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E-Book

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Strout Bleib bei mir

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-13977-3
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-641-13977-3
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In einer Kleinstadt im einsamen Norden der USA hat Pastor Tyler Caskey nach dem tragischen Tod seiner Frau das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er hadert nicht nur mit sich und der Welt, sondern zweifelt auch an Gott und seinem Glauben. Und in der Gemeinde, in der er bis dahin geliebt und geachtet war, fragen sich immer mehr Leute, ob Tyler sich nicht zu sehr gehenlässt in seinem Schmerz ... Mit unnachahmlicher Leichtigkeit und großer Menschenkenntnis zeichnet Elizabeth Strout das Porträt einer ganz gewöhnlichen Kleinstadt. Und sie schreibt von Menschen wie du und ich, von ihren Stärken und Schwächen, von ihrer Warmherzigkeit und Freundlichkeit, aber auch von ihrem Misstrauen und ihrer Engstirnigkeit.

In West Annett, einer Kleinstadt in Maine, stürzt der Pastor Tyler Caskey in eine tiefe Lebenskrise: Vor kurzem ist seine Frau Lauren nach einer schweren Krankheit gestorben, und Kummer und Verzweiflung drohen ihn zu überwältigen. Seine fünfjährige Tochter Katherine hat seither kein Wort gesprochen und fällt stattdessen durch agressives Verhalten im Kindergarten auf. Seine zweite Tochter, die kleine Jeannie, lebt in einem anderen Ort bei Tylers dominanter Mutter.

Während Tyler unter großen Mühen versucht, seinen Glauben an Gott und seine Berufung wiederzufinden, erblühen in der kleinen Gemeinde Klatsch und Tratsch. Wo jeder jeden kennt, steht auch jeder unter Beobachtung, vor allem ein verwitweter, noch junger Pastor, der einst mit seinen Predigten und seiner ruhigen, bescheidenen Art die ganze Gemeinde begeistert hat. Plötzlich mehren sich die misstrauischen, argwöhnischen Stimmen, immer mehr Leute finden, dass Tyler sich in seinem Schmerz zu sehr gehenlässt, und bezweifeln allmählich seine Eignung als Seelsorger und Vater ...

Elizabeth Strout wurde 1956 in Portland, Maine, geboren und wuchs in Kleinstädten in Maine und New Hampshire auf. Nach dem Jurastudium begann sie zu schreiben. Ihre Romane sind Bestseller; für 'Mit Blick aufs Meer' erhielt sie 2009 den Pulitzerpreis, 'Die Unvollkommenheit der Liebe' wurde 2016 für den Man Booker Prize nominiert, und für 'Alles ist möglich' wurde sie 2018 mit dem Story Prize ausgezeichnet. 'Die langen Abende' war New-York-Times-Bestseller, SPIEGEL-Bestseller und kam auf die SWR-Bestenliste. 2022 wurde sie mit dem Siegfried Lenz Preis ausgezeichnet. Elizabeth Strout lebt in Maine und in New York City.

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Zwei

Mary Ingersoll hatte eigens das rote Wollkleid gewählt, weil es ihre Figur hervorhob, deshalb ärgerte es sie, als sie am Abend vor dem Gespräch feststellte, dass ihr Mann trotz aller Ermahnungen wieder einmal ein Tempo in seiner Hemdtasche vergessen hatte, so dass nun die schmierigen kleinen Zellstoffzwirbel nicht nur überall in der Waschmaschine steckten, sondern auch ihr rotes Kleid davon übersät war. In der Vergangenheit hatte Mary Tyler Caskey eigentlich recht attraktiv gefunden, und obwohl sie allen erzählte, wie sehr ihr vor dem Gespräch mit ihm graute, hatte sie sich in Wahrheit darauf gefreut und vor dem Spiegel Gesichtsausdrücke geprobt, gütige, kompetente, geduldige. Sie hatte extra die Kette mit dem kleinen Silberkreuz umgelegt, damit er sehen konnte, dass sie religiös war; sie hatte sogar erwogen, sich dafür zu entschuldigen, dass sie nicht öfter zur Kirche kam. »Ich bin einfach so erledigt von meiner Woche«, würde sie sagen, und er würde sagen, das verstehe er gut – Fälle wie seine kleine Tochter bedeuteten schließlich harte Arbeit.

Und dann diese Enttäuschung! Der Pastor, so kam es ihr vor, nahm sie irgendwie gar nicht wahr. Die halbe Zeit schien er überhaupt nicht zuzuhören. Er war müde – das sah sie an seinen Augen –, aber seine plötzliche Kälte gegen Ende verletzte sie. Sie lief weinend zum Schulleiter, Mr. Waterbury. »Ich habe ihm keinerlei Grund gegeben«, erklärte sie ihm, während er lauschte, die dunklen Brauen zusammengeschoben.

