E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Strubel Vom Dorf
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-490150-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Abenteuergeschichten zum Fest
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-10-490150-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Antje Rávik Strubel ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie lehrte am Deutschen Literaturinsitut und an der Washington University in St. Louis und ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u.a. die Romane »Unter Schnee« (2001), »Tupolew 134« (2004) und »Kältere Schichten der Luft« (2007), für den sie mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet wurde. 2021 erhielt sie den Deutschen Buchpreis für ihren Roman »Blaue Frau«. Im März 2025 erschien ihr jüngster Roman »Der Einfluss der Fasane«. Außerdem veröffentlichte sie Essays und Reiseerzählungen über Schweden und Brandenburg. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u. a. Joan Didion, Monika Fagerholm, Lucia Berlin und Virginia Woolf. Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de )
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Probeflug
Ich saß am nächtlichen Schreibtisch, beneidete die Bibel um ihre Anschaulichkeit, sehnte mich nach der Zeit, als ein auswendig gelernter Eichendorff zu Weihnachten noch genügte, und pulte Kerzenwachs vom Vorweihnachtskranz.
Als ich genug abgepult hatte und draußen gerade die Sterne vom Morgen überblendet wurden, rief ich meine Freundin an. Sie wohnt auf dem Dorf. Seit sie da draußen wohnt, hat sie oft schräge Einfälle, und ich dachte, sie könnte mir bei meiner neuen Aufgabe behilflich sein.
Sie war gerade aus einem Albtraum erwacht. Sie erzählte wirr von einem Lexikon des Lebens und daß dort Dinge zu finden seien, von denen man noch nicht einmal gewußt habe, daß man sie suche. Ein riesiges, zwölfhundertbändiges Werk. Ich verstand sie nicht, und wir legten enttäuscht wieder auf. Aber nach einer Weile kam mir der Gedanke, mal im Brockhaus nachzuschlagen.
Da mir bisher nichts eingefallen war, konnte ich genausogut das erste Stichwort, das ich fand, zum Aufhänger meiner Geschichte machen, zum Sujet. Mein Bruder hatte gesagt, Nachschlagewerke wären erlaubt, Nachschlagewerke wären sogar nützlich, schließlich sollte das Ganze glaubhafter als in der Christenlehre sein. Vielleicht stieß ich auf ein originelles Wort, dessen rätselhafter Klang entfernt an Weihnachten erinnerte.
Ich fand »Gen«.
Ich stand da mit dem Brockhaus im Arm, es war der vierte Dezember, und hatte »Gen« zum Sujet meiner ersten Auftragsarbeit gemacht. So ist das mit Traditionen in Eigenverantwortung.
Mit »Gen« ging gar nichts.
Mit »Gen« konnte ich bestenfalls eine Gans manipulieren. Ich konnte sie übergewichtig machen, so daß es Probleme beim Braten gab. Oder die Gänse waren deformiert, was einen gesamtdeutschen Bratenausfall und einen Absturz von Gansaktien verursachte, oder meine zukünftige Hauptfigur engagierte sich bei den Grünen und aß nichts außer rohen Äpfeln aus dem Ural. Aber das war höchstens was für die taz. Ich war frustriert und ging joggen.
Am Abend kam meine Freundin vom Dorf vorbei. Sie hätte in der Stadt ein paar Dinge zu erledigen, sagte sie, klopfte ihre Schuhe ab und setzte Glühwein auf. Ich erzählte ihr von meinen Schwierigkeiten mit genmanipulierten Gänsebraten. Sie starrte mich eine Weile an, schüttelte verzweifelt ihr Haupt und verschwand. Eine dreiviertel Stunde später war sie zurück, einen Umweltbeutel schwenkend, in dem sich ein Karton mit braunen, stiernackigen Flaschen befand. Lebertran, dachte ich. Sie sagte, ich solle mich erstmal beruhigen. Dann falle mir schon etwas ein. Wenn ich alle sechs Stunden zwei Eßlöffel dieses Lebertrans einnähme, der offenbar ein hoch dosiertes Beruhigungsmittel war, werde mir das auch gelingen. Ich gehorchte, fiel in Tiefschlaf und träumte von Gänseäpfeln, Äpfeln, die man mit Gänsen geklont hatte.
