E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Die Macht der Seelen-Serie
Stirling Finding Sky Die Macht der Seelen
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-423-41938-3
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Die Macht der Seelen-Serie
ISBN: 978-3-423-41938-3
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Joss Stirling studierte Anglistik in Cambridge und arbeitete als Diplomatin in Polen. Mittlerweile schreibt sie sehr erfolgreich Romane für Kinder und Jugendliche. Mit >Finding Sky<, dem ersten Band der >Macht der Seelen<-Trilogie, war sie 2013 von der Jugendjury für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Sie lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Oxford.
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Kapitel 2
Ich erwachte aus meinem altbekannten Albtraum, als das Auto anhielt und der Motor verstummte. Meinen Kopf hatte ich auf das Kissen gepresst und war noch benommen vom Schlaf, sodass es eine Weile dauerte, bis ich wieder wusste, wo ich war. Nicht an jener Autobahnraststätte, sondern in Colorado bei meinen Eltern. Beim Weiterziehen. Beim Umziehen.
»Und, was sagst du?« Simon, wie Dad lieber genannt wurde, stieg aus dem klapprigen Ford aus, den er in Denver gekauft hatte, und zeigte mit einer theatralischen Geste auf das Haus. Sein grau gesträhnter, brauner Zopf löste sich aus dem Haargummi, so schwungvoll war die Begeisterung, mit der er uns unser neues Heim präsentierte. Spitzdach, Schindelwände und schmutzige Fenster – es sah nicht sonderlich einladend aus. Halb erwartete ich, dass die Adams Family zur Eingangstür hinausschwanken würde. Ich setzte mich aufrecht hin und rieb mir die Augen, um die bohrende Angst zu vertreiben, die nach einem solchen Traum stets bei mir nachwirkte.
»Oh, Liebling, es ist wunderschön!« Sally, meine Mutter, ließ sich durch nichts so schnell entmutigen – Simon nannte sie immer scherzhaft einen Terrier auf der Jagd nach dem Glück: Wenn sie ein Zipfelchen davon zu fassen kriegte, schlug sie ihre Zähne hinein und ließ einfach nicht mehr los. Sally stieg aus dem Auto aus. Ich folgte ihr ziemlich schwerfällig, wobei ich nicht wusste, ob das am Jetlag oder an meinem Traum lag. Die Worte, die mir beim Anblick des Hauses in den Kopf schossen, waren »düster«, »Bruchbude« und »runtergekommen«, Sallys Vokabular unterschied sich von meinem gewaltig. »Ich glaube, das wird ganz toll. Seht euch doch nur mal diese Fensterläden an – das müssen noch die originalen sein. Und diese Veranda! Ich habe mich schon immer auf genau so einer Veranda im Schaukelstuhl sitzen und den Sonnenuntergang genießen sehen.« Ihre braunen Augen strahlten vor Vorfreude und ihre weichen Locken wippten bei jeder Stufe, die sie hinaufstieg.
Ich war nun schon seit meinem zehnten Lebensjahr bei ihnen und hatte mich mittlerweile damit abgefunden, dass meine Eltern beide eine Schraube locker hatten. Sie lebten in ihrer eigenen kleinen Fantasiewelt, in der alte Bruchbuden »malerisch« und Schimmelbefall »stimmungsvoll« waren. Im Gegensatz zu Sally sah ich mich immer in einem ultramodernen Haus auf einem Stuhl sitzen, der kein Paradies für Holzwürmer war, und in einem Schlafzimmer, an dessen Fensterscheiben die Eisblumen nicht innen wuchsen.
