Strauß | Römische Tage | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 144 Seiten

Strauß Römische Tage


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-608-19144-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 144 Seiten

ISBN: 978-3-608-19144-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Sommer in Rom

Ein junger Mann kommt in die ewige Stadt, um die Gegenwart abzuschütteln. Er sucht einen eigenen Weg, fühlt fremde Zeiten in sich leben. In Rom erinnert er sich. In Rom verliebt er sich. In Rom trauert er. Er trifft auf außergewöhnliche Menschen und findet seine Aufgabe: Alles wahrnehmen, nichts auslassen. Römische Tage führt zu den vielen Anfängen und Enden unserer Welt und fragt, was wir morgen daraus machen.

Der Erzähler zieht in eine Wohnung schräg gegenüber der Casa di Goethe und die Stadt wird ihm zur Geliebten. Ihre Geschichten spielen vor seinem Auge: Der Mord an Caesar am Largo Argentina ist ihm genauso lebendig wie das Gerangel der Sonnenbrillenverkäufer auf dem Corso. Er taucht ein in eine Welt voller Gegensätze: die Verlorenheit der jungen Italienerinnen und die schwindende Bedeutung der alten Intellektuellen.

Antike und moderne Ideale, leuchtende Paläste, ausgelassene Partys und vergehende Kunst. Einheimische, Migranten, Gläubige, Touristen, Bettler. Zwischendrin Müll, viel Müll. Und immer wieder das Stechen in seiner Brust, das die Ärzte nicht ernst nehmen wollen. Begeistert und melancholisch, leichtfüßig und ergreifend erzählt Simon Strauß, warum Gegenwart nicht ohne Vergangenheit auskommt.

Die Presse über Simon Strauss

'Die Stimme einer Generation'
Maria Wallner, Die Presse
 
'Strauß hat einen schönen
eigenen Tonfall, der das Zeitgenössische in sich trägt, ohne damit
protzen zu wollen, der aber dennoch auch den Sound der Väter kennt, der
aus großen Bildungstiefen kommt und sich dafür auch manchmal selbst
verachtet und dann zu großer Lakonie und schlichter Sinnlichkeit
findet.'
Florian Illies, Die Zeit
 
'Strauß ist eine der
größten feuilletonistischen Begabungen seiner Generation, und so
bildstark und imaginativ er hier schreibt, hat er ein genuin
literarisches Talent.'
Gregor Dotzauer, Tagesspiegel
 
'Die Kraft mit der Simon Strauß sprachliche Bilder zeigt, ist hin- und damit auch mitreißend!'
ZDF aspekte
 
'Simon
Strauß trifft die Realität einer gebildeten, privilegierten, jungen
Generation, durch die sich Schmerz und Zweifel ziehen, obwohl oder
gerade weil es ihr an nichts fehlt'. 
Sara Maria Behbehani, Stuttgarter Zeitung