Morgens hatte ich Rückenschmerzen. Es kam mir vor, als würden Züge meine Wirbelsäule hinauffahren, eiserne Gestelle in Hochgeschwindigkeit. Später rief mein Bruder an. Er wollte wissen, wie weit ich gekommen war. Das war eine seiner Bedingungen: Er verlangte regelmäßig einen Zwischenbericht.
Denn angenommen, es ginge schief, hatte er gesagt, wie stünde er dann vor unseren Eltern da. Wie sähe er aus, falls ich versagte. Er hatte viel riskiert. Zuerst hatte er jahrelang daran gearbeitet, daß kein verkleideter Arbeitskollege unseres Vaters mehr für uns den Weihnachtsmann mimte (, hatte er mir vorgeworfen. – . – .) Dann hatte er lebende Weihnachtsbäume statt der gefällten eingeführt, die nach dem Fest in die getaute Frühlingserde umgetopft werden mußten, weshalb aus dem Garten meiner Eltern mittlerweile eine Schonung geworden war. Jetzt hatte er wegen der geplanten Lesung den Menüplan um eine Stunde verschieben müssen, und das hatte angesichts des ohnehin späten Essens am Heiligabend zu einer hitzigen Debatte geführt.
Ich sagte ihm am Telefon, ich hätte den ganzen Tag in der Bibliothek verbracht und Geo-Hefte durchgesehen. Es gab Schafe, die aussahen wie Ziegen, aber selbst, wenn man das Schaf als weihnachtliches Accessoire akzeptierte, zerstörte der Ziegenkopf am Gansleib die Stimmung. »Aber keine Sorge«, sagte ich, »ich nehme gerade ein Mittel, das mich beruhigt, und der Rest wird sich finden.«
Er war enttäuscht, was man hörte.
Abends wurden die Rückenschmerzen so stark, daß ich auf dem Bauch schlafen mußte. Ich schluckte meine zwei Eßlöffel Beruhigungslebertran, nahm Ibuprofen und wachte mitten in der Nacht von Bewegungen im oberen Halswirbelbereich auf. Es fühlte sich an, als wären jetzt Schwellenläufer auf den Schienen unterwegs, die jeden einzelnen Wirbel noch einmal fest anzogen.
Ich versuchte, mich von hinten im Spiegel zu sehen. Wenn ich mich gerade so weit herumgedreht hatte, daß die schmerzende Stelle jeden Moment ins Blickfeld rücken mußte, gab es einen Knacks im Hals, eine Sperre, an der ich nicht vorbeikam. Ich zog eine weite Bluse an.
Ich fing an, überhaupt nur noch Weites zu tragen; riesige Tücher, ausgeleierte Pullover. Die Bewegungen im Halswirbelbereich wurden heftiger.
Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Sobald ich am Schreibtisch saß, fing es an, zu drücken und zu stechen. Wenn ich tastend die schmerzende Stelle erreichte, fühlte ich eine Beule, eine Schwellung, einen drahtigen Auswuchs.
Mein Bruder rief noch einmal an. Ich rieb meinen Rücken an jeder Kante, während ich mit ihm sprach, an jedem Türvorsprung, ich schubberte mich in Küche und Bad, an Fensterknäufen und Schrankecken. Mein kleiner Bruder schien noch kleiner geworden zu sein, er flüsterte am Telefon. Er sagte, er verlasse sich auf mich. Er wisse nicht, womit die Lücke im Weihnachtsprogramm sonst zu stopfen sei und vor allem, wie er die dadurch entstehende Unregelmäßigkeit unseren Eltern gegenüber vertreten solle. Selbst dem Auflegen hörte man seine Verzweiflung an.
Während die Zeit sinnlos verging, dachte ich an meine Freundin vom Dorf.