Aber mal abgesehen von dem Haus: Die Berge dahinter waren atemberaubend, imposant hoch ragten sie in den klaren Herbsthimmel hinein, ein Hauch von Weiß auf den Gipfeln. Wie eine zu Stein gewordene Flutwelle am Horizont, die gerade noch rechtzeitig erstarrt war, bevor sie über uns zusammenschlug. Die felsigen Hänge schimmerten rosa im späten Nachmittagslicht und dort, wo sich lange Schatten auf die Schneefelder legten, zeigten sie sich schieferblau. Die waldbestandenen Seiten waren bereits vom Herbstgold der Espen durchwirkt, die sich leuchtend gegen die dunklen Douglas-Tannen abzeichneten. Ich konnte eine Seilbahn erkennen und die kahl geschlagenen Schneisen der steilen Skipisten.
Das mussten die High Rockys sein, von denen ich gelesen hatte, nachdem mir meine Eltern eröffneten, wir würden von Richmond-Upon-Thames, England, nach Colorado in den USA, genauer gesagt in eine kleine Stadt namens Wrickenridge ziehen. Ihnen war dort ein einjähriges Stipendium als Artists-in-Residence in einem neuen Künstlerhaus angeboten worden. Ein ortsansässiger Multimillionär und Bewunderer ihrer Arbeiten hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass der Skiort westlich von Denver dringend eine Kulturspritze benötigte – und meine Eltern, Sally und Simon, sollten nun die Injektionslösung sein.
Als mir meine Eltern die ›frohe‹ Botschaft überbrachten, sah ich mir die Website der Stadt an und erfuhr, dass Wrickenridge für seine jährlich fallende Schneehöhe von 750 cm bekannt war und mehr auch nicht. Dort wäre also Skifahren angesagt – allerdings hatten wir uns die Klassenfahrten in die Alpen nie leisten können und so würde ich meinen Altersgenossen dort Lichtjahre hinterherhinken. Ich malte mir bereits aus, wie ich mich am ersten schneereichen Wochenende am Babyhang bis auf die Knochen blamierte, während die anderen die schwarzen Pisten hinunterbretterten.
Aber meine Eltern waren begeistert von der Vorstellung, inmitten der Rockies zu malen, und ich brachte es nicht übers Herz, ihnen ihr großes Abenteuer zu vermiesen. Ich tat so, als hätte ich überhaupt kein Problem damit, dass ich die Oberstufe in Richmond, auf die alle meine Freunde gingen, verpasste und mich stattdessen an der Wrickenridge High einschrieb. Seit meiner Adoption vor sechs Jahren hatte ich mir einen Platz in der Gemeinde im Südwesten Londons erkämpft; ich hatte Todesangst und Sprachlosigkeit besiegt, hatte meine Schüchternheit überwunden und mir einen Freundeskreis aufgebaut, in dem ich mich gemocht fühlte. Ich hatte die befremdlichen Seiten meiner Persönlichkeit tief in mir vergraben – beispielsweise diese Sache mit den Farben, von der ich geträumt hatte. Ich achtete nicht mehr auf die Aura der Leute, so wie ich es als Kind getan hatte, und ignorierte es, wenn ich es einmal nicht unter Kontrolle hatte. Ich hatte mich normal gemacht – na ja, soweit das möglich war. Jetzt wurde ich ins kalte Wasser geworfen. Ich hatte haufenweise amerikanische Highschool-Filme gesehen und war ziemlich verunsichert, was meine neue Schule anging. Bestimmt hatten gewöhnliche amerikanische Teenager doch auch ab und zu mal Pickel und trugen bescheuerte Klamotten, oder? Sollten sich die amerikanischen Filme bewahrheiten, würde ich niemals dort hinpassen.
»Okay.« Simon wischte mit den Händen über seine Oberschenkel, die in einer verblichenen Jeans steckten, eine Angewohnheit, aufgrund derer jedes Kleidungsstück, das er besaß, mit Ölfarbe beschmiert war. Sally sah dagegen ziemlich schick aus mit einer neuen Hose und einem Blazer, Klamotten, die sie sich extra für die Reise gekauft hatte. Ich lag mit meinem leicht verknautschten Levis-Look irgendwo in der Mitte zwischen den beiden. »Lasst uns mal reingehen. Mr Rodenheim sagte, drinnen waren schon die Handwerker zugange. Er hat versprochen, dass sie sich so bald wie möglich die Fassade vorknöpfen.«
Darum sah’s hier also aus wie auf einer Müllkippe.
