E-Book, Deutsch, Band 5433, 135 Seiten
Reihe: Aufbau Taschenbücher
Strittmatter Grüner Juni
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8412-2893-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Nachtigall-Geschichte
E-Book, Deutsch, Band 5433, 135 Seiten
Reihe: Aufbau Taschenbücher
ISBN: 978-3-8412-2893-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Odyssee durch karelischen Urwald, Ägäisches Meer und böhmische Kartoffelfelder, bis er heimkommt ins thüringische Grottenstadt, wo Frau Amanda im Begriff ist, eine Amerikanerin zu werden.
Mit einem amerikanischen Lastwagenkonvoi gelangt Esau Matt im grünen Juni 1945 von Böhmen nach Thüringen. Doch in Grottenstadt hat er kein Zuhause mehr, und so muss der Heimkehrer weiterwandern auf der Suche nach Unterkunft und Arbeit. Der Zufall führt ihn zum , und Esau Matt kommt zu seinem 12. oder 13. Beruf: Plantagenarbeiter. Und plötzlich hat er auch Zeit zum Lesen, zum Schreiben und zum Sinnen über Vergangenes und Künftiges, über die Erlebnisse im Krieg, über verlorene Liebe und über den krummen Lebensweg eines wunderlichen Schreibers ... bis er sich aufmacht nach Bossdom. Aber das ist dann schon eine andere Geschichte, die vom »Laden. Dritter Teil«.
Diese Erzählung bildet das Zwischenglied zwischen Zweitem und Drittem Teil der »Laden«-Trilogie.
Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994.
Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogien »Der Laden« (1983/1987/1992) und »Der Wundertäter« (1957/1973/1980).
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Ich bin allein in der Mairie, und die Nacht kommt, und ich kann nicht schlafen. Das Meer schlägt in regelmäßigen Abständen gegen die Hafenmole. Ich richte mein Ein- und Ausatmen auf den Rhythmus der Wasserschläge und die dahinter liegende Stille ein, und die Stille ist durchsetzt mit dem Zirpen von Zikaden. Ich bilde mir ein, eine Entdeckung gemacht zu haben: Der Rhythmus der Brandung und der Rhythmus meines Atems stimmen überein, wenn ich lange genug aus- und einatme. Etwas Besseres fällt mir in den ersten zwei Dritteln der Nacht nicht ein, und gegen Morgen kommt eine Befürchtung auf mich zugekrochen: Ich befürchte, dass mich die Leute, die ich die Unsrigen nenne, nicht mehr abholen. Sie wissen zwar nicht, dass ich allein hier sitze, aber auch, wenn wir noch zu dritt hier säßen, könnten sie uns womöglich vergessen. Solche Liederlichkeiten kommen vor. Krause erzählte mir, dass sie einmal vom Schiff aus eine Insel beschossen, auf der schon Deutsche abgesetzt waren.
Und die zweite Befürchtung kommt angekrochen: Vielleicht hat Kostas in der Stadt mit den Räten und Ältesten beschlossen, was sie mit mir machen werden. Ich bin einer dieser verruchten Deutschen, die alle Welt in ihren Krieg hineinzogen. Wer weiß, was sie sich dort hinten in der Stadt für eine Strafe für mich ausdenken?
Wieder fällt mir Jolly, der Hungerkünstler, ein, von dem ich euch schon in einer anderen Geschichte erzählte: In den zwanziger Jahren stellte er sich in Berlin in einem Glaskasten aus und hungerte Neugierigen gegen Eintrittsgeld tage- und wochenlang etwas vor. Wenn nun die Inselbewohner von Ios etwas Ähnliches mit mir vorhatten, wenn sie mich in die Stadt hinaufbringen und mich in einem Schaufenster ausstellen, ein Exemplar der modernen Seeräuber in einem Glaskäfig. Sie brauchen mich nicht einmal hungern zu lassen, meine Qual wäre, dort im Schaufenster in der grellen Sonne sitzen zu müssen, ein Ausgestellter zu sein, ein Anschauungsobjekt. Die Ausstellung von Jolly, der sich nachts heimlich ernähren ließ, endete damals mit einem Skandal. Wie würde meine Ausstellung enden?
Als ich im Hafen die ersten Stimmen von Fischern höre, nehme ich mir vor, etwas zu tun, um jemand zu sein. Damals weiß ich noch nicht, dass es das Größte im Leben eines Menschen sein kann, zwecklos zu leben.
