Strubel | Sturz der Tage in die Nacht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

Strubel Sturz der Tage in die Nacht

Roman
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-10-401600-9
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

ISBN: 978-3-10-401600-9
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Antje Rávik Strubel erzählt von einer ungewöhnlichen und unabwendbaren Liebe und von den langen Schatten eines untergegangen politischen Systems. Eine Insel in der Ostsee. Der junge Erik verliebt sich in die scheinbar unergründliche Vogelforscherin Inez. Aber die beiden werden beobachtet. Ohne es zu ahnen, sind sie längst in eine politische Intrige verstrickt. Die geschützte Insel wird zum schutzlosen Ort. Ein Roman, der von einer großen Liebe erzählt, von den Erinnerungen, Legenden und Lügen unserer Gegenwart, aber auch vom Glück, das im Vergänglichen liegt.

 Antje Rávik Strubel ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie lehrte am Deutschen Literaturinsitut und an der Washington University in St. Louis und ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u.a. die Romane »Unter Schnee« (2001), »Tupolew 134« (2004) und »Kältere Schichten der Luft« (2007), für den sie mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet wurde. 2021 erhielt sie den Deutschen Buchpreis für ihren Roman »Blaue Frau«. Im März 2025 erschien ihr jüngster Roman »Der Einfluss der Fasane«. Außerdem veröffentlichte sie Essays und Reiseerzählungen über Schweden und Brandenburg. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u. a. Joan Didion, Monika Fagerholm, Lucia Berlin und Virginia Woolf. Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de )
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PLINTHOSELLA SQUAMOSA


INEZ RAUTER


lag ganz ruhig. Sie hörte den Jungen auf den Steinen vor der Hütte und lag da, ohne zu atmen, obwohl ihr Atmen von draußen nicht zu hören sein konnte. Sie hatte sich bis zum Hals zugedeckt. Hitze trieb durch ihren Körper. Sie bekam nie Fieber. Sie bekam auch keine Kopfschmerzen, aber an diesem Morgen hatte sie Fieber und Kopfschmerzen und hasste die Sonne, die durch das Fenster fiel und den Schatten des Ginsters auf die weißverputzte Wand warf. Sie hasste das grelle Licht und das zitternde, schwarze Bild gegenüber, das zu einer dürren, knochigen Hand mit riesigen Fingern wurde, Tentakeln, die nach ihr griffen, durch die Haut drangen, sich in die Venen hineinschoben und Hitzeschübe verursachten.

Inez versuchte, nüchtern zu bleiben. Das schwarze Bild war nur der Schatten des Ginsters, die Hitze kam von erhöhter Temperatur. Sie musste sich erkältet haben. Sie ärgerte sich, dass Kopfschmerztabletten nicht zu ihrer Erste-Hilfe-Ausrüstung gehörten. Alles, was sie in ihrem Badeschrank finden konnte, waren Mittel zur Wundversorgung und Kräutertropfen, die ihr der Kapitän wegen einer Magenverstimmung vor längerer Zeit besorgt hatte.

Sie versuchte zu schlafen. Aber sie hatte die ganze letzte Nacht schwer und erschöpft geschlafen, und es war nur das Fieber, das ihr den Eindruck von Müdigkeit gab, darunter war sie hellwach. Sie hörte den Jungen an der Tür und wie er versuchte, zum Schlafzimmerfenster durchzudringen, sie hörte das Poltern der lockeren Steine, sein Fluchen, als er abrutschte, sie hörte das Brechen von Zweigen, sie sah, wie der Schatten des Ginsters wackelte.

Inez drehte sich vom Fenster weg und schloss die Augen. Sie wollte den Jungen nicht sehen.

Gestern hatte sie die Tordalke begraben.

Sie war bei einem Spaziergang am Strand auf den Vogel gestoßen. In der Ferne hatte sie ein schwarzes Bündel liegen gesehen und war in der Annahme, dass es sich um einen Müllsack handeln müsse, verärgert darauf zugegangen. Jemand musste den Müllsack halbvoll ins Gebüsch am Ufer geschleudert haben, wo er von den Wellen aufgegriffen, weggetragen und an einer anderen Stelle wieder angespült worden war. Erst im Näherkommen hatte sich der Umriss eines Vogelkörpers abgezeichnet. Das Gefieder war schlammbesudelt, ein Flügel war hochgerissen, der Hals wie umgeknickt gewesen.

Abrupt war sie stehen geblieben. Sie hatte für einen Moment noch das Gefühl haben wollen, sich zu täuschen. Sie hatte für einen Moment noch glauben wollen, es könnte irgendein Vogel sein. Es wäre nicht Friederike. Sie hatte glauben wollen, Friederike flöge in diesem Moment über sie hinweg in den Süden.