Simon öffnete die Haustür. Sie quietschte, fiel aber nicht aus den Angeln, was ich als kleinen Triumph für uns verbuchte. Die Handwerker waren ganz offensichtlich eben erst gegangen – und hatten uns ihre Malerplanen und Leitern, Farbeimer und halb fertigen Wände als Begrüßungsdekoration dagelassen. Ich sah mir die Räume im ersten Stock an und entdeckte ein türkisfarben gestrichenes Zimmer mit einem Doppelbett und Ausblick auf die Berggipfel. Das musste unbedingt mir gehören. Vielleicht war’s hier doch nicht so übel.
Mit dem Fingernagel kratzte ich Farbreste von dem alten Spiegel über der Kommode. Das blasse, ernste Mädchen, das mir aus dem Spiegel entgegenblickte, tat dasselbe und starrte mich aus dunkelblauen Augen an. Sie sah in dem schummrigen Licht gespenstisch aus; das blonde Haar fiel ihr in ungebändigten Locken ums ovale Gesicht. Sie wirkte zerbrechlich. Einsam. Eine Gefangene im Raum hinter dem Spiegel; eine Alice, die es niemals wieder in die echte Welt zurückschaffen würde.
Ich erschauerte. Der Traum verfolgte mich noch immer, zog mich zurück in die Vergangenheit. Ich musste dringend aufhören damit. Alle – Lehrer, Freunde – hatten mir gesagt, dass ich dazu neigte, in melancholische Tagträumereien abzudriften. Aber sie verstanden nicht, dass ich mich, wie soll ich sagen, dem Leben irgendwie nicht gewachsen fühlte. Ich war mir selbst ein Rätsel – ein Bündel von bruchstückhaften Erinnerungen und unerforschten dunklen Abgründen. In meinem Kopf verbargen sich jede Menge Geheimnisse, aber die Karte, die mich zu ihnen führen konnte, war mir abhandengekommen.
Ich nahm meine Hände vom kalten Spiegelglas, drehte mich um und ging die Treppe nach unten. Meine Eltern standen in der Küche, eng aneinandergeschmiegt wie immer. Sie führten die Art von Beziehung, die so innig war, dass ich mich oft fragte, wie sie darin noch Platz für mich gefunden hatten.
Sally umschlang Simons Taille und legte ihren Kopf an seine Schulter. »Nicht übel. Erinnerst du dich noch an unsere erste Bude am Earls Court, Liebling?«
»Ja. Die Wände waren grau und alles rappelte, sobald die U-Bahn unter dem Haus entlangfuhr.« Er küsste ihr Haar. »Das hier ist ein Palast.«
Sally streckte die Hand nach mir aus, um mich in diesen Augenblick mit einzubeziehen. Ich hatte mich in den letzten paar Jahren darauf getrimmt, ihren liebevollen Gesten nicht zu misstrauen, und so nahm ich ihre Hand. Sally drückte leicht meine Knöchel und erkannte damit stillschweigend an, wie viel Überwindung es mich kostete, nicht vor ihnen zurückzuscheuen. »Ich bin so aufgeregt. Das ist fast so gut wie Heiligabend.«
Sie hatte schon immer eine Schwäche für Bescherungen gehabt.
Ich lächelte. »Darauf wäre ich echt nie gekommen.«
»Jemand zu Hause?« Es klopfte kurz an die Verandatür und schon kam eine ältere Dame hereinmarschiert. Sie hatte schwarzes, mit Weiß durchwirktes Haar, dunkle Haut und an ihren Ohrläppchen baumelten riesengroße dreieckige Ohrringe, die fast bis zum Kragen ihrer mit goldenem Stoff gefütterten Jacke hinunterreichten. Schwer beladen mit einer Auflaufform, warf sie mit einem gekonnten Fußtritt die Tür hinter sich zu.
...