E-Book, Deutsch
Stranger Museum der Mörder und Lebensretter
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7517-7445-1
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. »Meisterhaft verbindet Stranger historische Ereignisse und Familiengeschichten.« ARD ttt
E-Book, Deutsch
ISBN: 978-3-7517-7445-1
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Norwegen 1942. Rakel und Jacob Feldmann wagen den mutigen Versuch, vor dem nationalsozialistischen Regime nach Schweden zu fliehen. Doch kurz vor dem Ziel werden sie von ihren eigenen Fluchthelfern ermordet. Nur wenige Wochen darauf gelingt einer anderen jüdischen Familie die Flucht; sie übersteht den Krieg im Exil. Zwei Generationen später entdeckt der Autor Simon Stranger, dass die Schicksale dieser beiden Familien eng miteinander verbunden sind - eine Erkenntnis, die auch seine eigene Familiengeschichte in ein völlig neues Licht rückt.
Eindringlich schildert Stranger, wie eng Gut und Böse oft beieinanderliegen und wozu Menschen fähig sind, wenn das eigene Leben bedroht ist. Ein kluger, bewegender Roman von trauriger Aktualität.
»Ein Buch wie ein Stolperstein« Frankfurter Rundschau über Vergesst unsere Namen nicht
Simon Stranger, geboren 1976, hat seit 2003 mehrere Romane, Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Sein Roman VERGESST UNSERE NAMEN NICHT (2018) erhielt den norwegischen Buchhandelspreis und den Riksmål-Preis und erschien in über zwanzig Ländern. MUSEUM DER MÖRDER UND LEBENSRETTER war für den norwegischen Buchhandelspreis 2023 nominiert. Simon Stranger lebt mit seiner Familie in Oslo.
Weitere Infos & Material
EIN PORTRÄT DER FAMILIE GLOTT, mit Vettern und Cousinen, aufgenommen im Einfamilienhaus von Moritz Glott Anfang der Dreißigerjahre. Ellen und ihre Zwillingsschwester Grete tragen identische Kleider mit weißem Kragen, sehen sich so ähnlich, dass man unmöglich sagen kann, wer von ihnen wer ist.
EINE ABITURIENTENMÜTZE AUS ROTEM STOFF, der Name Ellen mit weißer Farbe auf die dunkle Krempe geschrieben.
DIE HISTORISCHE WETTERVORHERSAGE FÜR MITTE SEPTEMBER 1942, handschriftlich notiert und fünfzig Jahre lang in den Archiven des Meteorologischen Instituts aufbewahrt, bevor sie digitalisiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
Die notierten Wetterdaten zeigen, dass der Himmel in jenen Tagen über Oslo seine Schleusen öffnete und die Straßen zu kleinen Flüssen, die Treppen zu kleinen Wasserfällen und die Wege unter den Brücken zu kleinen Seen verwandelte.
Jedes Mal, wenn der Himmel sich so öffnet, läuft meine Tochter ans Fenster, vollkommen aufgeregt, dann eilt sie hinaus in den Garten. Während wir anderen im Haus bleiben, amüsiert und verwundert, legt sich meine Tochter auf die Terrasse, streckt die Arme zur Seite aus und lässt die Regentropfen dunkle Flecken auf ihren Kleidern bilden.
Wo war Ellen in diesen Septembertagen, als der Sicherheitsdienst an ausgewählte Adressen fuhr, mit dem Befehl, die Eigenheime und die Geschäfte wohlhabender Juden zu beschlagnahmen?
An einer Stelle im Talmud, dem heiligen Buch der Juden, steht, dass wir die Welt nicht so sehen, wie sie ist, sondern so, wie wir sind. Unsere Vorstellungen und Erfahrungen, unsere Vorurteile und Erwartungen färben das, was wir sehen, und bestimmen, worauf wir Wert legen und was unserer Aufmerksamkeit entgeht. So läuft auch jeder Versuch, die weißen Flecken in dieser Erzählung auszufüllen, und jeder Versuch, eine Brücke heraufzubeschwören zwischen den Bruchstücken, von denen ich weiß, und jenen, die verschwiegen worden sind. Den Erinnerungen, die zu schmerzhaft gewesen sein mussten, um sie teilen zu können.
Ich stelle mir das Villenviertel vor, in dem Ellen lebte, mit weißen Lattenzäunen, hinter denen krumme Obstbäume in den Gärten wuchsen.