Der Himmel war leer geblieben.

Inez hatte sich in den Sand gekniet. Sie hatte die Handschuhe vom Gürtel losgemacht und sie angezogen. Vorsichtig hatte sie den hochgerissenen Flügel an den Körper zurück gelegt. Sie hatte ihre Hände zu einer Mulde geformt und sie unter den Körper im Sand geschoben. Als sie die Alke aufgehoben hatte, war ihr der Kopf weggerutscht und schlaff zwischen die Unterarme gefallen. Sie hatte aufgeschrien.

Später hatte sie mit dem Feldspaten ein Loch unter einem Wacholder ausgehoben. Sie hatte die Alke hineingelegt und den aufgeschnittenen Leib mit Wacholderzweigen bedeckt. Beim Sezieren hatte sie Tollkirschen gefunden. Es hatte nichts genützt. Man hatte ihr die Alke genommen, und die Ursache zu kennen konnte sie nicht wieder lebendig machen. Inez hatte die Stelle mit Erde zugeschaufelt. Es gab andere Vögel. Es gab tausende Vögel in der Kolonie. Es gab hunderte solcher Kolonien. Und eines Tages würde sie vielleicht sogar wieder einen darunter finden, zu dem sie morgens hinausgehen und der sie erkennen würde. Und dann würde sie auch den wieder verlieren.

Nachts bekam sie Fieber. Sie wusste nicht mehr, ob sie wach war oder schlief. Sie sah den aufgeschnittenen Vogelbauch vor sich, dann erschien Feldberg riesenhaft am Rand des Plateaus. Erik saß neben ihr und erzählte einen Witz, Feldbergs Schatten fiel auf ihre Bluse. Der Schatten wuchs, während Feldberg näher kam. Sie hatte für diesen Abend eine besonders schöne Bluse ausgesucht, sie hatte das für den Jungen getan. Sie trug eine weiße Bluse aus glänzender Rohseide, weil sie mehrmals beobachtet hatte, wie Erik den Stoff einer Jacke oder eines Hemdes befühlte, und sie ihm zeigen wollte, dass sie das bemerkt hatte. Es war ihre Art, ein Geständnis zu machen.

Feldberg hatte seinen Hut abgesetzt und hielt ihn ihr wie eine Schüssel hin, und als sie nicht zufasste, drehte er die Schüssel um, und die Alke stürzte ihr tot vor die Füße. Inez schreckte hoch.

Sie versuchte aufzustehen, um sich ein Glas Wasser zu holen, aber die Fieberbilder überfluteten sie. Feldberg drückte sie zurück auf die Sonnenliege und flüsterte:

Er sah sie so bedeutungsschwer an, dass seine Augen sich aus dem Kopf herausschraubten und wie eigenständig auf sie zu schwebten, und als sie versuchte, diesen Augen auszuweichen, und sich wegduckte, überlegte sie verzweifelt, was Feldberg damit meinte.

Es konnte ihm nicht darum gehen, sie an ihre Eltern zu erinnern. Er wollte sie nicht an ihr altes Zimmer erinnern oder an den Schulweg, den sie täglich mit ihrem Rad gefahren war, vorbei an der Kinderkombination, der Sporthalle, dem Schotterplatz, auf dem nachmittags gebolzt wurde, vorbei an dem hohlen, vom Blitz gespaltenen Baum, der im Winter von Dohlen bevölkert war. Er wollte sie nicht an das Wohnheim erinnern, in dem sie zwei Jahre verbracht hatte. Oder jedenfalls nicht nur.

Inez versuchte sich zu konzentrieren, aber die Bilder trugen sie weg. Sie sah auf einmal das Wohnheim in Einzelheiten vor sich, sie sah die gefliesten, schmutzigen Gemeinschaftsduschräume, die Flure im Neonlicht, sie sah die wackligen Möbel mit aufgeklebtem Holzfurnier, das abblätterte oder abgepult worden war von all den Mädchen, die vor ihr dort eingezogen und wieder ausgezogen waren, die ihre Kluft in dieselben Schränke gehängt hatten wie sie, ihre Dederonstrümpfe, ihre Manchesterhosen, die glänzenden Nylonanoraks, die Parkas und Römerlatschen, mit den Bildern kamen auch Worte, altes, vergessenes Vokabular, das das Fieber aufspürte; die Klammeraffen und Filzstifte, die in der Assiette gebackenen Kuchen, die Pfeffis, die sie gelutscht, die Plempe, die sie getrunken, die Lippenpomade und die Frommse, die sie unter der Matratze versteckt hatten, die blau-weißen Essengeldturnschuhe, der Muckefuck, die Nickis, die Klettis, die Abende, an denen sie mit den anderen gemacht, die Morgen, an denen sie hatte, ohne für einen Moment zu vergessen, dass sie nicht in einem Lehrlingswohnheim, sondern an einer Erweiterten Oberschule mit Abitur hätte sein sollen. Die Bilder waren so eindringlich, dass sogar der Geruch wieder auftauchte, der in der Kleidung und den Möbeln gehangen hatte, der süßlich schleimige Geruch nach Roggen, Gerste und Zuckerrüben, die sie in achtstündigen Schichten zu Mehl, Grieß oder Kleie zerkleinert hatten.

