Strauß / Kleinschmidt Allein mit allen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24792-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gedankenbuch
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-446-24792-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Botho Strauß ist einer der eigensinnigsten und deshalb prägendsten Schriftsteller der deutschen Literatur. Er hat sich dem Gängigen stets widersetzt und ist dabei der genaueste Beobachter unserer Gesellschaft geworden. Sebastian Kleinschmidt, langjähriger Leiter der Literaturzeitschrift "Sinn und Form", hat ein überraschendes Buch zusammengestellt, das den Geist des Autors, die Art seines Denkens und Fühlens, seine Weltgestimmtheit, ja die Logik seines Herzens umfassend repräsentiert: Freiheit und Geschichte, Mann und Frau, die Menge, das Haus und die Stille. Und besonders die Zuwendung zu Natur und Landschaft eröffnet einen ganz anderen Weg zu einem Werk, das einzig dasteht in der Gegenwart Deutschlands.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
I Poetik der Reflexion:
Formen, Figuren, Gesten
Ich nehme an, daß die meisten Menschen ihr Leben nicht unter ein Thema stellen. Was ihnen zur Hauptsache wird, wechselt mit den Jahren, manchmal mit den Wochen. Sie sind, aufs Ganze gesehen, multithematisch. Das ist die tiefere Verbindung, die dies lasterhafte Schreiben zu ihnen, zum Leben selbst unterhält, das ebenfalls nicht formlos ist, nur weil es weder geschlossene Geschichten noch ein Hauptthema kennt, sondern seine Formen und Figuren in bizarrer Streuung entwirft, wie Eisenspäne sich ordnen im Magnetfeld, und die Späne sind die Bilder und Bewandtnisse, Erinnerungen, Träume, Reflexionen, Idiosynkrasien und Sentimentalitäten! O dies Alles auf einmal! Totum simul! O dies Drunterunddrüber! Es zu ordnen hieße eine lebendige Ordnung zerstören. Einsichten sind nur dann eine Freude, wenn sie flüchtig sind, wenn bedeutungslos viele aufeinanderfolgen, eine Schnur von Reflexen im Fluß. Im Grunde unerklärlich, wie man so lange an immer denselben, an einigen besonderen festhalten konnte – als wäre der Verstand ein Verfestiger oder Fotograf und nicht selber das Wasser. Die Kaskade. Nie sollte es um Erkenntnis gehen, sondern stets nur um Schärfung des gedanklichen Gespürs, ja, man sollte den Verstand von seiner tierischen Wurzel: der Witterung ausstreben lassen. Das emsige Bezügeschaffen ist eine Nachahmung des Nestbaus und der ständigen Höhlenbesserung. Gedanken sind Sternschnuppen, das Hirn nichts als ein Sternschnuppenfangkorb. Die besten stürzen lautlos an unserer Lebenssphäre vorbei. Zufällig erblickt jemand am Himmel der Nacht, wie das lichte Gedachte vorbeischießt und erlischt. Manche Werke und Bilder sind aber Brocken, die beständig unseren Planeten umkreisen. Der Gedanke, der abschweift, abirrt, läßt den Sitz des Magneten, des geheimen Attraktors ahnen. Er bietet daher eine tiefere Orientierung als der, der stur die Linie hält. Kommen und Gehen, Auf und Ab, Wiege und stetes Schwanken. Dieselben Dinge nähern sich, entfernen sich. Dieselben Dinge sind heute ein Geheimnis, morgen eine öde physische Gegebenheit. Das Erkennen schaukelt wie ein leerer Kahn auf den Uferwellen. Du kannst dich nicht dagegen wehren, dreimal in der Minute vom Nichts berührt und vom Leben zurückgerissen zu werden. Mit der Schrift ziehen, wohin sie will, in ein fremdes, unbeschriebenes Land. Sie ist der Schatten, der uns vorausfällt. Ich fülle nur die kleinen Lücken, die