Strauß | Rumor | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 236 Seiten

Strauß Rumor

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25111-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 236 Seiten

ISBN: 978-3-446-25111-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In Rumor beschreibt Strauß die Geschichte eines Mannes, der tags seine schwerkranke Tochter mit inzestuöser Hingabe pflegt, nachts im Alkoholrausch umherirrt und den Untergang beschwört. Es ist die Geschichte eines Verfalls und einer Verfallenheit, die wie eine heimtückische Krankheit die Personen infiziert hat. Der Einbruch des Mannes ist dabei stellvertretend zu lesen für ein allgemeines Gefühl in Deutschland, das auch durch Betriebsamkeit nicht zu verdrängen ist.

Botho Strauß, 1944 in Naumburg/Saale geboren, lebt in der Uckermark. Bei Hanser veröffentlichte er neben einer vierbändigen Werkausgabe seiner Stücke zuletzt die Prosabände 'Mikado' (2006), 'Die Unbeholfenen' (Bewußtseinsnovelle, 2007), 'Vom Aufenthalt' (2009), 'Sie/Er' (Erzählungen, 2012), 'Der Aufstand gegen die sekundäre Welt' (Aufsätze, 2012), 'Die Fabeln von der Begegnung' (2013), 'Kongress' (Die Kette der Demütigungen, 2013), 'Allein mit allen' (Gedankenbuch, 2014), 'Herkunft' (2014), 'Oniritti Höhlenbilder' (2016), 'zu oft umsonst gelächelt' (2019) und 'Nicht mehr. Mehr nicht' (Chiffren für sie, 2021).
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Bekker ist tatsächlich zurückgekommen.

Ganz unerwartet ist er auf Zachlers Monatsfest erschienen. Bekker. Großes Hallo. Viele drängen zu ihm, ihrem Mann von draußen, der immer wieder den Mut fand, ohne das Institut zu leben, der es zumindest immer wieder versucht hat. Doch weicht bald einer nach dem anderen bedrückt zur Seite, geradeso wie im Werbestreifen der sich viel versprechende Mann vor der Frau mit Körpergeruch abdreht und die Nase rümpft. Bekker redet kaum etwas und mißt sie alle still mit Blicken, zu denen sich ein gnadenloses Erinnern abzuspielen scheint, die alten Kollegen und auch den Hausherrn, den immer stärker werdenden Chef.

Er kommt mir heute etwas schmächtiger vor als in früheren Jahren, trotz der hohen Gestalt, trotz des breiten Schädels mit dem glatt nach hinten gekämmten Haar und den starken Stirnhökkern. Die Schultern hängen so. Aber das mag an seiner komischen, verworrenen Bekleidung eher liegen als an einem Rutsch der Knochen. Er steckt in einer schlapprigen, wollenen Hausjoppe mit Herzflicken auf den Ellenbogen, darunter ein buntkariertes Hemd und an den Füßen Schuhe so klobig und marschfest, wie man sie wohl in second-hand shops der Bundeswehr erhält. Allein die dunkelblaue Hose mit strengen Bügelfalten, weitem Bein und breitem Aufschlag geht durch, ein etwas sonderbarer Torso von Abendeleganz. Die ganze Erscheinung in diesem gespaltenen, auseinanderstrebenden Aufzug wirkt wechselnd ältlich und gebrochen, dann wieder männlich überragend. Tatsächlich wird Bekker zwischen Anfang und Mitte vierzig sein, ja kaum älter als ich selbst. Wenn sein Gesicht sich nicht bewegt, die Augen dunstig von unten heraufblicken, der Mund halb offensteht, dann gemahnt er, eingefallen, belastet, abgekämpft, an einen alten oder plötzlich alt gewordenen Mann. Sobald er spricht hingegen und es gerne tut, straffen sich die Züge, die Augen ziehen scharf. Mich bemerkt er zunächst überhaupt nicht. Erst als ich schließlich zu ihm gehe und ihn in die Arme fasse, taut er auf, es wird ihm wohler, er geht ein wenig mehr aus sich heraus. Nur kurz erwähnt er Oldenburg und seine Plagen dort während der letzten beiden Jahre. Das liegt zurück, es hat nicht viel erbracht. Die unmittelbare Wirkung des Wiedersehens, die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit, seine lodernde Intelligenz nehmen mich augenblicklich in ihren Bann. Ich vermag ihm nur ungenau, mit verschwimmender Auffassung zuzuhören. Ich denke nur: Unter all dem Winke-Winke von uns anderen ist Bekker wahrhaftig eine schneidende Gebärde. Wenn er je Macht besäße (und sie besitzen wollte!), er könnte mehr Leute an sich ziehen und stärker binden als selbst Zachler, der inzwischen allein durch seine Stellung verführt und glänzt, im Wesen aber kaum noch Feuer hat. Im übrigen macht es mich etwas nervös, daß Bekker mich nicht mehr wie früher einfach Bruno nennt, sondern dauernd Bruno Stöss, also den ganzen Namen zu mir sagt, eine kühle oder halbvertrauliche Anrede, wie sie zuweilen gleichrangige Offiziere oder Berühmtheiten untereinander verwenden.