Sie kam nicht ursprünglich vom Dorf. Sie wechselte nur ständig ihren Wohnsitz. Sie zog so häufig um, daß ich nicht jedes einzelne Mal mitbekam. Im Moment wohnte sie weit draußen, nachdem sie zuvor ein Vierteljahr in Hellersdorf gelebt hatte und davor in Teltow und vor Teltow in Charlottenburg, und vielleicht veranstaltete sie dieses ganze Hin und Her nur, damit sie den Eindruck haben konnte, immer rechtzeitig gegangen zu sein.
Rechtzeitig zu gehen war ihr wichtig. Rechtzeitig zu gehen bedeutete, mit der Zeit zu gehen, eine Zeit, in der alle kurz angebunden, knapp aufgelegt, flüchtig bekannt waren. Sie wußte, daß das Neue, solange es eine Herausforderung war, bewies, daß man existierte; der Mechanismus lief, die Muskeln spielten. Aber statt sich da der Menschen zu bedienen, wechselte sie lieber ihren Wohnsitz. Wobei sie in der Nähe ihrer Freunde blieb.
Ich konnte mich nicht erinnern, wie oder wann wir uns kennengelernt hatten. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, sie jemals nicht zur Freundin gehabt zu haben. Was auch daran lag, daß ich sie mir so immer gewünscht hatte.
Es gab ein Foto von mir als Achtjähriger. Das Mädchen im weißen knielangen, irgendwie topfartigen Kleid starrt mit aufgerissenen Augen unter ihrem ausgefransten Kurzhaarschnitt gebannt ins Leere. Dort mußte ich sie zum ersten Mal gesehen haben. In einem grauen verwischten Nichts. Wie die Leere auf einem schon leicht gewellten Schwarzweißfoto eben aussah.
Das war kurz nach einem Streit mit meiner damaligen Banknachbarin in der dritten Klasse gewesen. Bisher hatten wir zusammengehalten und waren gemeinsam jeden Tag durch die Plattenbausiedlung und das Wäldchen nach Hause gelaufen, sie wohnte drei Blöcke weiter. Aber an diesem Tag stellte sie mir grundlos erst ein Bein, und als ich mich wieder aufgerappelt hatte, fing sie an, sich über meinen grünen Schulranzen lustig zu machen, der für Krippenkinder sei mit diesen Blümchen am Deckel. Und als ich wütend wurde und die Wut mir in Tränen übers Gesicht lief, weil der Ranzen ein Geschenk meiner Lieblingstante war, sagte sie,
Das Foto von mir mit acht klebte in einem silbergrauen Album, dessen Einband gepolstert war. Ich sah mich an. Das topfartige Kleid. Der Kurzhaarschnitt. Das Staunen im Blick und die Leere vor Augen.
Damals, dachte ich, waren mir noch keine Züge durch den Nacken gefahren.
Als mein Tagespensum bei drei Lebertranflaschen und sieben Ibuprofen angelangt war, rief ich verzweifelt meine Freundin an. Aber statt sich für meine Schmerzen zu interessieren, fragte sie erbost: »Na haste denn noch nüscht mit deine Jene jemacht?«
»Nee«, sagte ich und brach in Schluchzen aus, so laut, daß ihr Angebot, sofort vorbeizukommen, darin unterging. Wenig später war sie da.
»Menschenskind!« rief sie und fummelte aufgeregt mit einem Taschentuch in meinem Gesicht herum. »Imma mit da Ruhe, du ruinierst dir noch die janze Visage!«
»Für mich ist das gelaufen, aber echt«, sagte ich, »so eine schwachsinnige Idee, und wieso muß überhaupt die Geschichtentante sein, wieso können die sich nicht selber was ausdenken, und außerdem tut mein Rücken weh. Als hätte ich mich verbrannt.«
»Komm ma, Kleene«, sagte meine Freundin vom Dorf, legte mir meinen Mantel um und zog mich hinaus auf die Straße. »Dit iss so bei Weihnachten. Da kricht ma schon ma dit Ziehen im Rücken von dit janze Rummjerenne. Deswejen mußte doch nich gleich flennen, da mußte nur ma n bißcken abspannen. Uff andre Jedanken kommen.«
»Ja«, schluchzte ich, die Nase im Taschentuch. Es war hundekalt...