meine Lieblingsautoren in ihren Büchern ließen. Was ich schreibe, hätten auch sie noch schreiben können. Dann und wann haben sie einen verspäteten, posthumen Einfall – dafür gibt es mich. Jeder nennt es anders, Sudelhefte, Cahiers, Aufzeichnungen, Gedankenbuch. Bei mir ist es Die Streu, auf der ich schlafe, die ich schlafe. Die einen sind intelligent und reden eine Welt herbei, die sich bereden läßt. Die anderen sind Künstler, machthungrig, potent, blindlings schaffend, radikal, als gäbe es nicht das Nichts. Daneben werden sich einige wenige zu den Schriftfortsetzern zählen, den emsigen Mönchen, die Geschriebenes mit intelligenten Fehlern kopieren, woraus sich möglicherweise, irgendwann, wie bei den Kopierfehlern in der Evolution, eine neue Gattung des Bemerkens entwickelt. So wie das wachsame Lesen bereits die Spezies »Randläufer« hervorbrachte, jenes schillernde Autor-Insekt, das links und rechts der Buchseiten auf dem Weißen krabbelt und dort, was es von den Texten verzehrt und verdaut hat, prompt in schriftlichen Absonderungen hinterläßt. Sein Organismus ist vor allem kommentatorischer Art, und er kann sich nur auf diesen schmalen Rändern der Welt erhalten. Wenn ich den Erfolg meiner Autor-Tätigkeit dem eines Handzettelverteilers in der Antarktis verglich, so war mir wohl nicht gegenwärtig, daß auch dort bereits Massenexpeditionen unterwegs sind. Dennoch bietet so ein kleines Buch, richtig abgefaßt, heute vielleicht die letzte Chance, mit dem ein oder anderen Menschen in Verbindung zu treten, ohne mit ihm kommunizieren zu müssen. Ein Fragment des Epikur, das Seneca in seinen 7. Brief an Lucilius einfügt, mag hierfür als Motto dienen: Haec ego non multis, sed tibi: satis enim magnum alter alteri theatrum sumus. Das ist nicht für die vielen, sondern nur für dich. Wir sind einer dem anderen großes Theater genug. Nachdenklich also – dem anderen nach, der vor mir dachte. Man sucht den Anschluß an die »Rede des Vorgängers«, Hypolepsis, Wiederaufnahme des roten Fadens, Anknüpfung. Man zeigt immer weniger Neigung, dazwischenzureden, sich in laufende Sprache einzuschalten. Als Autor von Sätzen bleibt mir keine Wahl – ich muß hypoleptisch, d. i. anknüpfend sein. Episch wäre ich ein Experimentierer gewesen. Anknüpfen aber war mein Handwerk. Seit er überhaupt denken kann, ist er bemüht, sein Denken zu verlangsamen, ihm gewisse Manieren beizubringen, es zu Ruhe und Ordnung anzuhalten. Ohne Erfolg. Es ist von Grund auf liederlich; nicht unbegabt, doch zu nichts nütze. Es ist flüchtig und launenhaft wie die Pubertät eines verwöhnten Sprößlings aus begütertem Haus. Es sträubt sich beharrlich, irgend etwas geduldig zu prüfen und zu wenden, wirklich zu begreifen und zu behalten; es möchte in einem unentwegten Zustand der Erregung bleiben, in dem ein paar hingesprengte Gedanken einen gloriosen Erkenntnisreichtum vorgaukeln. Auch daß er seine Gedanken kaum je zu Ende denkt, sondern auf einen geheimen Ergänzer vertraut, dem sich mühelos fügt, was er für ihn, wie Futter, lose ausstreut. Er bemerkte stets Blässe und ›körnige Rückstände‹ bei Leuten, die sich derart entschieden gaben. Er selbst konnte es nicht mehr. Es versagte ihm die Position in den Knien. Vielleicht waren es Anzeichen einer tieferen Schwächung, und vielleicht war diese gemeint, wenn er angab, unter ›zunehmender Synchronizität‹ zu leiden. Weitgehende Auflösung von Gegensätzen, auch des sogenannten persönlichen Geschmacks. Das Ziel mochte sein: Verschwommenheit