Bekker und ich, wir haben vor zwölf Jahren gemeinsam in Zachlers Institut angefangen. Es nennt sich etwas hochtrabend Institut, Institut für Nachricht, das IfN, und ist in Wahrheit doch nur eine ganz gewöhnliche, mittelgroße Firma, die statt mit Kugellagern oder Sportartikeln mit Informationen, Trendberichten, Modellplanungen und dergleichen Handel treibt; ein privates Unternehmen mit beschränkter Haftung, einem Besitzer und rund drei Dutzend Angestellten, von denen, mit Ausnahme der Büro- und Buchhaltungskräfte, jeder auf einem besonderen technischen oder wissenschaftlichen Fachgebiet ausgebildet ist. Das Institut vertreibt know how in praktisch allen wichtigen Bereichen der modernen tätigen Gesellschaft. Hier arbeiten wir alle unter einem Dach: der Betriebswirt, der Verwaltungsjurist, der Informatiker, der Urbanist, aber auch der Fachmann für Touristik, der Psychologe, der Sozialpädagoge. Jeder kontrolliert in seinem Fach den Stand der neuesten Entwicklungen, analysiert Nachrichten, fertigt Hintergrundberichte an, die als sogenannte newsletter von unseren Kunden in Wirtschaft und Lehre und den politischen Verbänden bezogen werden. Obwohl es sich doch bloß um ein gebrauchsfertiges Wissen handelt, das wir findig ordnen und makeln, und obwohl unsere Ideenprodukte, die für teures Geld hinausgehen, letztlich niemals auf einer eigenen schöpferischen Leistung beruhen, zögert Zachler nicht, sein Institut gelegentlich ›eine eigentliche, kleine Universität‹ zu nennen und sich und seine Mitarbeiter mit höheren geistigen Wertbegriffen zu schmücken.

Ich verstehe sehr gut, daß Bekker unseren Betrieb immer gehaßt hat, die ganze Art und Weise, wie Zachler ihn leitet und die Macht der Blaupause verkörpert, und auch wie wir anderen, zugegeben: wir alle, nur um Zachler kreisen und sobald wir selbst etwas zu leiten haben, uns vollkommen mit ihm identifizieren. Das muß jemand wie Bekker immer als abstoßend empfunden haben. Nun wird man allerdings berücksichtigen, daß er im Institut bei weitem nicht jene Karriere gemacht hat, die einen, aufsteigend, immer enger und schließlich mit allen Fasern an solch einen Betrieb fesselt. Als junger Mann mit abgebrochenem Jurastudium war er zu Zachler gekommen und hatte sich sogleich mit einer Fülle fruchtbarer Ideen am Ausbau des Instituts beteiligt, galt zeitweilig sogar als der engste Vertraute des Chefs, ohne eigentlich ein genau umgrenztes Amt zu führen. In späteren Jahren dann, als die Vielfalt der Fachbereiche zunahm und häufig ein fein abgestimmter Zusammenhang unter den Experten hergestellt werden mußte, sah man, wie er nach und nach den Boden unter den Füßen verlor, sich um zu vieles und um nichts geduldig und kundig genug kümmerte, wie er allmählich hinter uns auf der Strecke blieb, im Hause unbedeutend wurde. Schließlich hatte er nie einen Sektor selbständig geleitet oder war auch nur einem Gruppenprojekt vorgestanden. Stattdessen ist er mehrmals ausgerissen. Ich glaube, drei- oder viermal hat er versucht, dem Institut den Rücken zu kehren und wieder an der Hochschule Fuß zu fassen. In Dortmund oder Oldenburg, irgendwo bot man ihm dann die Teilnahme an einem Forschungsprogramm oder einer Auftragsstudie an. Zwischenzeiten, in denen er so ziemlich auf dem trockenen saß, gab es indessen auch. Ab und zu mußte er sich als Warentester oder Adressenhändler, als Interviewer und Taxifahrer durchschlagen. Jetzt sieht es also so aus, als stünde er wieder einmal vor den Toren.