»Nein, sicher nicht«, stimmte er zu.

Am Abend erzählte sie es ihrem Mann schon in etwas aufgebauschter Form – »Er hat richtig höhnisch gelächelt. Er hat sich mit mir ein kindisches Blickeduell geliefert!« –, und vor dem Schlafengehen rief sie Rhonda Skillings und zwei Freundinnen an und übertrieb bei ihnen noch ein bisschen mehr, und als sie sich ins Bett legte, schlief sie friedlich. Ihr Vorteil war: Sie war von anteilnehmenden Zuhörern umgeben.

Dieses Glück hatte Tyler nicht, und er lag den Großteil der Nacht wach auf der Couch in seinem Arbeitszimmer. Er spürte etwas Hartes und Dunkles in seinem Innern, wie einen kleinen Stein, und ein Gefühl sagte ihm: Das gehört mir, auch wenn er keinen Namen dafür wusste; es formten sich keine Worte, da war nur dieser Besitzanspruch, ein angenehmes Auftrumpfen, und dann war es fort, und nichts mehr hatte in ihm Platz als das Bild Katherines, wie sie allein auf dem Pausenhof stand. Er setzte sich auf, sah durch das dunkle Arbeitszimmer, öffnete die Hände, schloss sie wieder. Er hörte die spitze Stimme der Lehrerin – »Niemand spielt mit ihr« –, und eine Erinnerung fiel ihn an: seine Schwester Belle auf dem Pausenhof in Shirley Falls, allein. Er, zwei Jahre jünger, sah sie und drehte sich weg, zurück zu der Gruppe von Freunden, die ihm bis zum Schulabschluss erhalten bleiben sollten, während Belle, einen Ausdruck gespielter Gleichgültigkeit auf dem Gesicht, den anderen Mädchen eine Weile beim Himmel-und-Hölle-Spielen zuschaute und dann weiterschlenderte. Es tat Tyler weh, daran zu denken. »Da bist du aus anderem Holz geschnitzt«, hatte seine Mutter zu ihm gesagt, als er Klassensprecher wurde, Kapitän des Footballteams.

Mit schweren Gliedern legte er sich wieder hin, und Nachtsorgen aller Art stürmten auf ihn ein. Seine Predigt war nicht fertiggeworden; in ein paar Wochen war Stewardship-Sonntag, dann liefen die Spendenzusagen ein, das Jahresbudget wurde ausgearbeitet und im Januar zur Abstimmung vorgelegt, und Doris Austin (die mit Rhonda Skillings befreundet war) sollte besser früher als später davon abgehalten werden, die Mitglieder des Gemeindekirchenrats zu bearbeiten, damit sie den Ausgaben für eine neue Orgel zustimmten. Erst als er sich den gütigen Ausdruck in Connie Hatchs grünen Augen ins Gedächtnis zurückrief, gelang es ihm schließlich einzudösen. Aber schon bald wachte er wieder auf und sah die bleichen Vierecke der Fenster Kontur annehmen. Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und esset euer Brot mit Sorgen.

Als er neuerlich wach wurde, stand Katherine neben seinem Gesicht und betrachtete ihn. »Mäuslein«, sagte er. »Morgen.« Er streckte den Arm aus und zog sie an sich. Sie hatte ins Bett gemacht, ihr Schlafanzugoberteil war hinten ganz nass. Tyler setzte sich ungeschickt auf. »Ab in die Badewanne mit Katherine Estelle«, sagte er. »Aber erst mal …« Er rieb sich das Gesicht. »Diese Schreianfälle in der Schule«, sagte er dann und beugte sich vor, die Ellenbogen auf den Knien. »Das muss aufhören.« Das Kind drehte sich weg. »Das geht nicht, Katherine. Es ist ungezogen, und es macht die Lehrerin wahnsinnig. Schau mich an.«

Sie kehrte ihm ein glühend rotes Gesicht zu. »Das war’s schon«, sagte er. »Auf geht’s.«

Der nasse Schlafanzug wurde in eine Ecke geworfen, das Kind in die Wanne gehoben, die alt und tief war und Löwenfüße mit langen Krallen daran hatte. Sie war so tief, dass Katherine kaum über den Rand schauen konnte, wenn sie darin saß. Vor ihr schwamm eine Schüssel zum Haareausspülen, schaukelnd von dem Strahl aus dem Hahn. Ihr Vater drehte das Wasser ab, als es gerade mal ihre Beine bedeckte. Wenn die Nebeltröte sie badete, ließ sie so viel Wasser einlaufen, dass es Katherine bis unter die Achseln reichte und sie dieses schwindlige Gefühl im Kopf bekam. »Katherine?«, sagte ihr Vater. »Hast du mich gehört?«

Sie nickte, schaudernd.

