Strugatzki Gesammelte Werke 3
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-04202-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fünf Romane in einem Band: Die Schnecke am Hang; Ein Teufel unter den Menschen; Aus dem Leben des Nikita Woronzow; Die zweite Invasion der Marsmenschen; Die Last des Bösen
E-Book, Deutsch, 896 Seiten
ISBN: 978-3-641-04202-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Arkadi und Boris Strugatzki gelten unumstritten als die besten Autoren der osteuropäischen Science Fiction. Ihr Werk wurde in zahllose Sprachen übersetzt und erschien in Millionenauflage. Der dritte Band der großen Strugatzki-Edition enthält die fünf Einzelromane 'Die Schnecke am Hang', 'Die zweite Invasion der Marsmenschen', 'Die Last des Bösen' sowie die unter dem Pseudonym S. Jaroslawzew erschienenen Romane Arkadi Strugatzkis 'Aus dem Leben des Nikita Woronzow' und 'Ein Teufel unter den Menschen'.
Arkadi (1925-1991) und Boris (1933-2012) Strugatzki zählen zu den bedeutendsten und erfolgreichsten russischen Autoren der Nachkriegszeit. Ihre Romane sind nicht nur faszinierende Parabeln über die Stellung des Menschen im Universum, sondern auch schonungslose Abrechnungen mit Ideologiegläubigkeit und Personenkult. Etliche ihrer Texte durften in der Sowjetunion nicht erscheinen. Inzwischen hat die Gesamtauflage ihrer Werke die fünfzig Millionen überschritten, sie wurden in über dreißig Sprachen übersetzt. Viele ihrer Romane wurden verfilmt - Andrei Tarkowskis Adaption von 'Picknick am Wegesrand' unter dem Titel 'Stalker' gehört zu den Klassikern der Filmkunst.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1
Pfeffer
Von so weit oben sah der Wald aus wie ein riesengroßer, mürber Schwamm oder wie gefleckter dicker Schaum. Der Wald hockte da wie ein Tier, das sich irgendwann einmal versteckt und auf die Lauer gelegt hatte, dann eingeschlafen war und im Schlaf von struppigem Moos überwuchert wurde. Er wirkte wie eine unförmige Maske, die ein Gesicht verdeckt, das bisher noch niemand gesehen hat.
Pfeffer streifte seine Sandalen ab, setzte sich hin und ließ die nackten Füße über dem Abgrund baumeln. Sofort, so schien es ihm, wurden seine Fußsohlen feucht – als hätte er sie in den warmen lila Nebel getaucht, der dicht unter dem Felsvorsprung hing. Er griff in seine Jacke, zog die kleinen Kieselsteine heraus, die er aufgelesen hatte, und legte sie fein säuberlich neben sich. Dann suchte er sich den kleinsten heraus und ließ ihn sacht nach unten fallen – hinein in das Lebendige, Schweigende, Gleichgültige und alles für immer Verschlingende … Der weiße Funke erlosch, und nichts geschah. Kein Zweig zitterte, und kein Auge öffnete sich, sei es auch nur einen Spaltbreit, um ihn anzublicken. Da warf Pfeffer das zweite Steinchen.
Wenn er alle anderthalb Minuten ein Steinchen warf, dachte er, und wenn es richtig war, was die einbeinige Köchin mit Spitznamen Casalunia erzählte, und auch Madame Bardot, die Leiterin der Gruppe »Hilfe für die Einheimischen«; wenn nicht stimmte, was Kraftfahrer Trumpf und der Unbekannte aus der Gruppe »Technische Erschließung« einander zuraunten; wenn die menschliche Eingebung etwas wert war und sich nur ein einziges Mal im Leben Erwartungen bestätigten, dann würde sich beim siebten Steinchen knackend das Gestrüpp hinter ihm öffnen. Und heraus, auf das zertrampelte, vom Morgentau silbrige Gras der Lichtung, träte der Direktor – mit nacktem, schweißglänzendem, behaartem Oberkörper. Er trüge eine graue Gabardinehose mit lila Seitenstreifen, würde kräftig und geräuschvoll einatmen und sich dann, ohne auf irgendetwas anderes zu achten – weder auf den Wald unter sich, noch auf den Himmel über sich –, vornüberbeugen und die breiten Handflächen ins Gras tauchen. Wenn er sich anschließend wieder aufrichtete, würde man den Windstoß spüren, den seine breiten Hände bei der Bewegung entfachten. Bei jedem Hinunterbeugen würde sich die dicke Speckfalte über den Hosenbund wälzen und mit Kohlendioxid und Nikotin angereicherte Luft unter Zischen und Gurgeln aus seinem aufgerissenen Mund entweichen. Wie ein U-Boot, das die Wassertanks durchbläst. Wie der Schwefelgeysir auf Paramuschir …
Und nun bog sich das Gestrüpp hinter ihm knackend auseinander … Pfeffer blickte sich vorsichtig um, sah anstelle des Direktors jedoch nur einen guten Bekannten: Claudius Octavian Heymbacken aus der Gruppe »Ausrottung«. Er kam langsam näher, blieb zwei Schritte hinter ihm stehen und musterte ihn mit seinen durchdringenden, dunklen Augen. Er wusste oder ahnte etwas, irgendetwas Wichtiges – das konnte Pfeffer in seinem langen, starren Gesicht lesen. Es war das versteinerte Gesicht eines Menschen, der eine ebenso sonderbare wie beunruhigende Nachricht zu überbringen hatte: Noch kannte niemand auf der Welt diese Nachricht, aber es war klar, dass sie alles verändern würde, alles bisher Gewesene von nun an bedeutungslos wäre und jeder bis an seine Grenzen gefordert sein würde …
»Wem gehören diese Schuhe?«, fragte Heymbacken und blickte sich um.