Nichts davon konnte Feldberg gemeint haben.

Inez lag fiebernd im Bett und versuchte, die gedankliche Konstruktion dieses Mannes zu ergründen, der es schon immer verstanden hatte, die Menschen zu verunsichern, der die Menschen aber nicht verstand. Er schien darauf anzuspielen, dass sich mit dem Alter von sechzehn Jahren ein bestimmtes Gefühl verband. So wie es ein Gefühl dafür gab, zum ersten Mal das Meer zu sehen oder zum ersten Mal zu küssen, schien Feldberg sagen zu wollen, dass der Zeitabschnitt von sechzehn Jahren in ihr ein ganz besonderes Gefühl wecken sollte.

Aber sie konnte die Person, die sie mit sechzehn gewesen war, und die, die sie heute war, nicht in Einklang bringen. Und nur dann, dachte sie, nur, wenn sie zu dieser Person überhaupt einen Kontakt hätte herstellen können, hätte ihr Interesse an dem Jungen mit seinem Alter zu tun haben können, vorausgesetzt, dass die Rückkehr in eine frühere Version der eigenen Persönlichkeit so etwas wie nach Hause kommen war, und Erik ihr diese Rückkehr ermöglichte.

Feldberg hatte sie vorgetäuscht, dass sie ihn nicht kannte, und Feldberg hatte gesagt: »Beweise mir das mal. Beweise mir, dass ich dich nicht kenne.«

Feldberg hatte ihre Schritte nach rechts und nach links, mit denen sie ihm ausweichen wollte, gespiegelt, und dann hatte Inez sich von seinem Griff befreit und war zum Hafen gelaufen, um zusammen mit dem Kapitän die neue Kette an ihrem Minitraktor aufzuziehen.

Inez wusste, dass Rainer Feldberg sich Menschen merkte, die ihn abblitzen ließen. Nicht, weil er sich gekränkt fühlte und auf Genugtuung sann. Vorfälle, bei denen er nicht weiterkam, bei denen er abgewiesen wurde, nahm er längst nicht mehr persönlich. Er hatte gelernt, sie als etwas zu betrachten, das in seinem Beruf regelmäßig anfiel; Objekte, an denen zielgerichtet zu arbeiten war. Sie sich zu merken war ein bloßer Reflex. Er hatte auch gelernt, die Art, in der Menschen ihn abwiesen, in verschiedene Kategorien einzuteilen. Da waren die sturen Neinsager, die Wackelkandidaten und die Schüchternen, die...


Strubel, Antje Rávik
Antje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane 'Unter Schnee' (2001), 'Fremd Gehen. Ein Nachtstück' (2002), 'Tupolew 134' (2004) sowie den Episodenroman 'In den Wäldern des menschlichen Herzens' (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman 'Kältere Schichten der Luft' (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau-Literatur-Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman 'Sturz der Tage in die Nacht' (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Antje Rávik Strubel wurde mit einem Stipendium in die Villa Aurora in Los Angeles eingeladen sowie als Writer in residence 2012 an das Helsinki Collegium for Advanced Studies. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman 'Blaue Frau' wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Lena Andersson, Lucia Berlin und Virginia Woolf.  Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de)

Antje Rávik StrubelAntje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane 'Unter Schnee' (2001), 'Fremd Gehen. Ein Nachtstück' (2002), 'Tupolew 134' (2004) sowie den Episodenroman 'In den Wäldern des menschlichen Herzens' (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman 'Kältere Schichten der Luft' (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau-Literatur-Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman 'Sturz der Tage in die Nacht' (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Antje Rávik Strubel wurde mit einem Stipendium in die Villa Aurora in Los Angeles eingeladen sowie als Writer in residence 2012 an das Helsinki Collegium for Advanced Studies. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman 'Blaue Frau' wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Lena Andersson, Lucia Berlin und Virginia Woolf.  Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de)



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