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AM MORGEN BEIM ARZT GEWESEN. Der Sprechstundenhilfe in holprigem Italienisch vom rasenden Puls erzählt. Im Wartezimmer sitzen alte fiebrige Damen und junge schwarze Männer mit Pockennarben im Gesicht. Statt Lautsprecheransagen gibt es eine Schwester mit Trillerpfeife, die pfeift und dann die Namen aufruft, die sie meist sowieso nicht richtig aussprechen kann, und also lieber noch lauter pfeift und leiser ansagt. Die Finger des Arztes riechen nach Knoblauch, in seinem Bart hängen Reste von Zigarettenasche. Er tastet mich ab an Hals und Beinen, lässt mich tief Atem holen und den Rücken beugen. Vom Fenster hinter seinem überfüllten Schreibtisch sieht man direkt in den Hof eines Gefängnisses, gerade haben die Häftlinge Ausgang und marschieren wie Gänse an den Wärtern vorbei. Wie bei Beckett, denke ich, der aus seiner Pariser Wohnung ja auch auf die Santé geblickt hat, das städtische Gefängnis, in dessen Hof lange Zeit noch eine Guillotine stand. Bei offenem Fenster konnte er in seinem Arbeitszimmer den Tumult der Gefangenen hören und das Geräusch der schweren Türen, wenn sie abends ins Schloss fielen. In Becketts Wohnung fühlte man sich wie im Haus eines Türmers, so beschrieben es später Besucher: »Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt.« Der Arzt gibt mir eine Spritze in den Rücken. Warum, verstehe ich nicht. Aber er lächelt freundlich und klopft mir auf die Schulter. Der Puls wird ruhiger, und ich laufe wieder hinaus in die sengende Hitze. Als ich mit sechzehn in Neuseeland war und nicht schlafen konnte, weil sie mir wieder den ganzen Abend lang den Hitlergruß gezeigt hatten, diese ekelhaften farming boys, mit denen ich in einem Schulhaus wohnte, versuchte ich, ganz nah an die Wand zu rücken und meinen Atem zu hören. Nur wenn man wirklich leise ist und genau hinhört, klappt das. Dann zieht einem auf einmal ein kühler Hauch über das Gesicht und schließt beide Augen. Vielleicht hat die Geschichte ihre eigene Zeit, vielleicht kann man sie gar nicht mit Kalender oder Uhr messen. In Rom jedenfalls zählen nur die Blicke. Vor dem ehemaligen Wohnhaus von Elsa Morante sehe ich die junge Frau von der Piazza Navona wieder. Kein weißes Kleid diesmal, sondern ein kurzer Rock über Leggings. Auf der rechten Wange ein großer Leberfleck. Sie steht an der Eingangstür und sucht ein Schild mit dem Namen der Schriftstellerin. Die Klinke der Haustür ist einem Schmetterling nachempfunden, als sie ihre Suche enttäuscht aufgibt, lässt sie die Finger kurz über seine goldenen Flügel streichen, so als ob sie etwas von der Aura mitnehmen wollte. Dann läuft sie weiter, geht im schlendernden Gang Richtung Tiber. Ich folge ihr, sehe sie über rote Ampeln gehen und nach Tauben treten, auf der Brücke ein Foto von zwei Nonnen machen. In Trastevere isst sie zu Mittag. In einer ehemaligen Leichenhalle, dort, wo früher auf Marmorplatten die Körper aufgeschnitten wurden, lässt sie sich unter surrenden Ventilatoren eine Pizza servieren. Draußen sitzen die Menschen im Schneidersitz auf der Straße, beißen sich Paare ins Ohr. Der Tiber stinkt so sehr, dass niemand ihm nah sein will außer den Ratten. Stattdessen wollen alle ein Eis und auf Treppenstufen sitzen, während vorne ein Archäologiestudent »Wind of Change« singt. Ich stehe am Fenster und beobachte sie unauffällig. Ihren von Katzenkrallen zerkratzten Unterarm hat sie angewinkelt weit vor sich auf den Tisch geschoben, wie um zu zeigen, dass sie gern auf jede Form von Gesellschaft und Gelegenheitsgespräch verzichtet. Als sie aufsteht, zahlt und durch die Tür tritt, sich eine Zigarette anzündet und die Treppen zum Tiber hinuntersteigt, weiß ich: Rom ist gefährlich, die Stadt wird mich verführen. Ich werde nicht wegwollen. Alles, was ich finden und fühlen will, ist hier. Ich habe es lange gesucht, auf deutschen Opernfestspielen und in englischen College-Speisesälen, auf sächsischen Bergwanderungen und vor Technoclubs in Saas-Fee – ich stand als Kind von Tauben umringt auf schönen Plätzen, habe mit Filipinos gekifft im Bauch eines Containerschiffes auf hoher See, ich war der Erste beim Halbmarathon, ein guter Sohn und Schüler, habe frühmorgens den Hund ausgeführt und in der Konzertpause das Programmheft studiert. Gelitten habe ich auch schon, bin ein halbes Jahr gegen die Wand gesprungen, weil ich nicht schlafen konnte, und habe mir um Mitternacht auf dem Marktplatz in den Schritt fassen lassen. Später dann doch noch Französisch gelernt und fast auch noch Kochen. Ich bin mitgelaufen auf den richtigen Demos, habe Freunden die Treue gehalten, mich betrügen lassen und selbst betrogen. Ich bin allein aufs Feld geritten, habe die Schaukel angeschoben und einmal in Bremen auch einen Fallrückzieher gemacht. Aber jetzt bin ich hier, in Rom, und alles scheint endlich