»Das sind keine Schuhe«, sagte Pfeffer. »Das sind Sandalen. «
»Ach so?« Heymbacken lachte kurz auf und zog einen großen Notizblock aus der Hosentasche. »Sandalen. Aha. Sehr-r gut. Und wem gehören diese Sandalen?«
Er näherte sich der Schlucht, blickte vorsichtig in die Tiefe hinab und tat sogleich einen Schritt zurück.
»Da sitzt ein Mensch am Abgrund«, sagte Heymbacken. »Neben ihm liegen Sandalen. Da stellt sich unweigerlich die Frage: Wessen Sandalen sind das, und wo ist ihr Besitzer?«
»Das sind meine Sandalen«, sagte Pfeffer.
»Ihre?« Heymbacken warf einen zweifelnden Blick auf seinen Notizblock. »Sie sitzen barfuß hier? Warum?« Er steckte den großen Notizblock schwungvoll zurück in die Tasche und zog nun einen kleinen heraus.
»Weil es nicht anders geht«, erklärte Pfeffer. »Gestern ist mir der rechte Schuh hinuntergefallen, und da habe ich beschlossen, in Zukunft nur noch barfuß hier zu sitzen.« Er beugte sich vor und blickte zwischen seinen Knien hindurch hinab. »Dort liegt er. Ich werde ihn jetzt mit einem Steinchen …«
»Moment!« Geschickt griff Heymbacken nach Pfeffers vorschnellender Hand und nahm ihm das Steinchen weg.
»Tatsächlich, ein gewöhnlicher Stein«, sagte er. »Aber das ändert vorläufig nichts … Pfeffer, ich verstehe nicht, warum Sie mich belügen. Der Schuh ist doch von hier aus unmöglich zu sehen, selbst wenn er wirklich da unten liegen sollte. Ob er sich aber dort befindet oder nicht, ist eine andere Frage; wir werden uns später damit beschäftigen. Da Sie den Schuh von hier aus aber nicht sehen, können Sie auch nicht davon ausgehen, ihn mit einem Stein zu treffen – nicht einmal dann, wenn Sie über die entsprechende Zielsicherheit verfügten und sich nur darauf, ich meine auf das Treffen, konzentrierten … Aber wir werden das sofort klären.«
Er steckte den kleinen Notizblock in die Brusttasche und holte den großen wieder hervor. Dann zog er seine Hose ein Stück weit nach oben und ging in die Hocke.
»Aha, Sie waren gestern also auch hier?«, fragte er. »Weshalb? Warum sind Sie schon zum zweiten Mal hier an der Schlucht, während die anderen Mitarbeiter der ›Verwaltung‹, ganz zu schweigen von den nicht angestellten Fachleuten, höchstens dann hierherkommen, wenn sie ihre Notdurft verrichten müssen?«
Pfeffer erschrak. Dann aber dachte er: Das ist nur die Dummheit. Nein, nein, es ist keine Provokation, es geschieht nicht aus Bosheit. Man darf das nicht ernst nehmen. Das ist einzig und allein die Dummheit. Und der Dummheit darf man keine Bedeutung beimessen, niemand tut das. Die Dummheit findet immer etwas, worauf sie ihr Geschäft verrichten kann, und achtet für gewöhnlich nicht einmal darauf. Die Dummheit hat noch nie auf die Dummheit geachtet …
»Ihnen gefällt es wohl, hier zu sitzen«, biederte sich Heymbacken an. »Sie lieben wahrscheinlich den Wald. Lieben Sie ihn? Antworten Sie!«
»Und Sie?«, fragte Pfeffer.