Dort kommt sie gerade von ihrer Klavierstunde nach Hause, den Kopf unter dem Regenschirm, ihre patschnassen Stiefeletten gurgeln und quietschen mit jedem Schritt.
Dreimal die Woche geht sie zu Rieflings Klavierinstitut, um ihre Technik zu verbessern und der Rückmeldung der Pädagogin zu lauschen. An den anderen Tagen übt sie zu Hause an ihrem Flügel. Achtet darauf, sich vor jeder Übung aufzuwärmen, lässt niemals die Tonleiterübungen schleifen, verpasst niemals das Dehnen der Unterarme und Finger im Anschluss, weil es bei ihrem Vorhaben, als Konzertpianistin zu leben, nicht nur darum geht, anspruchsvolle und emotionale Kompositionen vorzuführen, sondern auch die physischen Voraussetzungen zu erfüllen, die dafür vonnöten sind. Sich bloß keine Sehnenscheidenentzündungen einzuhandeln. Geschmeidige und starke Finger zu haben. Mehr als alles andere geht es in einem Leben als Pianistin darum, die raschen Phrasierungen einer Fuge von Bach oder die großen Sprünge in einer Etüde von Chopin ohne Verzögerungen zu spielen, ohne den Anflug eines Fehlers, mit derselben Leichtigkeit und Eleganz, die man auch von einem Turner erwartet. So hat sie es von Kindesbeinen an geübt. Wenngleich es immer noch ein weiter Weg bis nach oben zu den Klaviervirtuosen ist, die sie wirklich bewundert, weiß Ellen ganz genau, dass sie Talent hat und dass sie es in sich trägt, als Pianistin Karriere zu machen. Dieser Weg beginnt mit ihrem Debütkonzert im Frühjahr. Obwohl draußen der Weltkrieg tobt, und obwohl Norwegen besetzt ist, verlaufen die jährlichen Konzerte und Talentwettbewerbe wie geplant. Im kommenden Frühjahr wird sie sich an den Flügel in der großen Aula setzen dürfen. Auf dem Pianohocker unter Munchs strahlender Sonne, so hat sie es sich vorgestellt, immer und immer wieder, und den Augenblick herbeigesehnt, an dem sie endlich aus ihrer Rolle als Zuschauerin heraustritt und stattdessen selbst herbeigeklatscht wird. Diejenige zu sein, auf die die Blicke und Erwartungen aller gerichtet sind, und nur noch die Nervosität und das Lampenfieber überwinden zu müssen, damit sie ihnen zeigen kann, was sie gelernt hat.
Die achtzehn Jahre alte Ellen geht den Weg entlang, ihre quietschenden Stiefeletten klatschen auf die Pflastersteine. Schon bei der Einfahrt kann sie erkennen, dass etwas geschehen sein muss, denn dort stehen zwei schwarze Wagen von der Tabakfabrik. Die Großeltern sind wohl vorbeigekommen, aber die Familie benutzt nie zwei Autos zur selben Zeit, es sei denn, sie machen einen längeren Ausflug. Und warum um alles in der Welt sollten sie jetzt, bei diesem Unwetter, einen Ausflug machen wollen? Sie eilt durch die Pforte, spürt den knirschenden Kies unter den Füßen und schüttelt, sobald sie unter dem Dachvorsprung steht, das Wasser vom Regenschirm.
Sie öffnet die Eichentür. In der Eingangshalle hat sich die gesamte Familie versammelt: Großvater Moritz und Großmutter Rosa Olivia, Ellens Mutter, Tante Solveig und die kleine Cousine Astrid. Auch der Vater Thorleif ist bereits von der Arbeit gekommen, obwohl er sonst niemals so früh zu Hause ist. Ihr Chauffeur steht neben ihnen, die Uniformmütze in den Händen, in den Gesichtern der Familie liegt ein fremder, ernster Ausdruck.
»Wir haben versucht, dich im Institut anzurufen«, sagt die Mutter. »Aber du warst gerade losgegangen.«
»Die Deutschen haben unser Haus beschlagnahmt«, sagt ihr Großvater und erzählt, dass vor anderthalb Stunden plötzlich drei deutsche Offiziere mit einem Schreiben der Behörden vor ihrem Haus in Nordstrand standen. Die Dokumente hielten fest, dass die Besatzungsmacht von jetzt an die rechtmäßige Eigentümerin sowohl des Wohnhauses als auch des Inventars sei. Möbel, Kunst, Kleider, Schmuck, eingekochte Zwetschgen, Geschirr, Gläser, Teppiche. Alles gehörte jetzt ihnen.