Das Institut ist ein Scheißhaus des Geistes und eine Zuchtstätte des Idiotismus. Man gleicht diesem Leuchtpunkt mit seinem züngelndem Schweif, ein Geißeltierchen, der immer die gleiche Bahn fällt auf dem Oszillographen, verschwindet, zur anderen Seite des Schirms wieder auftaucht, wieder die gleiche Bahn fällt und mit einer Differenzbreite von ± 2 mm die Präzision einer Systemverschweißung mißt. Dieser Punkt sein und nichts anderes. Nur Drill und Fakirtum der falschen Weltsicht haben uns beigebracht, eine solche Auszehrung und solche Stiche des Herzens zu erdulden. Je länger ich auf den Schirm starre, um so schärfer sehe ich die verschiedenen Entwicklungsstufen des Menschen zum Idioten heraufziehen vor meinen Augen, sehe ich sie dargestellt von einem grundgewöhnlichen Exemplar der Gattung, welches wahrscheinlich ich selber bin, das immerzu an der hohen Mauer, die das Institut umgibt, entlanggeht, mal flüchtet, mal schleicht, sich duckt und kackt, an der Mauer kratzt und auf Gegenkratze lauscht, sich anlehnt und sich festsaugt am dichten Gestein, die Mauer mit klafternden Armen zu umfassen sucht, sie bespringt wie ein Hund und dann wieder nur geht, geht, geht … Ich muß unablässig an die Vernunft denken, wie ein Idiot, der sie längst verloren hat und ihr trübe nachsinnt. Wir sind Idiot, wenn es hoch kommt. Wenn es hoch kommt, tief gefügig geistesschwach. Hörigkeit und blindes Verfallensein an die ichstarken Naturen, Nachäffung des Vorgesetzten, die Sucht, die Wut, sich Bindung zu verschaffen um jedweden Preis, und sei es um den der Selbstaufgabe, diese Krankheit greift jetzt bei uns in erschreckendem Maße um sich. Einer unserer fähigsten Nachrichtenanalytiker, Krähkamp, hat sich inzwischen restlos in eine Kopie des Chefs verwandelt. Es reicht bis in den Wortschatz und die Tonfälle hinein, bis in die Wahl der Kleidung und der Zigarettenmarke, und selbst die üble Angewohnheit, einem die Sätze aus dem Mund zu nehmen, noch bevor man zuende gesprochen hat, wurde von Zachler, vom Chef beliehen. So geht das reihum. Die Ichschwachen, darunter gebildete, besterzogene Menschen genauso wie grobe Klötze oder Ahnungslose, taumeln halberstickt durch unsere Flure und finden nur dann noch Halt und wieder Puste, wenn sie in den kräftigenden Äther irgendeines Ich-Heroen eintauchen dürfen. Aber auch außerhalb der Firma, unter Freunden und Bekannten, ist es nicht viel anders: jeder sucht in seiner näheren Nachbarschaft nach seinem Führer, seinem Guru, seinem Atemgeber, sei es nun der Chef oder ein Dr. med. oder ein Aikidomeister. In allen Winkeln erhebt sich irgendein Menschenbefehler, ein Ausstrahler, ein kleiner Schamane. Und die bringen es natürlich fertig, bei ihren Hörigen die sogenannten ungeahnten Kräfte freizusetzen und die freigesetzten Kräfte lassen dann in der Regel ein gänzlich entleertes Gefäß zurück. Die Ichstarken werden täglich stärker. Die, denen sie folgen dürfen, Geniegegeschmeiß, gefräßige Wracks, sprechen sie Größe um Größe zu, weil ja niemand eines unsicheren Wackelkopfes Diener sein mag. Mich Normbruder dagegen lassen sie hübsch beiseite stehen. Unter meinen kurzsichtigen Pupillen kann keiner sein Strahlbad nehmen. Wenn ich spreche, denken die Leute gern an etwas anderes … Ach ja, durchschau nur, durchschau die ganze...


Strauß, Botho
Botho Strauß, 1944 in Naumburg/Saale geboren, lebt in der Uckermark. Bei Hanser erschienen neben einer vierbändigen Werkausgabe seiner Stücke zuletzt die Prosabände Mikado (2006), Die Unbeholfenen (Bewußtseinsnovelle, 2007), Vom Aufenthalt (2009), Sie/Er (Erzählungen, 2012), Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (Aufsätze, 2012), Die Fabeln von der Begegnung (2013), Kongress (Die Kette der Demütigungen, 2013), Allein mit allen (Gedankenbuch, 2014), Herkunft (2014) und Oniritti Höhlenbilder (2016).

Botho Strauß wurde 1944 in Naumburg / Saale geboren. In Köln und München studierte er Germanistik, Theatergeschichte und Soziologie. Von 1970 bis 1975 war er Dramaturg an der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin, wo er heute als freier Schriftsteller lebt. Sein schriftstellerisches Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet; 1987 wurde ihm der Jean-Paul-Preis und 1989 der Georg-Büchner-Preis verliehen. Seine Theaterstücke gehören zu den meistgespielten an deutschen Bühnen.



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