Aufgaben der Psychoanalyse in apokalyptischen Zeiten
E-Book, Deutsch, 196 Seiten
ISBN: 978-3-608-12429-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Dr. Timo Storck lehrt Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin. Er ist Diplom-Psychologe, psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker in eigener Praxis sowie Herausgeber mehrerer Buchreihen und Fachzeitschriften, z. B. der PSYCHE.
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Kapitel 2
Zugänge zu Krisenzuständen und krisenhaften Prozessen
Im folgenden Kapitel soll es darum gehen, einige methodische Grundlagen zu klären bzw. zu konkretisieren. Das betrifft die Vermittlung psychoanalytischer Theorie und den Transfer der psychoanalytischen Methode auf das Feld der Gesellschaft ebenso wie die Betrachtung von Zeitlichkeit und Zeiterleben als zentrale Untersuchungskategorie.
2.1
Die Psychoanalyse ist zwar nicht darauf beschränkt, eine klinische Behandlungsmethode zu sein (sondern schließt, wie erwähnt, auch eine allgemeine Theorie des Psychischen und eine Methodologie zur Untersuchung psychischer Phänomene ein), aber sie entsteht aus diesem Bereich. Freud entwickelt sie aus den Erfahrungen in seiner nervenärztlichen Praxis. Dort stellt er fest, dass und inwiefern die Psychoanalyse »nichts anderes« ist »als ein Austausch von Worten« (Freud 1916/17, S. 9). Das ist ja rätselhaft genug: Wie kann sich etwas verändern, im Hinblick auf individuelles psychisches und psychosomatisches Leiden, indem jemand sich in Worten an ein Gegenüber richtet? Es ist Josef Breuers Patientin Anna O., die die Psychoanalyse als eine »talking cure« ausweist, zunächst als ein »chimney sweeping«, da im ganz eigentlichen Sinn etwas »aberzählt« wird (Breuer, 1895).
Auch wenn einer Figur der bloß kathartischen Wirkung nicht in aller Ausschließlichkeit gefolgt werden muss, so bleibt doch für die Psychoanalyse als Behandlungsmethode zentral, dass eine Veränderung durch das Gespräch erfolgen kann. Es lohnt sich, das in zeitgenössischer Perspektive genauer zu untersuchen (wenngleich beachtet werden muss, dass sich dies in unterschiedlichen psychoanalytischen/psychodynamischen Schulrichtungen durchaus unterschiedlich beschreiben lässt).
2.1.1
Die Psychoanalyse wird von Freud (1919a, S. 185) als Analyse, als eine Zerlegung bestimmt. Das hat einen deutlichen Bezug zur Helmholtz-Schule des mittleren 19. Jahrhunderts und zu dem durch sie vertretenen Anspruch, dass sich psychische Prozesse analog zu einer physikalisch-chemischen Analyse beschreiben lassen sollen, das heißt in einer Rückführung auf ihre elementaren Bestandteile oder Gesetze, nach denen etwas zustande kommt. Auch Freud geht es darum, psychische Phänomene in ihre Bestandteile zu zerlegen, sie also derart zu analysieren, dass gesagt werden kann, was, dem Sichtbaren oder eben bewusst Wahrnehmbaren unterliegend, die einzelnen (Trieb-)Elemente sind, die ein psychisches Phänomen zustande kommen lassen.
Die Analyse (statt einer Synthese) zerlegt etwas in seine Bestandteile und untersucht seine Zusammensetzung und sein Entstandensein. Das kann Symptome einer psychischen Erkrankung betreffen oder zum Beispiel auch das Narrativ, das jemand sich in Bezug auf sich selbst und andere bildet. Die Synthese hingegen, so Freud (1919a), kommt dem »Ich des Kranken« zu, wird von diesem geleistet – die Aufgabe des Analytikers oder der Analytikerin besteht »nur« darin, etwas zu analysieren und damit diese Art der (symptomatischen, dysfunktionalen) Konfliktlösung psychisch unbrauchbar zu machen. Da dies, angstauslösend, wie es auch ist, im Rahmen der analytischen Beziehung geschieht, ist es aushaltbar und der Weg in die Offenheit zukünftiger anderer Konfliktlösungen kann gefunden werden. Hier ist kurz zu erwähnen, dass das Konfliktmodell zur Erklärung psychischer Störungen und deren Entstandensein nur eines unter mehreren ist. Es gibt Fälle analytischer Praxis, in denen es nicht angezeigt ist, darauf zu setzen, dass das Ich des Kranken schon zu neuen, eigenen und funktionstüchtigeren Synthesen kommen wird (Kap.?3.2 für die Störungsmodelle), so dass Anpassungen der sogenannten Standardtechnik erforderlich sind.