Kostas kommt summend in die Mairie. Ich kann keinerlei Veränderungen an seinem Wesen feststellen. Er gibt mir von seinem Kaffee ab, und wir reden, so gut wir können, miteinander, und ich fange an, mich zu beschäftigen, um wer zu sein. Ich mache mich zum Verwalter von zwei überzähligen Gebirgsjägerrucksäcken. Ich sichte das Gepäck der Untergetauchten, sehe mir eine Weile das Foto der Frau des Inselkommandanten Krause an, das Foto einer kleinbürgerlichen Dame aus Crimmitschau, die einen Kopf voll künstlicher Locken umherträgt, und ich sehe mir ein Foto der beiden Söhne des Funkers Müller an, beide mit Halstüchern und ledernem Schlipsknoten, flotte Jungs mit Hüftmessern, weißen Zähnen, und Deutschlands Zukunft eben.
Ich verbrenne dieses Foto, verbrenne alles persönliche Zeug von Krause und Müller, was auf ihre Eigenart als stramme Deutsche hinweist, um die Griechen nicht zu erregen, falls sie doch noch auf den Einfall kommen sollten, das Gepäck zu beschlagnahmen. Ich bitte Krause und Müller von hier aus um Verzeihung; vielleicht gehören sie zu jenen, die politisch geheilt aus dem Kriege kamen, und sind mir dankbar für das kleine Feuer, das ich aus ihren Erinnerungsstücken machte.
In meinem Gepäck sind so Dinge nicht zu finden, die die Griechen erregen könnten, außer einem Foto vielleicht, das eine Frau, noch ohne Carmenlocke auf der Stirn, zeigt, aber mit einem Mund, der sehr breit ist und lächelt und dem man ansieht, dass er es bei den unmöglichsten Gelegenheiten tut.
Sodann lasse ich die kleinen Konservenbüchsen mit Fleisch und Wurst und das italienische Hartbrot aus den Rucksäcken von Müller und Krause in meinen Rucksack überwechseln und schütte vor allem die kleinen gelben Tabletten gegen das Papadatschi-Fieber zu den meinen in ein kleines Säckchen und stecke das Säckchen in meinen Brotbeutel, von dem ich mich Tag und Nacht nicht mehr trenne. Die Tabletten sind das reinste Gold, wie ich feststelle: Einer der Fischer bietet mir für eine zwei Drachmen. Er benötigt sie, wie er mir pantomimisch erklärt, für sein fieberndes Kind. Ich nehme den Fischer heimlich beiseite, gehe mit ihm hinter die Mairie in den Schatten, gebe ihm fünf Tabletten und gebiete ihm mimisch Stillschweigen. Seine Drachmen nehme ich nicht, und ich komme mir edel dabei vor und hoffe ein bisschen, dass mir die Griechen das in Rechnung stellen, falls sie doch etwas mit mir vorhaben.
Die nächste Nacht schlafe ich gut, und ich krieche am Morgen erfrischt aus dem Schlafsack, wasche mich und gehe zu den Fischern an den Strand. Der Horizont ist wie der Saum am blauen Hemd eines griechischen Gottes. Ich suche diesen Saum nach einer Schiffslaus ab, aber er ist sauber, und ich merke mir die Farbe des Meeres: An diesem Morgen ist es taubenblau.
Ich gehe in die Mairie und koche mir Morgenkaffee. Kein Deutscher, auch wenn er nur so aussieht wie ein echter, glaubt auf seinen Morgenkaffee verzichten zu können, selbst wenn dieser Kaffee nur Ersatz ist und aus gebrannter Gerste besteht. Unser Bataillonskoch hat uns eine gehörige Menge von diesem Ersatzkaffeepulver hinterlassen. Er muss geglaubt haben, dass auch dieses Gerstenpulver Menschen aufmutzt, sie wach und wachsam hält. Ich müsste demnach die dreifache Portion trinken, ich muss für drei Mann wachsam sein.
Kostas rümpft über meinen Kaffee die Nase. Er will mir von seinem einflößen, der ist aus gebrannten Kicher-Erbsen. Kostas müht und müht sich, mich in das Lager der Kicher-Erbsen-Trinker hinüberzuziehen, aber ich muss ablehnen, Gerste ist Gerste, und Erbsen sind Erbsen, doch damit mir Kostas wohlgesonnen bleibt, schenke ich ihm eine Antifiebertablette. Er bedankt sich graziös und bietet mir später von seinem Mittagbrot an, und als ich ihm auch dafür eine Tablette anbiete, wehrt er energisch ab, er ist kein Wucherer.
