Fernes Wien, fremde Welt
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-552-07332-6
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gerda, Friedl, Ilse und Susanne waren die Töchter von „Benedikt-Sohn“ und Enkelinnen von Moriz Benedikt, dem berühmten Herausgeber der mächtigen „Neuen Freien Presse“, gegen die Karl Kraus heftig polemisierte. In unmittelbarer Nachbarschaft der Benedikts lebte Elias Canetti, dessen Blicken die Töchter nicht entgingen und von denen er sich in den Salon einladen ließ. Der „Anschluss“ machte dem privilegierten Dasein ein Ende, den vier Schwestern aber gelang die Flucht. Verstreut in alle Himmelsrichtungen, blieben sie einander über Emigration, Krieg, Nachkrieg hinweg verbunden.
Ernst Strouhal erzählt von einem Stück unwiederbringlicher Kultur und gibt damit seiner eigenen Mutter und seinen drei Tanten eine Stimme.
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1 Himmel fünfundfünfzig
Das letzte Foto, das die vier Schwestern gemeinsam zeigt, stammt aus den späten 1920er Jahren. Sie sind noch Kinder. Die Familie Benedikt ist im Wiener Atelier von Hermann Clemens Kosel um einen Tisch versammelt. Das Bild ist geschickt arrangiert, alle Personen sind miteinander verbunden. Die jüngste Tochter Susanne sitzt auf dem Schoß der Mutter Irma, die rechte Hand von Friedl liegt auf der Schulter der Mutter, neben ihr stehend Gerda, sie berührt sanft den Arm ihres Vaters Ernst. Der lächelt zufrieden, seine Hand greift wie zufällig nach der Hasenfigur auf dem Tisch, daneben steht ein kleiner Hahn; Tochter Ilse sitzt entspannt ganz rechts auf der Stuhllehne, den Arm auf der Schulter des Vaters. Auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagenes Buch, um das die ganze Familie gruppiert ist. Das Bild der adrett gekleideten Familie und der großbürgerlichen Idylle täuscht. Die Neue Freie Presse, die der Vater als Herausgeber und Chefredakteur leitete, steckte in der tiefsten Krise ihres Bestehens, und betrachtet man den skeptischen Blick der beiden älteren Töchter Friedl und Gerda und das etwas bemühte Lächeln der Mutter, lässt sich erahnen, dass das Zusammenleben in der Familie nicht so harmonisch war, wie es uns das Bild weismachen will. Susanne, die Jüngste, erinnerte sich an täglichen Streit, an den Vater, der wütend vom gemeinsamen Essen aufsprang und für Stunden in seiner Bibliothek verschwand, an Szenen der Eifersucht, an Zank zwischen den Schwestern, an Schläge und wilde Raufereien. Und dennoch: Blättert man in den Briefen, die sich die Schwestern über fünf Jahrzehnte aus der Fremde in die Fremde geschrieben haben, ist vom ersten bis zum letzten von Sehnsucht die Rede. Sehnsucht nach den »gemeinsamen Mittag- und Abendessen«, nach den Zeichnungen, die der Vater für die Kinder anfertigte, nach dem Kuchen der Frau Langbein, nach den Klaviersonaten, die am Flügel im großen Salon gespielt wurden. In London träume sie, schreibt Friedl 1941 an Ilse nach Zürich, von daheim, und zwar »unheimlich viel« vom Haus und vom Garten. Gegen Ende der 1990er Jahre verfasst Susanne eine Reihe langer Briefe mit Erinnerungen über ihre Kindheit für ihre Tochter in Paris und ihren Neffen in New York; an die Tochter schreibt sie auf Deutsch, an ihren Neffen auf Englisch. Sie erzählt vom Garten, von den Korridoren, in denen gespielt wurde, vom Zimmer der Mutter, vom geliebten Kindermädchen (»Bambi«), von ihrer Angst und vom Glück ihrer Kindheit, das sie ein Leben lang begleitet hat. Die Erinnerung an das »Viermäderlhaus« verbindet die Schwestern miteinander. Nachdem sich die Schwestern 1938 auf der Flucht vor den Nazis trennen mussten, werden die Briefe das Medium seiner Beschwörung und seiner Rettung in der Erinnerung. Susi, Irma, Friedl, Gerda, Ernst und Ilse Benedikt, um 1927 Ohne Hitler wäre das »Viermäderlhaus« (zum Unterschied von Schuberts »Dreimäderlhaus«) bestimmt und wahrscheinlich tragisch explodiert: Unsere unterschiedlichen Rivalitäten, Eifersüchteleien und Aggressivitäten waren tiefgehend und gross. Jede wollte die anderen wegzaubern können, um die Einzige, die Geliebteste, die Schönste, die Gescheiteste zu sein. Aber dank unserer Familien-Diaspora — die Gerdl in New York, die Friedl in London, die Ilse in Zürich und die Eltern und ich in Stockholm — wurden wir wieder eine Familie. In den armseligen Resten eines nie sehr regen Briefwechsels mit den