Stridsberg Das große Herz
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25607-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-446-25607-1
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sara Stridsberg, 1972 in Solna, Schweden, geboren, ist eine schwedische Roman- und Theaterautorin. Ihre Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. 2007 mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates, 2015 mit dem Großen Preis des Samfundet De Nio und dem Literaturpreis der Europäischen Union sowie zuletzt 2016 mit dem Selma-Lagerlöf-Preis. Sara Stridsberg ist seit 2016 Mitglied der Schwedischen Akademie. 2017 erschien bei Hanser ihr Roman Das große Herz.
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Das erste Gespräch
Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Edvard Winterson gestorben ist«, sagt Jim, als er in dem kleinen Lichtkegel meiner Leselampe in der Jungfrugatan sitzt und einen Zeitungsausschnitt befingert, es ist eine Todesanzeige. »Der Oberarzt in meiner Abteilung in Beckomberga. Erinnerst du dich an ihn, Jackie?«
Während wir reden, werden draußen am Himmel nach und nach die Sterne entzündet, ein Band aus hellen Perlen über dem tiefen Blau, das gedämpfte, schwindelerregende Licht der Abendsterne, und natürlich erinnere ich mich an Edvard, er stand immer neben dem Eingang des Männerflügels und rauchte in der Dämmerung; ein einsamer Rauchring im grauen Licht, sein breites Lächeln, wenn er Jim erblickte, und mir fällt ein, wie ich einmal auf seinem Rücksitz mit dem sonnengebleichten Bezug eindöste, als er mich von der Klinik nach Hause fuhr.
Im Schein der Lampe erzählt mir Jim, wie er mit Edvard Winterson in dessen silberfarbenen Mercedes zu nächtlichen Partys in Östermalm gefahren ist, als er Patient in Beckomberga war. Bei Sonnenuntergang wurde er in der Abteilung abgeholt, und dann fuhren sie die Lindenallee entlang und weiter in die verglimmende Stadt, die einmal sein Leben gewesen war. Edvard Winterson hatte Zivilkleidung für ihn dabei, ein sauberes Hemd, Jeans und ein Jackett, die in einem ordentlichen kleinen Stapel auf dem Dach des Wagens bereitlagen, und schon während sie durch die Kliniktore hinausfuhren, hielt Jim eine Zigarette und einen Drink in der Hand.
»Edvard war ein großartiger Mann«, sagt Jim und lacht, »und vollkommen wahnsinnig – auch er. Wir hatten uns in dieselbe Frau verliebt. Sabina. Erinnerst du dich an sie? Sie war ungebärdig, und weil Edvard nur ein reicher Junge aus Östermalm war, wusste er nicht mit ihr umzugehen.«
Ein paar einsame, nachzüglerische Wolken treiben über die zerlaufene Tusche des Himmels an jenem ersten Winternachmittag, als Jim zu mir kommt und von Beckomberga erzählt. Er ist eine Weile in Stockholm zu Besuch, in ein paar Tagen fährt er zurück nach Cariño, in das Haus am Atlantik. Beim letzten roten Pulsieren der Sonne und der Rauchringe, die aus seinem Mund schweben, muss ich an den Nebel zurückdenken, der über dem Klinikgelände lag, als Lone und ich ihn zum ersten Mal dort besuchten, an den Schneerauch, der damals zwischen den Häusern hing.
Um uns herum war alles gefroren, als wir die schmalen, asphaltierten Wege entlanggingen und versuchten, die Schilder zu entziffern. Die Bäume sahen aus, als hätte jemand die Rinde von ihren nassen Stämmen geschält, und ich kann noch immer das Kreischen der Elstern hören, das in dem kasernenartigen Hof zwischen den Gebäuden widerhallte, als wir auf den Männerflügel zueilten. Lone in leuchtendrotem Mantel und Stiefeln, leicht nach vorn gebeugt, den Kragen ihres Mantels umklammernd, als würde sie sich gegen einen Sturm stemmen. Jims blasses Gesicht war ohne Lächeln, sein Blick erloschen, und als er sich eine Zigarette anstecken wollte, zitterten seine Hände so sehr, dass er sie wieder beiseitelegen musste. Lone, die eigentlich mit dem Rauchen aufgehört hatte, griff nach dem Päckchen, zündete eine für ihn an und eine für sich und nahm ein paar hastige Züge, ehe sie die Zigarette unter ihrem Stiefelabsatz zertrat.
