: der schillernde »Palast der Mythen« und die nüchternen Hallen der wissenschaftlichen Rationalität, bis ich eines Tages einen Buchtitel entdeckte, der wie ein Donnerschlag auf mich wirkte: »Das wilde Denken« (1968) des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss. Dieses Buch war nicht nur spannend zu lesen, weil es über die indigene Bevölkerung in Brasilien berichtete, sondern weil es deren »wildes Denken« leidenschaftlich gegenüber der westlichen Rationalität verteidigte. Lévi-Strauss war weit davon entfernt, die Mythenwelt indigener Völker als kindlich zurückgebliebene Stufe der menschlichen Evolution zu betrachten. Vielmehr betonte er, dass ihr magisch-bildhaftes Denken nur eine andere Form von Erkenntnis darstellte; keine bloße Vorform von Wissenschaft, sondern ein hochkomplexes Gedankensystem, mit dem diese Völker ihr Leben immer gut gemeistert hatten.1 Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1908–2009) Seitdem übt »Das wilde Denken« eine starke Anziehungskraft auf mich aus, und die folgenden Ausführungen sowie der parallel dazu entstandene Film versuchen, seine Tiefe in immer neuen Umkreisungen auszuloten. Für die Ethnologen ist Lévi-Strauss’ Haltung inzwischen selbstverständlich: Mythische Weltbilder vor allem von außereuropäischen Völkern werden nicht als rückständig oder defizitär angesehen, sondern als Systeme alternativer Lebensformen respektiert. Aber in unserem Alltag sieht es doch ganz anders aus: Begriffe wie »Mythos«, »übersinnlich«, »Geister«, »Magie« sind – vor allem in Deutschland – mit einer zwielichtigen Aura versehen und werden eigentlich nur in esoterischen Privatnischen geduldet. Die »Leitmedien« und die meisten Vertreter der Wissenschaft fassen sie, wenn überhaupt, nur mit spitzen Fingern an. In unserer Gesellschaft ist ein tiefes Misstrauen gegenüber dem »Übernatürlichen« und »Spirituellen« weit verbreitet, selbst in der sonst so offenen Kunst- und Kulturszene. Künstler wie Joseph Beuys2 oder Anselm Kiefer, die sich mit mythischen oder magischen Weltbildern auseinandergesetzt haben, wurden deshalb sehr skeptisch betrachtet – und wenn manchmal vom »Schamanen Beuys« die Rede ist, so schwingt auch immer ein negativer Unterton in Richtung »Scharlatan« mit. In unserem »aufgeklärten« Zeitalter gibt es keinen wirklichen Platz für Mythos und Magie. Und sicher spielen hierzulande auch die Erfahrungen mit der pseudoreligiösen Inszenierung des NS-Regimes eine Rolle, die dazu führten, dass solche wissenschaftlich nicht erfassbaren Bereiche als »irrational« aus dem Diskurs der Moderne verbannt wurden. Diese verkrampfte Haltung lockert sich immer dann ein wenig, wenn spirituelle Leitfiguren aus außereuropäischen Kulturen zu uns kommen. Der 14. Dalai Lama beispielsweise ist jederzeit hochwillkommen als geschätztes religiöses Oberhaupt Tibets und darf über alle Themen – auch über Karma und Wiedergeburt – reden, so viel er möchte. Würden sich aber etwa Anthroposophen, die Anhänger Rudolf Steiners, in die Debatte einmischen, blinkten gleich alle möglichen Alarmlampen auf und warnten vor »Okkultismus« und »voraufklärerischem« Denken. So ist hierzulande eine große, von der »offiziellen« Welt abgespaltene Esoterikszene entstanden, die sich des Internets und privat organisierter Kongresse bedient, um ihrem Interesse für das »Übersinnliche« nachzugehen. Dort können sich Neo-Schamanen, alternative Heiler, Neu-Heiden, »Hexen« und naturreligiöse...


Rüdiger Sünner, geb. 1953 in Köln, studierte Musik, Musikwissenschaften, Germanistik und Philosophie. 1985 promovierte er über die Kunstphilosophie von Theodor W. Adorno und Friedrich Nietzsche. Anschließend studierte er an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Seit 1991 lebt er als freier Autor, Filmemacher und Musiker in Berlin.

Seine vielfältigen Publikationen und Filme beschäftigen sich vor allem mit spirituellen Grenzgebieten, so etwa "Schwarze Sonne – Mythologische Hintergründe des Nationalsozialismus" (1996), "Das kreative Universum – Naturwissenschaft und Spiritualität im Dialog" (2010), "Nachtmeerfahrten – Eine Reise in die Psychologie C. G. Jungs" (2011), "Mystik und Widerstand – Zur Erinnerung an Dorothee Sölle" (2013), "Zeige deine Wunde – Kunst und Spiritualität bei Joseph Beuys" (2015), "Gottes zerstreute Funken – Jüdische Mystik bei Paul Celan" (2016) und "Engel über Europa – Rilke als Gottsucher" (2018).



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