Sternhell | Faschistische Ideologie | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 136 Seiten

Sternhell Faschistische Ideologie

Eine Einführung
Überarbeitete Neuausgabe 2019
ISBN: 978-3-95732-417-7
Verlag: Verbrecher Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Einführung

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ISBN: 978-3-95732-417-7
Verlag: Verbrecher Verlag
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'Es gibt in unserem politischen Vokabular nur wenige Begriffe, die sich einer solch umfassenden Beliebtheit wie das Wort Faschismus erfreuen, ebenso aber gibt es nicht viele Konzepte im politischen Vokabular der Gegenwart, die gleichzeitig derart verschwommen und unpräzise umrissen sind.' Mit diesem Satz leitete der bedeutende israelische Historiker Zeev Sternhell 1976 seinen Aufsatz 'Faschistische Ideologie' ein. Dieser Satz gilt bis heute - insbesondere für Deutschland. Daher nimmt Sternhell in dieser Einführung (die nun in überarbeiteter Neuausgabe vorliegt) eine genaue Bestimmung des Begriffes Faschismus aus seiner historischen und ideologischen Entwicklung heraus vor.

Zeev Sternhell ist emeritierter Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem und lebt in Tel Aviv. Er veröffentlichte unter anderem: 'Maurice Barrès et le nationalisme français' (1972) 'Ni droite, ni gauche. L´idéologie fasciste en France' (1983), 'Naissance de l'idéologie fasciste' (1989, deutsch: 'Die Entstehung der faschistischen Ideologie', Hamburg 1999)
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Die intellektuelle Krise der Jahre nach 1890


Im Februar 1936 veröffentlichte die französische Zeitschrift Combat, die mit den Faschisten sympathisierte, einen Artikel mit dem Titel »Faschismus 1913«11 von Pierre Andreu, einem der treuesten Schüler von Georges Sorel, in dem dieser auf die seltsame Vereinigung von Syndikalisten und Nationalisten hinwies, die unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg im Umkreis des Autors der »Reflèctions sur la violence« und den mit der Action Française verbundenen nationalistischen Kreisen stattfand. Ungefähr zur selben Zeit kam eine ähnliche Bemerkung von Pierre Drieu La Rochelle, der wenige Monate später – zusammen mit Bertrand de Jouvenel, einem jungen Wirtschaftswissenschaftler aus der Linken – zu einem der führenden Intellektuellen der PPF, der größten der französischen faschistischen Parteien, werden sollte. Er beobachtete, dass »wir beim Rückblick auf diese Periode sehen können, wie um 1913 sich bestimmte Elemente der faschistischen Atmosphäre in Frankreich bereits vereinigt hatten, bevor sie dies in anderen Ländern getan hatten. Da waren junge Männer aus allen Gesellschaftsklassen, die, angefeuert durch Liebe zu Heldentum und Gewalt, davon träumten, das zu bekämpfen, was sie die zwei Seiten des gleichen Übels nannten – Kapitalismus und parlamentarischen Sozialismus –, wobei sie sich von jedem heraussuchten, was ihnen als gut erschien. Die Vermählung zwischen Nationalismus und Sozialismus stand bereits auf der Tagesordnung.«12

Diesseselbe Formel war bereits 1925 von Georges Valois benutzt worden, dem Begründer der ersten faschistischen Bewegung außerhalb Italiens, Le Faisceau, um die Idee zu definieren, in der die Substanz des Phänomens enthalten war: »Nationalismus + Sozialismus = Faschismus«.13 Ungefähr zehn Jahre später griff dies Sir Oswald Mosley seinerseits auf: »Wenn du unser Land liebst, dann bist du national, und wenn du unser Volk liebst, dann bist du Sozialist.«14 Es handelte sich um eine kraftvoll klare und einfache Idee, die eine immense Anziehungskraft besaß; und als der ehemalige Arbeitsminister die British Union of Fascists gründete, wurde sie bereits von allen europäischen faschistischen Bewegungen geteilt.

Der Schock des Krieges und seine unmittelbaren Folgen beschleunigten zweifellos die Geburt des Faschismus als politische Bewegung, aber seine ideologischen Wurzeln reichen in Wirklichkeit bis in die Jahre zwischen 1880 und 1890 zurück, als sich eine Allianz zwischen Theorien herausbildete, die von den unterschiedlichen Spielarten des Sozialismus – entweder nicht-marxistisch, anti-marxistisch oder tatsächlich post-marxistisch – und dem Nationalismus abgeleitet wurden. Dies waren die Inkubationsjahre des Faschismus, was durch Valois oder Drieu ebenso bestätigt wird wie durch Gentile oder Mussolini. Somit waren am Vorabend des Ersten Weltkrieges die Grundzüge der faschistischen Ideologie bereits definiert. Das Wort existierte zwar noch nicht, aber das Phänomen, das es schließlich bezeichnen sollte; es fehlte nur noch eine günstige Kombination von Umständen, damit dieses sich zu einer politischen Kraft entwickeln konnte. Faschistische Ideologie wird deshalb als das unmittelbare Produkt einer Krise betrachtet, die Demokratie, Liberalismus und bürgerliche Gesellschaft in all ihren Grundwerten ereilt hatte. Dieser Bruch war so heftig, dass er die Dimension einer Krise der Zivilisation selbst annahm.

Faschismus war weder eine Widerspiegelung des Marxismus, noch entstand er einfach als Reaktion auf den organisierten Marxismus. Er hatte den gleichen Grad an Autonomie wie der Marxismus, insofern beide Produkte der bürgerlichen Gesellschaft waren und auf diese reagierten. In ihrer Gegnerschaft boten sie jeweils eine radikale Alternative. Für beide trifft zu, dass sie ein neues Modell der Zivilisation entwickelten. Das Heranwachsen des Faschismus kann also nicht verstanden oder umfassend erklärt werden, wenn er nicht in dem intellektuellen, moralischen und kulturellen Kontext betrachtet wird, der in Europa am Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschte.