Jim: Ich habe es schon so viele Male versucht, aber es war mir nie besonders ernst. Wie oft habe ich mit dem Kopf in Lones Gasofen gelegen, wenn sie von der Arbeit kam. Einen Strauß Rosen auf den Küchentisch, das Gas aufgedreht. Es war ein Experiment gewesen. Aber diesmal war es wie ein freier Fall. Ich fiel, und ich fiel immer weiter.
Jims Freunde in der Klinik nannten ihn Jimmie Darling, und nach einer Weile begann auch ich, ihn Jimmie Darling zu nennen, wenn wir gemeinsam mit den anderen Patienten auf dem kleinen, von jungen Birken bewachsenen Hang saßen. Die Schwaden, die von den Zigaretten zum Himmel aufstiegen, waren Rauchzeichen an jene, die sich auf der anderen Seite des Zauns befanden, ein Gruß von uns an die Welt da draußen. Ich sammelte Zigarettenstummel, die ich Jim und Sabina schenkte und später auch Paul.
»Jimmie Darling?«
»Ja.«
»Wirst du wieder gesund werden?«
»Ich weiß es nicht, Jackie.«
»Willst du nicht gesund werden?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich will, ich weiß nicht mehr, was das bedeutet. Gesund zu sein. Und ich fühle mich hier zu Hause, mehr als an irgendeinem anderen Ort. Die Menschen hier haben nichts, und das habe ich hier gelernt – dass es keine Rolle spielt, was man besitzt und wo man lebt. Es sind ja doch alle gleich, und es gibt keine Möglichkeit, sich zu schützen.«
»Wovor denn schützen?«
»Ich weiß nicht. Vor der Einsamkeit … vor dem inneren Abgrund.«
»Also kommst du nicht zurück?«
»Ich weiß es noch nicht, Jackie. Warte nicht auf mich.«
Sabina liegt auf dem Bauch im schwarzen Gras vor der Kapelle und hat ein Buch vor sich aufgeschlagen.
»Das Einzige, worum ich bitte, ist Freiheit«, sagt sie und sieht zu mir auf, und ihre Pupillen weiten sich trotz des grellen Sonnenscheins, bis ihre Augen nur noch schwarze Tusche und Schmerz sind. »Und wenn mir die Freiheit wie immer verweigert wird, nehme ich sie mir trotzdem.«
Ich werde ihre Augen nie vergessen, wie sich ihre Pupillen im grellen Licht unter den Bäumen von Beckomberga weiteten und wieder zusammenzogen. Groß, dunkel und unbeweglich in ihrem Gesicht, starr von Medikamenten und Alkohol. Lange war sie mein Bild von Zukunft, jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Eines Abends, als ich in der Abteilung 6 am Fenster stehe, sehe ich, wie sie den Hang bei den Birken hinter dem Männerflügel hinabrennt, dicht gefolgt von Edvard. Bei der großen Eiche bekommt er sie zu fassen und zieht sie ins Gras, er reißt ihr die Halskette ab, und die Perlen fliegen durch die Luft wie Wasserkaskaden, wie blaue Regentropfen.
Noch Monate später finde ich blaue Perlen im Gras unter der Eiche. Korn, Indigo, Azur, Himmel, und mit der Zeit werden sie immer matter, von manchen Perlen hat der Regen die Farbe ganz abgewaschen, sie sind elfenbeinweiß, farblos. Erst habe ich vor, sie zurückzugeben, aber dann ist niemand mehr da, dem ich sie geben könnte.