endlich. Tag der offenen Tür bei den Maltesern: Ein paar Militärs stehen in der Sonne, eine italienische Gewerkschaftsführerin bleibt dicht am Buffet, der deutsche Fernsehkorrespondent fällt seiner aufgeregten Frau dauernd ins Wort und zupft nervös an seinem Einstecktuch. Zusammenhalt, Europa, offene Zukunft, sagen die Diplomaten und kratzen sich am Kopf. Hin- und hergerissen wenden sie den Hals unschlüssig von rechts nach links wie bei einem Tennismatch. Ein graumelierter Herr um die siebzig, dunkelblauer Maßanzug, helle Tod’s-Schuhe und ein glitzernder Ring am Finger, lehnt etwas abseits an einer Mauer, zusammen mit seinem Sohn. Als ich ihn ansprechen will, zeigt er sofort auf seine Ohren und seinen Mund – taub, soll das heißen. Als ich mich erschrocken umwenden und das Weite suchen will, fasst er mich schnell am Arm und zwinkert mir zu. Sein Sohn übersetzt ihm meine Worte durch ein akrobatisches Lippenspiel, und er antwortet mit eigenen, mir unverständlichen Lauten. In einer Sprache, die etwas ursprünglich Ungeformtes an sich hat. Er, dem das Gehör seit der Geburt fehlt, leitet seit vierzig Jahren ein Nobelhotel an der Spanischen Treppe. Seine Gäste begrüßt er je nach Rang mit einem kurzen oder langen Augenzwinkern. Die Scham, die er einmal empfand, als ihn die anderen im Schulhof an den Ohren zogen und Beschimpfungen hineinbrüllten, ist vergangen. Nur das leichte Wippen auf den Zehen zeugt vielleicht noch davon. Er nutzt sein Schicksal jetzt zu seinen Gunsten, von weit her kommen die Leute und lassen sich von ihm über die Wange streichen. Er darf ja streichen, weil er nichts hört. Seinen ängstlichen Griff nach meinem Arm fühle ich noch lange, höre das kurze Stocken in seinem Atem. Die Furcht des Ausgeschlossenen vor der Ächtung, nachts, wenn er alleine in seinem Zimmer sitzt, die Kniestrümpfe halb ausgezogen. »Es war einmal«, sagen manche seiner Gäste und flüstern heimlich von China. Erzählen ihm von einem verfallenen Luxushotel in den Alpen – glaslose Drehtür, verwaiste Lobby. Die Telefonkabel aus der Wand gerissen, sämtliche Reservierungsscheine auf dem Boden verteilt. Draußen auf der Veranda stehen noch ein paar rostige Stühle, und in der Bar liegen die zerbrochenen Whiskeyflaschen im Staub. Der Hoteldirektor fürchtet dasselbe Schicksal für sein Haus, für seine Stadt. Wie soll er sich zurechtfinden, wenn ihm niemand mehr die Wange hinhält? Zwei Tage lag ich erkältet im Bett, dann bekam ich großen Hunger und lief hinaus zum Bistro gegenüber. Der Pizzaiolo spricht beim Teigausrollen mit seiner Freundin. Sie sitzt auf dem Sofa in einem Vorort von Kalkutta und hat schlecht geträumt. Sie will vertraut mit ihm sprechen, trotz der Entfernung, trotz der verschobenen Zeit. Ihr Kopf ist zu nah am Bildschirm, er hat sein Telefon an die Küchenwand gelehnt und spricht ruhig auf sie ein, während er den Teig für die Touristen belegt. Die Tür steht halb offen, weil es keinen Abzug gibt, aber als sie anfängt, Intimes zu sagen, drückt er die Tür mit dem linken Fuß zu. Auf der Toilette kann man ihn trotzdem hören, ihn und seine lustverspielte Freundin, die ihn dazu bringen will, sich in der Küche auszuziehen und sich mit dem Bauch in den Teig zu legen. Es zieht sie an, ihren zukünftigen Mann bei der Arbeit erregt zu sehen und zu wissen, dass all die Touristen draußen auf ihre »Napoli« warten müssen, weil sie sich das Nachthemd von den Schultern zieht. Mit der Pizza in der Hand steige ich in einen Bus nach Esquilino. Nach einer Theatervorstellung bin ich mit einem Schauspieler verabredet. Vor ein paar Tagen habe ich ihn kennengelernt, weil er in einem Restaurant meine Jacke aus Versehen angezogen und zu schnell auf seinem Roller fortgefahren war. Später kam er zurück und sah mich hilflos am Tresen stehen. Auf der Bühne heute Abend spielt er einen betrogenen Ehemann bei Pirandello, deklamiert laut, gestikuliert übertrieben, während unten im halbgefüllten Zuschauersaal immer wieder die blauen Displaylichter aufglimmen. Rom sei...


Strauß, Simon
Simon Strauß, geboren 1988, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge. Er ist Mitgründer der Gruppe 'Arbeit an Europa'. 2017 promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er lebt in Frankfurt und Berlin, ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschienen von ihm Sieben Nächte (2017),  Römische Tage (2019) und Zu Zweit (2023).

Simon Strauß, geboren 1988, studierte Altertumswissenschaften und Geschichte in Basel, Poitiers und Cambridge. Er ist Mitgründer der Gruppe 'Arbeit an Europa'. 2017 promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er lebt in Frankfurt und Berlin, ist Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschienen von ihm Sieben Nächte (2017),  Römische Tage (2019) und Zu Zweit (2023).



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