2.1.2
Nun kann gesagt werden, dass das wohl wichtigste Element für eine solche Analyse als Zerlegung, die etwas auf seine Bestandteile und sein Entstandensein zurückzuführen versucht, die analytische Beziehung ist. Üblicherweise unterscheidet man hinsichtlich der interpersonellen Beziehung in einer Psychotherapie drei Betrachtungsebenen (vgl. z. B. Gelso, 2014): die Arbeitsbeziehung (für die entscheidend ist, dass es eine bestimmte Rollenverteilung gibt, Behandlungsziele und Verständigungen darüber sowie einen äußeren Rahmen u. a.), die »reale« Beziehung (also der Umstand, dass sich hier zwei Personen mit bestimmten Merkmalen begegnen, die einander sympathisch oder nicht, ähnlicher oder weniger ähnlich sein können) und die Übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehung.
Unter Übertragung versteht man, in ganz allgemeinem Sinn, die Reinszenierung verinnerlichter Beziehungsmuster in aktuellen Beziehungen (vgl. Storck, 2020a). Diese Phänomene tauchen aufgrund des spezifischen Settings in Psychotherapien besonders häufig, deutlich und intensiv auf und das Vorgehen in einer psychoanalytischen Behandlung fördert sie. Dabei sollte man sich diese Art der Reinszenierung oder Wiederholung nicht schematisch vorstellen und auch nicht als etwas, das dann einem Patienten oder einer Patientin schlicht erläutert würde, damit es in der Folge verändert werden kann.
Lacan (1964, S. 244) geht davon aus, dass in den Augen eines Patienten oder einer Patientin, der oder die eine Psychoanalyse beginnt, der Analytiker oder die Analytikerin ein »sujet supposé savoir« ist, ein Objekt, dem Wissen unterstellt wird. Das bedeutet, dass jemand, der sich in Analyse begibt, zunächst den Analytiker oder die Analytiker als eine Person erlebt, die Wissen zur Verfügung stellen kann – beispielsweise über das Wesen psychischer Erkrankungen und geeignete Wege, diese zu bewältigen. Daran ist nichts Verkehrtes und in der Tat gibt es ja auch ein professionelles therapeutisches Angebot, dass genau deshalb besteht und ethisch vertretbar ist, weil die therapierende Person »sich damit auskennt«. Auf der Ebene der Übertragung hingegen stellt sich diese Dynamik anders dar: Hier geht es darum, die Bedeutung dieses »unterstellten Wissens« zu explorieren.
Denn die Zuschreibung/Unterstellung, ein wissendes Gegenüber zu sein, ist seitens des Analytikers oder der Analytikerin nicht zu übernehmen, und das ist entscheidend für die analytische Haltung. Gemeint ist damit, dass Erwartungen an den Analytiker oder die Analytikerin bestehen, ein Experte oder eine Expertin zu sein und aus dieser Position heraus eine Behandlung durchzuführen, etwa in Anleitungen. Stattdessen aber ist Expertentum gerade nicht angezeigt, sondern das Angebot einer analytischen Beziehung anzustreben, in die sich unterschiedliche Beziehungsmuster hinein entwerfen können. Erst dann zeigt sich etwas von der (abgewehrten) innerlichen Welt der Repräsentanzen von Selbst und Objekt. Nur auf diese Weise können individuelle Ängste ja wirklich psychisch bewältigbar werden, nicht dadurch, dass jemandem ein starker Schutz an die Seite gestellt wird (natürlich hilft dieser, aber nicht dabei, auf der Basis struktureller psychischer Veränderungen eigene Gestaltungsmöglichkeiten zu etablieren).
Die Erwartung, es mit einem Experten oder einer Expertin zu tun zu haben, ist auf der Ebene des Arbeitsbündnisses einer Therapie nicht gänzlich verkehrt, immerhin handelt es sich um eine asymmetrische professionelle Beziehung, in der die eine Person zu Recht davon ausgeht, dass die andere Person das Vermögen hat, hilfreich zu sein. Aber die beschriebene Erwartung ist zugleich auch als eine Übertragung anzusehen. Davon ist die Gegenübertragung, als Beantwortung der Übertragung in Gefühlen, Fantasien, Gedanken, u. U. auch leiblichen Reaktionen seitens des Analytikers oder der Analytikerin, nicht zu trennen. Das Zusammenspiel von Übertragung und Gegenübertragung und deren Reflexion liefert eine wichtige Grundlage dafür, dasjenige in den Blick zu nehmen, das dem bewussten Erleben im Sinne der Introspektion noch nicht zugänglich ist (meist weil es mit unaushaltbar erscheinenden Affekten, die es mobilisieren würde, abgewehrt wird).
Die Reinszenierung von verinnerlichten Beziehungsmustern auf Seiten des Patienten oder der Patientin wird unter dem Gesichtspunkt des Übertragungskonzepts betrachtet. Wie erwähnt, dienen zentrale Elemente des psychoanalytischen »Arrangements« der Vertiefung dieser Prozesse: der Umstand, dass ein Patient oder eine Patientin auf der Couch liegt, während der Analytiker bzw. die Analytikerin im Sessel hinter dem Kopfende sitzt; der Umstand, dass drei bis vier oder mehr Behandlungsstunden in einer Woche stattfinden; die allgemeine psychoanalytische Haltung.