»Vergessen Sie sich nicht«, antwortete Heymbacken beleidigt und schlug den Notizblock auf. »Sie wissen sehr gut, wo ich arbeite: Ich gehöre der ›Gruppe für Ausrottung‹ an. Und deshalb ist Ihre Frage, das heißt Ihre Gegenfrage, ohne Sinn und Bedeutung. Sie wissen, dass mein Verhältnis zum Wald durch meine dienstlichen Pflichten bestimmt wird. Wie es sich aber mit Ihrer Beziehung zum Wald verhält, weiß ich nicht. Und das ist nicht gut, Pfeffer. Denken Sie unbedingt darüber nach; das rate ich Ihnen. Es liegt in Ihrem Interesse, nicht in meinem. Wie kann man nur so eigensinnig sein? Sitzt barfuß über der Schlucht, wirft mit Steinchen … Wozu das alles, fragt man sich. An Ihrer Stelle würde ich jetzt alles erzählen und Klarheit in die Sache bringen. Es könnte doch sein, dass mildernde Umstände vorliegen und Sie letztlich nichts zu befürchten haben? Na, Pfeffer? Sie sind doch ein erwachsener Mann und sollten wissen, dass Zweideutigkeit nicht hinnehmbar ist.« Er klappte den Notizblock zu und dachte nach. »Der Stein hier zum Beispiel. Solange er still daliegt, ist er in seinem natürlichen Zustand und erweckt keinen Zweifel. Aber dann wird er von einer Hand ergriffen und irgendwohin geworfen. Merken Sie den Unterschied?«
»Nein«, sagte Pfeffer. »Das heißt: natürlich, ja.«
»Sehen Sie … Mit einem Mal ist die Natürlichkeit dahin, und sie kehrt nicht wieder zurück. Wessen Hand? – fragen wir. Wohin wirft die Hand? Wem wirft sie den Stein zu? Oder: Auf wen? Wozu? … Ebenso stellt sich die Frage: Wie können Sie am Rand dieses Abgrunds sitzen? Können Sie es von Natur aus, oder haben Sie sich das antrainiert? Ich zum Beispiel könnte es nicht. Und mir wird angst und bange, wenn ich nur darüber nachdenke, zu welchem Zweck ich es mir antrainieren könnte … Mir wird schwindlig. Und das ist ganz natürlich. Der Mensch hat am Rand einer Schlucht nichts zu suchen. Besonders dann nicht, wenn er keinen Passierschein für den Wald hat. Zeigen Sie mir doch bitte Ihren Passierschein, Pfeffer.«
»Ich habe keinen.«
»Soso. Sie haben keinen. Und warum nicht?«
»Das weiß ich nicht … Man gibt mir keinen.«
»Richtig, man gibt Ihnen keinen. Das ist bekannt. Aber warum gibt man Ihnen keinen? Mir hat man einen gegeben, vielen anderen ebenfalls, aber Ihnen, warum auch immer, gibt man keinen.«
Pfeffer schielte vorsichtig zu ihm hinüber. Heymbackens lange dünne Nase zuckte, und seine Augen blinzelten ununterbrochen.
»Wahrscheinlich deswegen, weil mir keiner zusteht«, gab Pfeffer zurück. »Wahrscheinlich deshalb.«
»Pfeffer, ich bin nicht der Einzige, der sich für Sie interessiert«, fuhr Heymbacken in vertraulichem Ton fort. »Wenn nur ich es wäre … Es gibt aber noch viel wichtigere Leute, die sich für Sie interessieren. Hören Sie, Pfeffer, vielleicht setzen Sie sich etwas von der Schlucht weg, damit wir uns besser unterhalten können? Mir wird ganz schwindlig, wenn ich Sie anschaue.«
Pfeffer stand auf. »Das liegt daran, dass Sie nervös sind«, sagte er. »Aber lassen wir das. Es ist Zeit, in die Kantine zu gehen, sonst kommen wir noch zu spät.«
Heymbacken sah auf die Uhr. »Ja, es ist wirklich Zeit«, sagte er. »Ich habe mich ein wenig ablenken lassen. Weil Sie, Pfeffer, mich ständig … Ach, ich weiß gar nicht, wie ich sagen...