Die Veränderungen in jener Zeit, die innerhalb einer Generation stattfanden, waren so grundlegend, dass man ohne Übertreibung von der Herausbildung einer intellektuellen Revolution sprechen kann,15 die durch ihre Themen und ihren Stil den Weg für die Massenpolitik unseres eigenen Jahrhunderts bereitete. Denn die breite intellektuelle Bewegung der Jahre nach 1890 war vor allem eine Bewegung der Revolte, der Revolte gegen die Welt des Rationalismus und des Denkens in den Kategorien von Ursache und Wirkung, der Revolte gegen Materialismus und Positivismus, gegen die Mittelmäßigkeit der bürgerlichen Gesellschaft und gegen die Verwirrungen der liberalen Demokratie. Für den Geist des befand sich die Zivilisation in der Krise, und wenn eine Lösung möglich sein sollte, dann müsste es eine totale sein.

Die Generation von 1890 – zu der unter anderem d’Annunzio und Corradini in Italien, Barrès, Drumont und Sorel in Frankreich, Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck in Deutschland gehörten – nahm als Ausgangspunkt nicht das Individuum, das als solches für sich keinerlei Bedeutung hatte, sondern das soziale und politische Kollektiv, das darüber hinaus nicht einfach als die zahlenmäßige Summe der Individuen unter der Ägide des Kollektivs gedacht werden durfte. Die »neuen« Intellektuellen wetterten deshalb heftig gegen den rationalistischen Individualismus der liberalen Gesellschaft und gegen die Auflösung der sozialen Bindungen in der bürgerlichen Gesellschaft. Mit zuweilen identischen Begriffen beklagten sie die Mittelmäßigkeit und den Materialismus der modernen Gesellschaft, ihre Instabilität und ihre Korruption. Sie kritisierten das Großstadtleben, das durch Routine geprägt war und keinen Raum für Heroismus ließ. Und anstatt an den Verstand der Individuen zu appellieren, betonten sie die Vorzüge des Instinkts, mitunter sogar die der Animalität. Dies ist der geistige Boden, in dem Giovanni Gentile die Wurzeln des Faschismus ausmacht, den er als »Revolte gegen den Positivismus«16 und gegen die Lebensweise der Industriegesellschaft definiert. Diese Revolte brach zu einer Zeit aus, in der die intellektuelle Atmosphäre durch Darwins Biologie und Wagners Ästhetik, Gobineaus Rassismus und Le Bons Psychologie wie auch durch die düsteren Prophezeiungen Nietzsches und Dostojewkijs und später die Philosophie von Bergson geprägt war.

Natürlich dürfen weder Bergsons noch Nietzsches Philosophie mit jener Praxis vermengt werden, die sie durch die »furchtbaren Vereinfacher« oder andere Vertreter nach sich zog. Ebenso können wir nicht Darwin für den Sozialdarwinismus verantwortlich machen, der durch die nachfolgende Generation ausgearbeitet wurde. Doch obwohl Philosophen und Wissenschaftler nicht für den Gebrauch ihrer Lehren verantwortlich gemacht werden können, weder für die Art, in der sie interpretiert werden, noch für die Bedeutung, die in ihre Überlegungen hineingelesen wird, waren es doch ihre Lehren, die ein neues intellektuelles Klima schufen, nachdem sie in die Hände tausendfach geringerer Intellektueller kamen, die häufig nur über spärliche Fähigkeiten zu sorgfältigem philosophischen Denken verfügten. In der Folge des fürchterlichen Schocks durch den Krieg, die sowjetische Revolution und die Wirtschaftskrise ermöglichte dieses intellektuelle Klima es, dem Faschismus zu keimen und zu einer mächtigen Massenbewegung heranzuwachsen. Denn die Massen waren zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgreich dazu konditioniert worden, eine neue Sicht auf die Welt, die menschlichen Realitäten zu akzeptieren, ja sogar eine neue Moral als Basis einer neuen Ordnung.

Die Beiträge von Wissenschaftlern und Pseudowissenschaftlern zu dieser neuen Weltanschauung waren tatsächlich verheerend. Der verbreitete Sozialdarwinismus entkleidete die menschliche Persönlichkeit ihrer heiligen Würde. Das darauf beruhende Denken machte keinen Unterschied zwischen dem physischen und dem sozialen Leben und begriff das Menschsein als einen unaufhörlichen Kampf, dessen natürliches Ergebnis das Überleben des Stärkeren sei. Der Positivismus erlag ebenfalls dem Angriff des Sozialdarwinismus und wurde einer grundlegenden Änderung unterzogen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wich die Betonung der freien und rationalen Wahl als bestimmender Faktor des menschlichen Verhaltens neuen Begriffen von Erbe, Rasse und Umwelt.17 Auf diese Weise spielte der Sozialdarwinismus eine große Rolle bei der Entwicklung des Nationalismus und der Verbreitung des modernen Rassismus. Sein Einfluss ist auch deutlich an dem Interesse zu erkennen, das die Generation von 1890 für das Studium der Psychologie und die Entdeckung des Unbewussten zeigte. Denn die neuen Theorien der politischen Psychologie und der Sozialpsychologie verwarfen von Anfang an die traditionellen mechanistischen Vorstellungen vom Menschen, die behaupteten, menschliches Verhalten werde durch rationale Entscheidung bestimmt. Die vorherrschende...



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