»Du sagst einfach ganz freundlich: ›Hallo – darf ich bitte mitspielen?‹«

Sie kniff die Augen fest zu und nickte wieder. »Na dann«, sagte er. »Jetzt zweimal ausspülen, dann haben wir’s geschafft.« Sie ließ die Augen beide Male zu, und er hob sie aus der Wanne und packte sie in ein Handtuch, und sie stand da und bibberte. »Sag mal, Kitty-Kat, magst du Mrs. Ingersoll?« Die Stimme ihres Vaters konnte auf verschiedene Arten weit weg klingen, aber diesen Ton liebte sie über alles – so müde, dass er sie in die Welt der Großen mit einschloss. Sie zuckte die Schultern. Er blieb einen Moment vor ihr knien und sah ihr ins Gesicht.

»Tja«, sagte er mit einem Seufzer. Er schaute umher, hob den nassen Schlafanzug auf. »So umwerfend fand ich sie jetzt auch nicht.«

Der Himmel war von einem scharfen, klaren Blau, das Morgenlicht blitzte auf den Kotflügeln der entgegenkommenden Autos, spielte im üppig leuchtenden Laub der hohen Ahornbäume, die diesen Teil der Main Street säumten. Undenkbar, dass der Mensch fähig oder willens sein sollte, diese Welt zu zerstören. In vier Jahren dürfe es keinerlei Atomwaffen mehr geben, hatte Chruschtschow gesagt, und doch wollte er keine Abrüstungsinspektionen zulassen. Wie war das alles zu begreifen? Zu einer anderen Zeit hätte Tyler, der eins seiner neuen weißen Hemden trug und mit einer zusammengerollten Wolldecke unterm Arm auf die Kirche zuging, vielleicht den russischen Staatschef und auch Mrs. Ingersoll in seine Gebete eingeschlossen – Wir gingen alle in die Irre wie Schafe. Oder er hätte einfach nur Dank gesagt für die Schönheit der Welt. Aber Tylers Gedanken waren bei Connie Hatch. Dieser Blick zwischen ihnen – er wollte ihn nicht überbewerten, aber er kam nicht über die Wirkung hinweg, die die Begegnung auf ihn gehabt hatte; es war, als hätte er eine Ewigkeit keinem anderen Menschen mehr in die Augen geschaut. Mit langen Schritten näherte er sich der Kirche, und der Wind blies in kleinen, wirbelnden Stößen, alles hatte Biss wie ein Apfel, Blätter tanzten über den Boden hier in West Annett.

Die Kirche lag ein Stück von der Straße zurückgesetzt, in dem stumpfen Winkel zwischen Main Street und Pottle’s Lane. Sie war 1796 erbaut und schien ganz von selbst vor dem grasigen kleinen Hügel emporzuwachsen; fast konnte man sie sich mit ihrem eigenen Wurzelgeflecht in der Erde vorstellen, so weit verzweigt und robust wie das der Kiefern und Zedern neben ihr. Einige Jahre zuvor war ein Anbau errichtet worden, in einer seitlich gelegenen leichten Senke, so dass der Gemeindesaal und die Sonntagsschule nun in einem Gebäude untergebracht waren, das von der Straße aus kaum zu sehen war. Das Büro des Pfarrers aber blieb im Untergeschoss der Kirche selbst, und dorthin war Tyler unterwegs.

Erst trat er jedoch kurz in den Kirchenraum; die Stille und Schlichtheit der weiß getünchten Säulen, die leichte Kellerkühle des Raums hatten etwas Wohltuendes für ihn – ein winziger Schauer der Ehrfurcht durchrieselte ihn jedes Mal. Er verstaute die Decke unter einer der hinteren Bänke. Vor seiner Zeit war die Kirche nachts abgeschlossen gewesen. Das war während der Depression eingeführt worden, nachdem immer wieder einmal ein schlafender Landstreicher in der Kirche entdeckt worden war. Aber Tyler, der sich sonst...


Strout, Elizabeth
Elizabeth Strout wurde 1956 in Portland, Maine, geboren und wuchs in Kleinstädten in Maine und New Hampshire auf. Nach dem Jurastudium begann sie zu schreiben. Ihre Romane sind Bestseller; für »Mit Blick aufs Meer« erhielt sie 2009 den Pulitzerpreis, »Die Unvollkommenheit der Liebe« wurde 2016 für den Man Booker Prize nominiert, und für »Alles ist möglich« wurde sie 2018 mit dem Story Prize ausgezeichnet. »Die langen Abende« war New-York-Times-Bestseller, SPIEGEL-Bestseller und kam auf die SWR-Bestenliste. 2022 wurde sie mit dem Siegfried Lenz Preis ausgezeichnet. Elizabeth Strout lebt in Maine und in New York City.



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