Nach dem Morgenkaffee bin ich frei, aber auch nach dem Mittagessen bin ich frei, und nach dem Abendessen habe ich Feierabend. Eine Weile versuche ich mir vorzustellen, ich sei ein Urlauber, aber ich habe noch nie Urlaub auf einer südlichen Insel gemacht, und ich weiß nicht, wie man es anstellt, ich versuche es: Ich gehe zum Strand und sehe den Fischern zu, wie sie Tintenfische fangen, wie sie ihnen die Fangarme abschneiden, und wie sie die Fangarme auf den Steinen der Mole klopfen, damit sie weich werden und sich essen lassen. Manchmal schenkt mir einer der Fischer einen Tintenfisch-Arm, und ich gebe ihm später, wenn ich ihn in einer Ecke allein habe, eine Tablette dafür.
Ich geh zurück in die Mairie und schreibe mir auf, wieviel Tintenfische an der Mole geklopft wurden, und ich schreibe alles so genau auf, wie es um diese Zeit auch ein gewisser Hemingway tut, von dem ich noch nichts weiß, und da ich viel Zeit habe, schreibe ich nicht nur über Tintenfische, sondern auch über meine Ausflüge:
Ich gehe in die Stadt hinauf und bilde mir ein, ich sei ein Seeräuber, der die Stadt entdeckt hat, obwohl man sie gut versteckte. Ich bin Sindbad oder so einer. Nein, ein Wikinger bin ich nicht, das ist mir zu nordisch.
Die Stadt Ios glänzt weißer als weiß in der Sonne, und ein Haus, das anfängt, ein wenig dunkler zu sein, wird am nächsten Tag schon wieder weiß gestrichen, damit es nicht absticht. Das besorgen die Frauen mit Faserbürsten; sie können ihr Ios nicht weiß genug haben.
Übrigens ist die Stadt ein einziges großes Haus. Man steigt Stufen und Treppen hinan oder hinab, wie man in einem geräumigen Haus von einem Stockwerk ins andere steigt, aber was in einem Haus ein Zimmer ist, ist hier eben ein Haus, und das ist der Zauber der Inselstadt. Manchmal begegnen mir Mädchen auf der Gasse, doch wenn sie auf meiner Höhe sind, sehen sie auf die andere Seite und sind reizend schüchtern, oder sie tun so.
Manchmal setze ich mich in ein Café auf einen Stuhl, auf dem schon Odysseus gesessen haben kann, und ich setze mich an ein Tischchen, und ich kriege meinen Kicher-Erbsen-Kaffee und reichlich Zucker. Ich zahle mit Drachmen, und ich achte sehr darauf, nicht das Geld zu packen, das ich meinen Kameraden notgedrungen entwenden musste. Manchmal setzen sich Männer mit zu groß ausgefallenen Mützen an die anderen Tische. Sie lächeln mir nicht gerade zu, aber sie haben nichts dagegen, und sie gestatten es mir, dass ich ein Fremder bin und so tue, als ob ich Kicher-Erbsen-Kaffee trinke.
Ich gehe wieder hinunter zum Hafen und denke, jetzt gehst du heim. So rasch wird man heimisch.
Ich bin wieder in der Mairie und schreibe auf, was ich in der Stadt erlebte, wie die Männer mich ansahen, und wie die Mädchen mich nicht ansahen, und wie die Männer mir erlaubten, auf dem Stuhl von Odysseus zu sitzen. Ich schreibe auf, wie die Esel, diese vierbeinigen Inselfahrzeuge, in der Stadt der tausend Stufen auf und nieder steigen; wie sie Wasser tragen, ohne dass sie selber etwas trinken, und manchmal kommen sie von hinter der Stadt wie Stacheltiere auf Eselsbeinen und sind mit Flechten bepackt, mit Flechten, dem Holz für die Feuer von Ios, auf dem man die Arme der Tintenfische kocht. Ich schreibe also von Eseln, Tintenfischen und Flechten, werde immer inselkundiger und tu so, als ob ich der erste Mensch wäre, der über diese Insel schreibt, einer, der nicht weiß, wie viele Leute über sie schon geschrieben haben, und dass vielleicht ein gewisser Homer unter diesen...