neu zu gewinnen, ähnlich der, die das Kind erlebt, bevor ihm Zeit, Ding, Gesicht geschieden sind. Oder wie üppige, ziellose Vermehrung von Empathie, von Identifikationsquellen überschwemmt … Wer wäre er, wenn nur Entsprechung, keinmal Gegensatz? Er war jedenfalls bereit, der ›Schwächung‹ nichts entgegenzusetzen – außer seinem empfindlichsten Bemerken. Wie Forßmann, der Arzt, einst seinen Katheter, so wollte er nun ebenfalls im Selbstversuch die Sonde des Gedankens einführen ins Herz der Unvernunft. Sosehr man sich auch übertreffen möchte, Zeit und Markt, oder pathetischer gesagt: das Schicksal seiner Gegenwart scheinen es einem Schriftsteller zu verwehren, zur reinen Gegenstandslosigkeit, zur freien themenlosen Szenerie, zur entgrenzten Impression, wie sie ihm als letzte und höchste künstlerische Ungezwungenheit vielleicht vorschwebt, also zum Verschwimmen sämtlicher Konturen zu gelangen. Ein für seine fortgeschrittenen Jahre seltsam unempfängliches Bewußtsein hatte zuletzt eine Unruhe gestiftet, hatte ein Entgegenfiebern immer feiner und nervöser werden lassen, ohne daß er im geringsten hätte angeben können: wem denn entgegen? Das Schreiben selbst, das immer vorwärtsstrebt, zog ihn mit sich. In diesem Sog hatten sich Fühlen und Sehen in ihren feinsten Elementen so geordnet, daß sie unwiderstehlich zu einem namenlosen Ziel strebten, zu einem aus reiner Anziehungsenergie bestehenden Ziel. Man muß in dem Bewußtsein leben, daß man den Reichtum und die Verbreitung von hochrangiger Literatur auf der ganzen Welt als Zeitgenosse niemals einschätzen kann. Der Zugriff auf diesen gewaltigen Speicher bleibt randomisiert, die Entdeckungen werden vom Zufall gesteuert. Kein Ranking und kein Dogma ordnet die Menge. Es lohnt auch nicht, gegen die sogenannte Unübersichtlichkeit vorzugehen, es handelt sich in Wahrheit um Fülle und Strom. Sich zurechtzufinden ist hier ein falsches Verlangen. Eintauchen und sich davontragen lassen, darin aufgehen und sich erfüllen, das wäre eher die angemessene Erfahrung. Zuweilen empfindet man sich gut sortiert und in beschwingter Ordnung. Alles fachlich bestens unterteilt, leicht verfügbar, jede Sparte präzis von der anderen getrennt, dort steckt Vergil, hier die Nanotechnik. Und in diesem Wohlstand des Sortiertseins kippt plötzlich ein Wozu? uns um, und alle Fächer kippen mit uns um – die ganze schöne Wissensharmonie endet mit einem Schlag in verworrenem Schutt. Das Netz trägt in sich das größte Durcheinander, in das die Welt versetzt werden könnte. Ein Durcheinander, in dem nichts mehr zu unterscheiden ist, weder wahr von falsch, noch Faktum von Fiktion, noch heute von gestern und morgen. Als wäre auf trivialste Weise das Werk von Borges ausgebeutet worden von Millionen Zernagern des Alphabets, die hier und da noch Twitter, Blogger etc. heißen. Immer ist es das Eine und Ganze, das falsche Alles, das in jeder Sekunde die Gefahr birgt, die Welt in heillose Verwirrung zu stürzen. Jedes Wissen und Gesetz muß nach Vico einmal ernste Poesie gewesen sein. Und ›zersetzt‹ sich wieder zu solcher, möchte man hinzufügen. Um diese Zersetzung zu beschleunigen, gibt es uns Würmer und Mikroben, die Fortschreiber, deren ›fehlerhafte‹ Überlieferung das unpoetische Wissen ihrer Zeit verdirbt, zu Faulstoff wandelt und wieder zur Krume einer poesia seriosa. Ich dachte: es wächst und wächst, es strebt noch inniger ineinander. Ich ahnte nicht, daß alles, was ich dachte, immerzu wuchs und zusammenwuchs und mit der...