Ellen möchte ihn fragen, wie die Behörden ihren Beschluss begründen, reißt sich aber zusammen, bevor ihr die Worte über die Lippen kommen, denn die Antwort ist natürlich der Teil ihrer Identität, der gerade schlummert, den sie verborgen hält. Weil er Jude ist. Obwohl es bereits fünfzig Jahre her ist, dass Großvater Moritz norwegischer Staatsbürger wurde, hat er das Recht auf sein Eigentum verloren.
Der Gedanke schickt nervöse Zuckungen durch Ellens Inneres, sie senkt den Blick und starrt hinunter auf das Teppichmuster, denn jetzt versteht sie, warum die Großeltern einen Hof im Gudbrands-Tal kauften, als der Krieg ausbrach. Jetzt versteht sie, warum der Großvater so vorausschauend war, sämtliche Anteile an der Tabakfabrik an andere Familienmitglieder zu überführen, wie beispielsweise an ihren Vater. Weil er damals bereits wusste, dass ihm alles aus den Händen gerissen würde.
*
Wie alt warst du, Ellen, als dir bewusst wurde, dass du ein Erbe mit dir herumtrugst, das dich von den meisten anderen Schülern unterschied? Wie alt musstest du werden, ehe du verstandest, dass die Familien, die deine Eltern als die Dworskys und die Kleins kannten, einen Hintergrund hatten, den viele verdächtig und abstoßend fanden? Dass es etwas in dir gab, das anders war? Ein Unterschied, der durch Gegenstände und Bräuche sichtbar gemacht wurde. Wie etwa den siebenarmigen Leuchter bei deinen Großeltern, oder die Geschäfte, die ihr normalerweise besuchtet, die von Juden betrieben wurden, oder die paar Worte, die du auf Jiddisch sagen konntest. Die Freude, auf einem Jugendball für den jüdischen Nachwuchs tanzen zu dürfen, wurde von der spürbaren Furcht nach den Novemberpogromen 1938 und von den ständig gehässigeren und judenfeindlichen Reden von Quisling zerstört. Bald darauf kam der Krieg ins Land, und bald versteckten du und deine Familie ihr jüdisches Erbe, aus Furcht vor der Verachtung oder der Wut, die es bei anderen auslösen konnte.
Ich versuche mir den Abschied vorzustellen. Ein Chaos aus Umarmungen, feuchten Augen und Glückwünschen, bevor die Großeltern wieder hinaus zum Auto eilen und davonfahren. Ich sehe vor mir, wie du ein paar Sekunden stehen bleibst, so erschüttert, wie du es nicht mehr warst, seit der Fliegeralarm über der Stadt heulte, als der Krieg ausbrach.
DREI TROMPETENGLEICHE SIRENENTÖNE als Warnung vor einem Fliegerangriff. Wie in dem griechischen Mythos über die Sirenen, die Seeleute mit ihrem hypnotisierenden Gesang in den Tod zogen, holte der heulende Fliegeralarm die Familie am Morgen des 9. April 1940 aus den Betten und trieb sie nach draußen auf die Straße, wo immer mehr Familien zusammenströmten, alle mit demselben verwirrten Gesichtsausdruck und denselben fragenden Blicken: Geschieht das hier gerade wirklich? Ist der Krieg tatsächlich auch bei uns angekommen?
EINE SCHWARZWEISSFOTOGRAFIE der Osloer Universitätsaula mitten im Zentrum der Stadt, April 1940, an ihrer Fassade Banner mit Hakenkreuzen auf beiden Seiten der Eingangssäulen, der Universitätsplatz gefüllt mit begeisterten Mitgliedern der norwegischen Nazipartei »Nasjonal Samling«, Nationale Vereinigung. Junge Menschen in Uniformen, alle Gesichter in dieselbe Richtung gewandt, strahlend wie Sonnenblumen auf einem Acker, wie sie den Anblick von Quisling am Rednerpult in sich aufsaugen und sich von seiner pathetischen Rede mitreißen lassen, über die Prüfungen, die Norwegen bevorständen. Über die Notwendigkeit, die Bolschewiken auszumerzen, das Weltjudentum auszuradieren und den Weg in eine neue Zeit zu bahnen.
EIN PORTRÄT DES SS-OBERFÜHRERS HANS LORITZ, mit dem Totenkopf auf der...