Jim gleicht einem alten Jungen, wie er da sitzt, die langen, knochigen Beine nachlässig ausgestreckt, der Oberkörper derart zusammengesunken, dass der Sessel riesig wirkt. Er gehört zu den wenigen Dingen aus dem Nachlass von Vita und Henrik, die noch übrig sind, alles andere ist verschwunden, vor langer Zeit verkauft worden, als Jim Geld brauchte. Auf den Fotos werden die beiden immer jünger, im gleichen Takt, wie wir altern. Vita war knapp unter vierzig, als sie ging, ein bisschen jünger, als ich es jetzt bin, und auf den alten, schwarz-weißen Hochzeitsfotos strahlt das Licht in ihren Augen weiter.
Wahrscheinlich hätte nie jemand geglaubt, dass Jim einmal alt werden würde. Er hat immer außerhalb der Zeit gestanden und nach seinen eigenen Regeln gelebt wie ein großes, gefährliches, wildes Kind, und er hat den Tod immer zu sehr geliebt, als dass man sich einen gealterten Jim hätte vorstellen können. Manchmal denke ich, ihm fehlt es an einer Vorstellung vom Leben nach der Jugend, vom Altern, er hat immer getan, wozu er Lust hatte, ist allen Ideen und Instinkten gefolgt, hat gelogen, betrogen, getrunken, verlassen, und ich glaube nicht, dass er jemals jemanden geliebt hat. Nicht mich, nicht meine Halbbrüder, vielleicht nicht einmal Lone.
»Komm schon, Jackie, ich werde auf keinen Fall alt«, sagt er und hat vergessen, dass er nächstes Jahr siebzig wird, »dafür war mein Leben zu hart. Und das, obwohl ich überhaupt nie leben wollte. Nicht richtig. Nicht so wie du.«
Er hat wieder einmal beschlossen zu sterben, das teilt er mir unumwunden mit, kaum dass er zur Wohnungstür in der Jungfrugatan hereingekommen ist. »Ich will nicht alt werden, Jackie. Es gibt nichts mehr, für das es sich zu leben lohnt.« Er ist nach Stockholm gekommen, um von mir und Marion Abschied zu nehmen. In ein paar Monaten plant er, aus der kleinen Bucht im Norden Spaniens ins Meer hinauszuschwimmen. Er hat eine Schachtel Schlaftabletten der Marke Imovane aufgehoben und um meinen Segen gebeten, und ich habe ihm meinen Segen gegeben, weil ich ihm meistens gebe, worum er mich bittet. In seiner Gegenwart verstumme ich immer, es ist, als würden alle Gedanken in mir vernichtet.
»Mach, was du willst, Jim«, sage ich schnell, »das hast du immer schon getan.«
Jim pflegte mir Briefe zu schreiben, nachdem er von Lone und mir weg und in das kleine Zimmer in der Observatoriegatan gezogen war, noch bevor er nach Beckomberga kam.
»Bitte, Jackie, du musst mir helfen. Komm doch wenigstens nach der Schule kurz hier vorbei, Jackie. Du bist die Einzige, die mich jetzt retten kann. Kannst du nicht zu mir kommen? Es ist so einsam hier.«
Ich habe seine Briefe nie beantwortet, weil ich nicht wusste, was ich antworten sollte, und weil ich immer das Gefühl hatte, Jim nicht retten zu können, selbst wenn ich es wirklich versuchte. Letzten Endes wurde er immer von jemand anderem gerettet, von einer Frau wie Sabina oder vom Alkohol.
Jim ist nicht er selbst. Sein Gesicht ist blass, obwohl die Sonne über dem Haus in Cariño brennt, und er trägt einen Gentleman-Anzug, der ein paar Nummern zu groß ist, und elegante Herrenschuhe; Kleider, wie er sie nie getragen hat. Früher waren es immer Jeans,...