Schwestern lesen sich früher nie geäusserte Sorgen um mich und meine Zukunft. Grobe Grinzinger Schimpfwörter, wie »verfluchte Drecksau« oder »blöde Gans« verwandelten sich in Schmeicheleien und nostalgisch-vertraute Liebesbeteuerungen. Nach dem Krieg, also nach sechs, sieben Jahren von sehr verschiedenen Erfahrungen, die jede von uns schwesternlos durchstehen musste, war das Wiedersehen ein langersehntes Wunder, eine Freude, ein unendliches Glück. Aus den oft wuterfüllten Rivalinnen wurden wir vier beste Freundinnen. Vielleicht empfand ich die Freude des Wiederfindens noch stärker als »die Grossen«; ich war schliesslich ein Kind, als ich die Familie verlassen musste. In der Zwischenzeit wurde ich selber eine Erwachsene, eine »Grosse«. Susanne ist mit ihrer Sehnsucht nicht allein. »Ach Gott«, schreibt die in ihren Briefen für gewöhnlich betont sachliche Ilse 1941 aus Zürich an die Mutter in Stockholm, »Ach Gott, du hast keine Ahnung, was ich für Sehnsucht habe, unterzukriechen, zu wissen, da bist du daheim.« Und Gerda gesteht kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Brief aus New York, wie sehr sie sich nach dem Ende der »Schwesternlosigkeit«, in die sie verbannt wurde, sehnt. »Mein Geliebtes, Blödes«, schreibt sie 1955 an Susanne in Paris, »du fehlst mir derartig, dass es zum Kotzen ist …« Die »Schwesternsehnsucht« (Gerda), die alle vier in ihren Briefen teilen, und die Erinnerung an die Kindheit verbinden sich allerdings noch Jahrzehnte später bei Ilse mit einer »unbestimmten Angst, die mich an die Zeit erinnert, als wir noch in einem Zimmer geschlafen haben …« Woher die Angst, welche Angst? * Die Erinnerungen der Schwestern an Wien sind mit den Klängen und Gerüchen der Stadt, mit den Eltern und Freundinnen verbunden. Im Mittelpunkt steht jedoch die Erinnerung an einen realen Ort, das Haus der Familie in der Himmelstraße 55 im Wiener Vorort Grinzing. Einen der langen, späten Briefe für ihre Tochter titelt Susanne denn auch mit »Himmel fünfundfünfzig«: Himmel fünfundfünfzig: Das Haus stand hoch auf der Himmelstrasse, so genannt, weil sie sehr steil war — noch immer ist. Es war damals fast das letzte Haus auf der linken Seite, umgeben von Weingärten. Ein anderes Haus war viel weiter oben, so weit, dass man es von uns aus gar nicht sehen konnte. Ein Gymnasiumlehrer wohnte dort mit seiner Familie. Wir hatten keinen Verkehr mit ihnen. Zum Hauseingang gingen von der Himmelstrasse ein paar Stufen zu einem erhöhten Trottoir — Sand und Erde — und hinter unserem offenen Eisengitter gab es weitere Stufen in den sogenannten Vorgarten mit rechts und links eingezäunten Rosenbeeten — vielleicht wegen dem »von Rosen«*1 der Mutti. Auf alle Fälle waren die vielen und wirklich schönen Rosen die einzigen Blumen, um die sich die Mutti selber gekümmert hat, wenn sie mir nicht ein paar Schillinge gab, dafür dass ich ihr beim Unkrautjäten half. Irma und Ernst Benedikt hatten die Villa in der Himmelstraße 55 im September 1917 von Andreas und Maria Bibza erworben und waren von der Wohnung in der Wohllebengasse 6 im heutigen vierten Bezirk hinaus nach Grinzing gezogen. Grinzing ist heute ein Nobelbezirk im Nordwesten Wiens, damals war es noch Vorstadt. Erst 1890/92 war das Dorf am Fuß des Kahlenbergs Teil von Wien geworden. Das Ortsbild von Grinzing war von Weinhauerhäusern mit schattigen Höfen und alten Buschenschenken geprägt, seit dem Biedermeier war der Ort ein beliebtes Ausflugsziel, manche Mietgäste blieben »der guten Luft«, aber vor allem des Weines wegen über den ganzen Sommer. Die Fahrt mit dem Stellwagen von der Innenstadt hinaus nach Grinzing dauerte fast eine Stunde. Die Straßenbahnlinie 38, die vom Grinzinger Platz zum Schottentor führt, war erst zehn Jahre vor dem Einzug der Benedikts in Betrieb gegangen. Ab der Jahrhundertwende siedelten sich in Grinzing viele Künstler, Ärzte und Industrielle an. Die alten Presshäuser wurden abgerissen oder umgestaltet und durch moderne Gründerzeithäuser ersetzt. Schräg gegenüber im Haus Himmelstraße 30 eröffnete Alois Delug, Professor an der Akademie der bildenden Künste, 1911 seine Malerakademie. Veza und Elias Canetti werden Mitte der 1930er Jahren hier eine Wohnung beziehen. Bergaufwärts führte die Himmelstraße entlang der Weingärten zum Schloss Bellevue »am Himmel«, das als Erholungsheim für Lungenkranke diente — es wurde in den 1950er...